Hintergrund
Tell geht in die Luft – Raumfahrtnation Schweiz, Episode 1
von Martin Jud
Nach der Bruchlandung von TELL krempeln die Studenten ihre Ärmel hoch und bauen eine zweite Rakete. HEIDI ist geboren und beinahe jedes Teil an ihr ist Eigenentwicklung.
Auf TELL folgt HEIDI. Die zweite Rakete von Team ARIS soll es richten und beim weltweit grössten Ingenieurwettbewerb für Raketenbau, dem Spaceport America Cup, alles besser machen.
Falls du die explodierte Rakete TELL verpasst hast und gerne erfahren möchtest, was die Ziele der Akademischen Raumfahrt Initiative Schweiz (ARIS) sind, findest du Episode 1 hier:
Paul Prantl gehört mit 1993er-Jahrgang bereits zu den älteren Hasen im Team. Er ist Masterstudent für Maschineningenieurwissenschaften und drei Monate vor dem Start von TELL zum Raketenprojekt gestossen. Anfangs kümmerte sich Paul um die Struktur und den Leichtbau der Rakete. Heute arbeitet er als System Engineer und ist dafür zuständig, dass sämtliche Schnittstellen sowie Teilprojekte miteinander harmonieren. Er hat sich dazu bereit erklärt, mir aus persönlicher Sicht vom HEIDI-Projekt zu erzählen.
Von der gescheiterten TELL-Rakete bekommt er im Juni 2018 erstmal nichts mit. Er schwingt derweil am Southside Festival in Deutschland sein Tanzbein. Blöderweise bricht während dem Festival das Handynetz zusammen, weshalb er erst zwei Tage später vom Misserfolg erfährt:
«Erst fühlte ich nur Mitleid mit dem Team. Dann fragte ich mich, was wohl falsch gelaufen ist. Erst danach trauerte ich auch um die schöne Rakete.»
Doch lange traurig sein müssen die Studenten nicht, denn dank TELL haben sie eine gute Basis für ein zweites Projekt. Ich will von Paul wissen, wie die Studenten ein neues Raketenprojekt angehen:
«Im September 2018 traf sich das ARIS-Team – bestehend aus Studenten der ETH, HSLU und ZHAW – erstmalig für Projekt HEIDI. Wir arbeiteten ein erstes Konzept aus und gaben uns bis Ende Oktober Zeit, um dieses zu verfeinern und alternative Entwürfe zu entwickeln. Dann folgte ein erstes Concept Review; wir stellten unsere Ideen den Professoren und Sponsoren – all unseren Partnern – vor. Dabei waren unter anderem Vertreter von Ruag Space, Sauber Aerodynamik und Maxon Motor.»
«Dank positivem Feedback aus dem Concept Review machten wir uns im November an ein detailliertes Design für jedes Subsystem. Anfang Dezember folgte dann der Critical Design Review, bei welchem bereits auch CAD-Zeichnungen der Rakete gezeigt und besprochen wurden. Danach konnten wir aufgrund der Rückmeldungen Zeichnungen zu Technik und Design fertigstellen. Das musste noch vor Weihnachten geschehen, damit unsere potenziellen Sponsoren im Januar damit angeschrieben und informiert werden konnten.»
Übrigens baut das Team die Rakete immer in doppelter Ausführung, um im Worst Case auf Ersatz zurückgreifen zu können. Zum Gesamtprojekt gehört ausserdem auch die Entwicklung eines eigenen Triebwerkes, das 2021 erstmals zum Einsatz kommen soll. Die Gesamtkosten von ARIS belaufen sich jährlich auf schätzungsweise 300 000 Franken. In diesem Betrag sind auch gefertigte Teile und Dienstleistungen enthalten, welche gesponsert werden. Beispielsweise unterstützt Sauber Aerodynamik das Projekt, indem sie den Formel-1-Windkanal zur Verfügung stellen.
Parallel zu den Sponsoringanfragen beginnt auch die Umsetzung der Pläne zur fertigen Rakete im Januar 2019. Das Projekt ist dabei auf spezialisierte Kleingruppen aufgesplittet. Jeder weiss genau, was er zu tun hat. Dennoch und auch trotz riesen Spass am Job, sind der Bau und die Programmierung alles andere als ein Zuckerschlecken. Nicht selten kommt es vor, dass die Studierenden auf freiwilliger Basis bis tief in die Nacht tüfteln. Das passiere, wenn sich die Arbeit einerseits so gut anfühle wie ein Hobby und andererseits, da die Atmosphäre im Team sehr familiär ist.
Der HEIDI-Bau läuft gut – auch dank Erfahrungen aus dem TELL-Projekt. Fertiggestellt wird die zweite ARIS-Rakete Mitte März 2019.
HEIDI ist 278 Zentimeter lang und hat einen Durchmesser von 15 Zentimeter. Für die aus drei Experimenten bestehende Nutzlast sind vier Kilogramm vorgesehen, die Rakete bringt ein Abfluggewicht von 24 Kilogramm auf die Waage. Von der Struktur über die Finnen bis hin zu Luftbremse, Controller und Recovery System mit zwei Fallschirmen – alles, bis auf den Motor der Rakete, ist Eigenentwicklung.
Die drei Finnen ganz am Ende der Rakete nutzen den auftretenden Luftstrom während des Fluges. Sie sind ein wichtiges Steuerelement, das die Rakete auf Kurs bringt, hält und den Flug stabilisiert. Solange sich die Rakete innerhalb der Erdatmosphäre aufhält, verhindern die Finnen ein Abdriften vom Zielkurs. Im Weltraum benötigen Raketen zum Steuern aufgrund der fehlenden Atmosphäre zusätzlich Steuerdüsen.
Die einzige Fremdentwicklung der Rakete ist das Triebwerk, bei welchem es sich um ein Aerotech M2400 mit Festtreibstoff handelt. Dieses soll HEIDI im Zusammenspiel mit den Luftbremsen auf exakt 10 000 Fuss (3048 Meter) bringen. Dabei beträgt die Brennzeit des Motors nur 3,3 Sekunden. Die maximal zu erwartende Geschwindigkeit beträgt 1000 km/h. Zum Vergleich: Ein Lotus Exige Cup 430 schafft es in 3,3 Sekunden auf 100 km/h.
Die Rakete wird also mit zehnfacher Sportwagen-Beschleunigung knapp unterhalb der Schallmauer (1062 km/h) fliegen. Die maximal zu erwartende Kraft des Motors beträgt 3400 Newton. Das ist ungefähr gleich viel Kraft, die du aufwenden müsstest, um eine 340 Kilogramm schwere Luftseilbahn-8er-Gondel in der Luft zu halten. Was die Beschleunigung betrifft, werden bis zu 11 g erwartet. Wenn du bedenkst, dass ein nicht speziell trainierter Mensch bereits ab 5 bis 6 g bewusstlos wird, sind 11 g eine enorme Belastung. Ein Kampfpilot muss übrigens kurzzeitig bis 9 g aushalten.
Damit die Rakete die vordefinierte Zielhöhe möglichst exakt erreichen kann, benötigt sie Luftbremsen. Die Luftbremsen der Rakete sind mit den Landeklappen eines Flugzeugs vergleichbar. Wenn sie ausfahren, erhöhen sie den Strömungswiderstand des Flugobjekts, was zur Verringerung der Geschwindigkeit führt.
Die Avionik beinhaltet – abgesehen vom Recovery System – sämtliche Elektronik, die zur Steuerung der Rakete benötigt wird. Zur Avionik gehören Flugkontrollsysteme inklusive Autopilot, Kommunikationssysteme, Navigationsgeräte, Sensoren und weitere Missionssysteme.
Da die Rakete wiederverwendbar sein soll, benötigt sie ein Recovery System. Dieses besteht aus elektronischen und physikalischen Komponenten, die zu vordefinierten Zeitpunkten zwei Fallschirme öffnen.
Erst öffnet sich beim Gipfelpunkt zur Stabilisierung der Bremsfallschirm. Dann öffnet auf 400 Metern der Hauptfallschirm und bringt die Rakete sanft zu Boden. Dabei ist die Schockkraft der Fallschirme nicht zu unterschätzen. Die Konstruktion muss beim Bremsfallschirm 1,2 Kilonewton und beim Hauptfallschirm 5,6 Kilonewton aushalten.
Hat die Rakete die Zielhöhe erreicht, wird sie an der Trennstelle in zwei Teile gesplittet, um die Fallschirme freigeben zu können.
Cubesat ist ein weltweit eingesetzter Standard für kostengünstige Kleinsatelliten. HEIDI hat Platz für drei solcher Cubesats. Für den Spaceport America Cup werden die drei Plätze mit drei Experimenten mit hohem wissenschaftlichem Wert befüllt.
Folgende Experimente sind am Start:
Dass im Inneren von HEIDI auch Rinderknorpelzellen bei rund 11 g untersucht werden, finde ich toll. Gerne würde ich mehr dazu und zu den weiteren Experimenten erfahren, doch das muss ich verschieben. Denn der Fokus dieser Geschichte liegt auf dem Alpöhi HEIDI. Und deren Geschichte geht verdammt genial aus.
Glücklicherweise haben die Studenten und Paul viel Ausdauer, um mir alles im Detail zu erzählen. Nichtsahnend, dass ich bald wegen des Videos zum finalen HEIDI-Flug mit den Tränen kämpfen werde, lehne ich mich zurück, schmeiss mir ein aus Rinder-Gelatine hergestelltes Gummibärchen ein, drücke beim Audio Recorder auf Start und lausche Pauls Erzählungen zum dritten Akt.
Erfahre in der dritten Episode, wie sich die Rakete im Formel-1-Windkanal und beim Testflug macht. Und wie HEIDI in der Schweiz für rote Köpfe und in der Wüste von New Mexiko für strahlende Gesichter sorgt.
Der tägliche Kuss der Muse lässt meine Kreativität spriessen. Werde ich mal nicht geküsst, so versuche ich mich mittels Träumen neu zu inspirieren. Denn wer träumt, verschläft nie sein Leben.