Der Selbstversorger, der sich selbst vergass
Joscha Boner war drei Jahre lang Selbstversorger. Das endete in der kompletten Erschöpfung. Der 30-Jährige erklärt, weshalb es in der Schweiz kaum machbar ist, wie ein Leben im Einklang mit der Natur aber auch anders gelingen kann.
Die Vorstellung ist paradiesisch. Ein Garten voller Pflanzen, die alles bieten, was es zum Leben braucht: Essen, Medizin, Pflegeprodukte. Ein Leben im Einklang mit der Natur. Davon träumen viele. Der Trend zum Anbauen von Pflanzen, Gemüse und Obst nimmt in Europa stetig zu. Mittlerweile gärtnern drei von vier Menschen, wie eine von Galaxus beauftragte Studie zeigt:
Joscha Boner ging noch einen Schritt weiter ins Grün. 2020 entschied sich der Bündner Umweltingenieur, aus seinem stressigen Alltag auszusteigen. Der damals 26-Jährige pachtete mit seiner Partnerin Désirée Kuhn im Aargau einen Hof. Drei Jahre lebte das Paar als Selbstversorger. Doch das schlug fehl. Statt in der Erfüllung endete Joschas Traum in einem Burnout. Heute weiss er, warum. Und wie es anders geht.
Zu schnelles Wachstum auf zu dünnem Boden
Ein Wohnquartier im solothurnischen Niedergösgen. Hier leben Joscha und Désirée heute – in einer Wohnung ohne Garten. Ein Waldstück und eine Wiese liegen ganz in der Nähe. Dorthin sind Joscha und ich unterwegs. Laub raschelt unter unseren Füssen, als wir uns dem Waldrand nähern. Hier sammelt Joscha täglich, was die Natur im «Angebot» hat.
Mit der Hand fährt er über Blätter einer Brennessel – von unten nach oben, damit es nicht brennt. Als er sie verreibt, rieseln Samen in seine Hände. «Die haben viele Antioxidantien», sagt er. «Sie bekämpfen Krankheitserreger und bringen dich wieder in Schwung.» «Super, das kann ich brauchen», meine ich verschnupft und beisse auf die würzigen Samen.
Um Joschas eigene Gesundheit stand es vor einem Jahr schlecht. Drei Jahre Selbstversorgung trieben ihn in die komplette Erschöpfung. «Wir wollten zu viel und sind zu schnell von 0 auf 100 gestartet», sagt Joscha und blickt nachdenklich zu einer imposanten Eiche hoch.
Das gepachtete Land lag an einem steilen Hang. Die insgesamt drei Hektar bewirtschaftete das Paar ganz allein. Anbausysteme, Verarbeitung der Pflanzen, alles brachten sie sich selbst bei. Einen Teil ihrer Ernte verkauften sie auch auf Märkten. Doch die Kosten, vor allem für die Pacht, waren ohne ihr vorheriges Einkommen als Angestellte nicht zu stemmen. Joscha sagt:
Das tat Joscha komplett. Von morgens bis abends schufteten Désirée und er, bildeten sich nebenbei im Gartenbau weiter und schlugen sich mit Bauvorschriften herum. Und dann ging plötzlich nichts mehr. Der Tiefpunkt war erreicht. Über ein Jahr kämpfte sich der 30-Jährige aus dem Burnout. Er gibt zu, dass er erleichtert ist, nun eine Pause vom eigenen Garten zu haben. Dafür nutzt er umso mehr die Natur vor seiner Haustür.
Der Wald als neuer Garten
Joscha tritt einen Schritt in den Wald. An einem versteckten Baumstumpf hat er etwas entdeckt: Judasohren. Die braunen, etwas schleimigen Pilze wirken gerinnungshemmend, stärken das Immunsystem und helfen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Gleich daneben wächst ein Pflänzchen mit zarten Blättern: die silberblättrige Goldnessel. «Sie lindert Verdauungsbeschwerden. Du siehst, wir können die gesamte Hausapotheke füllen», sagt Joscha lachend.
Als Selbstversorger hat er über die Jahre viel Wissen gesammelt. Das gibt er mittlerweile an andere weiter. Unter dem Namen Erdwandler führt er Wildkräuter-, Permakultur- und weitere Naturkurse durch. Aber warum «Erdwandler»? Joscha erklärt:
Das probiert Joscha heute auch mit mir. Der 30-Jährige geht in die Hocke und zieht mit aller Kraft an einer buschigen Pflanze. Mit einem Ruck löst sie sich. Joscha hält mir lange, dünne Würzelchen entgegen. «Nelkenwurz. Daraus lässt sich eine Tinktur machen. Gegen Zahnschmerzen», sagt Joscha schnaufend.
«Ganz schön anstrengend, was?!», entgegne ich. Joscha nickt. Das sei etwas, was man gerne unterschätze. «Beim Sammeln kann man Glück haben und so viel finden, dass man nicht alles ernten kann. Oder aber man geht leer aus. Selbstversorgung aus dem Garten ist da berechenbarer, aber nicht weniger anstrengend», sagt er mit Blick auf seinen noch fast leeren Weidenkorb.
Es heisst also weitersammeln. Joscha bückt sich erneut ins Gras und reisst ein paar längliche Blätter ab. Die Pflanze habe ich schon oft am Wegrand gesehen. «Das ist Spitzwegerich. Wenn du die Blätter zerreibst und mit Speichel vermischst, hilft das gegen Insektenstiche», verrät Joscha und demonstriert es gleich selbst. Auch ich habe eine juckende Stelle am Unterarm. Als ich etwas Speichel darauf tupfe und den Spitzwegerich zerreibe, spüre ich, wie sich der Juckreiz in der kühlen Luft auflöst.
Auf den Spuren des Chicken of the Woods
Ein lautes Grummeln lässt mich zusammenzucken. Vor lauter Naturheilkunde hat mein Magen zu knurren begonnen. Joscha weiss, wo wir jetzt hinmüssen. Ich folge ihm tiefer in den Wald. Laub raschelt an unseren Füssen, um die gekrümmten Bäume über unseren Köpfen rankt Efeu. Daraus hat Joscha als Selbstversorger einst Waschmittel hergestellt.
Doch sein Blick ist auf etwas anderes gerichtet. Im Dickicht hat er etwas Oranges entdeckt. Seine braunen Augen beginnen zu funkeln. «Lust auf Waldhühnchen?», fragt er. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Moment, was für ein Hühnchen?
Genau gesagt gar keines. Sondern ein Pilz: Schwefelporling. Er wird auch Chicken of the Woods genannt. Der Grund: Der Pilz schmeckt gekocht wie Hühnchen. Joscha löst ein Stück davon und legt es in seinen Weidenkorb. Dieser sieht nun schon etwas voller aus, aber reicht das fürs Mittagessen? «Nein, mittlerweile lebe ich natürlich nicht mehr nur von dem, was ich sammle. Ich kaufe auch zusätzlich in Lebensmittelläden ein. Ich habe verstanden, dass ich auch im Einklang mit der Natur leben kann, ohne komplett abhängig davon zu sein», sagt Joscha.
Beim Gedanken an Lebensmittel knurrt mein Magen erneut. Ich muss mich noch etwas gedulden. Immerhin gibt es gleich Apéro. Auf dem Rückweg pflückt mir Joscha ein paar Kornelkirschen. Und dann treffen wir sogar auf Schwarznüsse. Versteckt zwischen heruntergefallenem Laub und Zweigen hat Joscha sie entdeckt.
Ich staune über seine Beobachtungsgabe, über sein Auge fürs Detail. Der 30-Jährige sagt, das sei etwas, was er seinem Autismus und ADHS zu verdanken habe. Wenn er in der Natur unterwegs sei, nehme er feinste Einzelheiten und Muster wahr. In seinem Job als Umweltingenieur war diese Sensibilität eine Belastung. Aber als Kursleiter ist es ein Segen.
Joscha hat seinen Platz gefunden. Seine Naturkurse sind beliebt und das Einkommen reicht endlich zum Leben. Er ist glücklich, nicht nur – wie einst als Selbstversorger – im Einklang mit der Natur, sondern auch im Einklang mit sich selbst zu leben. Mittlerweile hat er sogar wieder eine Wohnung mit einem kleinen Garten in Aussicht. Als er die Schwarznuss aufknackt, blickt ihm eine Herzform entgegen. Fast so, als wolle sie ihm etwas sagen.
Willst du wissen, wie du auf zukünftigen Spaziergängen in der Natur deine Hausapotheke füllen, Waschmittel herstellen und deine Speisen verfeinern kannst? Das erklären dir Joscha und ich bald in einer Serie. Folge mir also.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.