Kinder und Sport: «Für die körperliche und psychische Entwicklung ist Bewegung essenziell»
Wenn Kinder genug Bewegung haben, machen Eltern schon einiges richtig. Die Sportmedizinerin Dr. med. Friederike Wippermann über typische Beschwerden, einseitiges Training und den Grundsatz, dass jedes Kind Sport machen kann.
Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang. Bei manchen lässt er im Laufe der Zeit etwas nach, bei anderen führt er bis zu einer Karriere im Leistungssport. So selbstverständlich, wie der Nachwuchs sich austobt und auslebt, machen sich Eltern Gedanken darüber, wie sie ihre Kinder am besten begleiten und deren Energie in die richtigen Bahnen lenken können. Zumindest mir geht das so.
Was tut gut? Wann ist es zu viel des Guten? Wie vielseitig sollten die Kinder trainieren und welche Probleme können dabei auftreten? Dr. med. Friederike Wippermann nimmt sich Zeit für meine Fragen. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Sportmedizinerin und arbeitet als Oberärztin am Universitären Zentrum für Prävention und Sportmedizin der Universitätsklinik Balgrist. Im Dezember hat sie das 1. Zürcher Sportmedizin Symposium mit dem Thema «Kind und Sport» mit organisiert.
Ich würde gerne mit einer grossen gesellschaftlichen Frage anfangen: Es heisst gefühlt seit Jahrzehnten, dass Kinder tendenziell unsportlicher und übergewichtiger werden. Was ist da dran?
Dr. med. Friederike Wippermann: Das stimmt. Kinder und Jugendliche bewegen sich immer weniger. Diese Entwicklung zeigt sich seit einigen Jahren und der Trend hält an. Die Ursachen sind ganz unterschiedlich, sicher spielen Medien und eine geringere Alltagsaktivität eine Rolle. Nicht zuletzt hat sich auch die Covid-Pandemie negativ auf das Bewegungsverhalten der Kinder ausgewirkt.
Das ist ein Problem, denn Bewegungsmangel ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung von Übergewicht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat auf die Entwicklung reagiert und Bewegungsempfehlungen für unterschiedliche Altersgruppen formuliert. Grundsätzlich wird empfohlen, dass sich Kinder mindestens eine Stunde am Tag bewegen. Damit sind nicht Alltagsaktivitäten gemeint, sondern eine moderate bis intensive Belastung. Das bedeutet, dass die Kinder und Jugendlichen auch ins Schwitzen kommen sollten.
Und viele schwitzen zu wenig?
Am besten komme ich nochmal auf das Beispiel der Covid-Pandemie zurück: Während dieser Zeit haben sich grosse Veränderungen gezeigt. Kinder aller Altersgruppen haben sich weniger bewegt. In einigen Studien konnte gezeigt werden, dass die Jüngeren sich ganz gut erholt und zu ihrem Bewegungsverhalten von vorher zurückgefunden haben. Jugendliche bewegen sich nach wie vor weniger.
Sie haben schon angedeutet, dass sich Übergewicht und Bewegungsmangel gegenseitig begünstigen. Wann ist ein Kind zu schwer?
Bei Kindern wird «Übergewicht» nicht mit Absolutwerten definiert, sondern der BMI (Body-Mass-Index) anhand sogenannter Perzentilen beurteilt, wie auch Körpergrösse und -gewicht. Damit lässt sich die Entwicklung eines Kindes geschlechts- und altersspezifisch bewerten. Die Perzentilenkurven ermöglichen die Beurteilung des Wachstums während der Entwicklung (Geburt bis zum 18. Lebensjahr). Einen BMI zwischen der 90. und 97. Perzentile definiert man als Übergewicht, oberhalb der 97. Perzentile spricht man von Adipositas. Das bedeutet, dass nur drei Prozent aller Kinder im selben Alter einen höheren BMI haben.
Verschärft sich das Problem weiterhin?
Die erste grosse Zunahme an Übergewicht in der Gesellschaft hat man bei Erwachsenen wie bei Kindern in den 1990er-Jahren gesehen. Dort gab es einen ziemlichen Sprung. In den letzten Jahren waren die Zahlen in der Schweiz und Deutschland relativ stabil, auch wenn es Unterschiede in den Altersgruppen gibt.
Sehen Sie am Zentrum für Prävention und Sportmedizin nur die Sportlichsten der Sportlichen, also junge Kader-Athletinnen und -Athleten?
Nein, wir sehen die ganze Bandbreite. Natürlich viele sportliche Kinder und Jugendliche, weil wir auch aktiv in der Betreuung von heranwachsenden Leistungssportlern zum Beispiel in der Funktion als Verbandsärzte sind. Ich selbst bin Verbandsärztin des Zürcher Turnverbandes (ZTV) und der U17-Frauen-Nationalmannschaft im Fussball (SFV). Viele Sportler kommen zu jährlichen Check-ups zu uns. Das Spektrum beschränkt sich aber nicht nur auf Leistungssportlerinnen und Leistungssportler.
Wir sehen unseren medizinischen Versorgungsauftrag in allen gesundheitlichen Aspekten, die mit Bewegung zusammenhängen. So kommen auch viele Kinder und Jugendliche mit Verletzungen oder anderen belastungs-assoziierten Problemen zu uns. Manche haben zum Beispiel Luftnot während des Sports. Und es kommen auch solche mit chronischen Erkrankungen, die eine Beratung möchten, wie viel sie sich bewegen dürfen und was sie machen können. Auch stellt sich immer wieder die Frage, wie man Bewegung gezielt auch als Therapeutikum einsetzen kann, sozusagen «exercise is medicine».
Ich schaue aus der Eltern- und Trainerperspektive auf die Kinder, beobachte und begleite sie im Schul- und Vereinssport. Da reagiert man schon sensibel, sobald eines über Schmerzen klagt oder anderweitige Probleme hat. Was sind Anzeichen, die medizinisch abgeklärt werden müssen?
Das können ganz unterschiedliche Themen sein. So wird zum Beispiel eine Abklärung empfohlen, wenn Probleme am Bewegungsapparat auffallen oder Kinder immer wieder über Schmerzen klagen. Solche Beschwerden könnten auf eine Überlastungsreaktion hinweisen. Es kommen auch immer wieder Eltern zu uns, die sich Gedanken wegen des Wachstums ihres Kindes machen. Andere Gründe sind zum Beispiel Fehlstellungen der Füsse, wiederkehrende Rücken- oder Knieschmerzen im Wachstum oder – wie ich eben schon angedeutet habe – das Auftreten von Luftnot oder Kreislaufproblemen während des Sports. Manche Jugendliche bemerken einen Leistungsknick nach Infekten.
Noch mal zurück zu den Schmerzen. Was hat es mit Wachstumsschmerzen auf sich? Das ist ein Begriff, der immer mal wieder fällt. Ich habe Kinder erlebt, die diffuse Beschwerden hatten, die nicht wirklich schlimm sind, aber trotzdem einschränken.
Den Begriff «Wachstumsschmerzen» würde ich in Anführungszeichen setzen. Es ist eine Ausschlussdiagnose. Viele Kinder beschreiben während des Wachstums immer mal wieder diffuse Schmerzen. Häufig in den Beinen, häufig in Ruhe. Sie verschwinden häufig wieder, aber man sollte ausschliessen, dass ein ernsthaftes Problem dahintersteckt.
Wo treten Beschwerden bei Kindern typischerweise auf?
Häufig sehen wir bei Sportlerinnen und Sportlern im Wachstum, dass sie Probleme mit den Knien haben. Sie klagen über Schmerzen bei Belastung, oft im Bereich der Kniescheibe und der angrenzenden Sehne. Es betrifft häufig Kinder, die Sportarten ausüben, die viele Sprung- oder Start-Stopp-Elemente enthalten. Zum Beispiel Fussball, Basketball oder Turnen. Das sind dann nicht die klassischen Wachstumsschmerzen, sondern Reizungen von Weichteilstrukturen oder Knochen.
Das sind also schon sportartspezifische Probleme. Jüngere Kinder sollten ja möglichst vielfältige Bewegungserfahrungen machen. Wenn sie Talent zeigen, landen sie aber schnell in einer Sportart und werden entsprechend gefördert. Spezialisieren sie sich tendenziell zu früh?
Grundsätzlich ist die Empfehlung, dass sich gerade kleinere Kinder möglichst vielseitig bewegen und spielerisch belasten sollten. Stichwort: «polysportiv». Deshalb sind ja auch viele im Turnverein oder in der Leichtathletik. Es kommt ein bisschen auf die Sportart an. In Disziplinen wie Fussball oder Tennis kommt die Entwicklung hin zum Leistungssport etwas später. Im Turnen beginnt die Spezialisierung sehr früh. Die Trainingsintensitäten in diesen Sportarten sind hoch, da wird die Ausübung weiterer Sportarten schwierig. Man sollte also im Training einen guten Kompromiss finden und die Kinder gut begleiten, damit sie sich vielseitig bewegen.
Turnen ist aber auch eine perfekte Ganzkörperschulung. Bei Spielsportarten wie Tennis oder Fussball ist die dominante Körperseite stärker belastet. Ist das ein Risiko, wenn man früh viel trainiert?
Wenn man nur einseitig trainieren würde, wäre das ein Risiko für Überlastungsschäden. Zum Beispiel beim Tennis am Schlagarm und der zugehörigen Körperseite. Es ist wichtig, dass vielseitig und ausgewogen trainiert wird, um Dysbalancen zu vermeiden. Aber auch beim Turnen muss man aufpassen, dass es nicht zu einseitigen Belastungen kommt. Das sollte in der Trainingsplanung in allen Sportarten berücksichtigt werden.
Ich scheitere immer wieder daran, Kinder zu Dehn- und Beweglichkeitsübungen zu motivieren. Auch wenn ich es spielerisch versuche, klappt das nicht gut. Nach meiner Erfahrung wird das in vielen Sportarten mit Kindern kaum eingebaut. Ist das nicht eine verpasste Chance?
Man spricht von so etwas wie einem idealen Zeitfenster, in dem bestimmte Fähigkeiten besonders gut trainiert werden können. Bei der Beweglichkeit werden die Grundlagen zum Beispiel im Primarschulalter gelegt. Kinder können in ihrer Entwicklung gut unterstützt werden, wenn man diese Zeitfenster für unterschiedliche Fähigkeiten nutzt. Wenn sie älter werden, werden auch Ausdauer- und Krafttraining immer bedeutender.
Sie führen viele sportmedizinische Untersuchungen durch. Was passiert bei so einem Check-up und wie werden entsprechende Defizite erfasst?
Zunächst führen wir ein ausführliches Gespräch. In der sogenannten Anamnese werden Trainingsumfänge und -intensitäten, Vorerkrankungen, Erkrankungen in der Familie usw. erfragt. In der anschliessenden Untersuchung werden Körpergrösse und -gewicht bestimmt und die Vitaldaten erhoben, Puls und Blutdruck gemessen. In der ärztlichen Untersuchung wird ein Ganzkörpercheck des Bewegungsapparates, zum Beispiel auf Haltungsfehler, durchgeführt und nach Hinweisen auf eine Fussfehlstellung oder Skoliose gesucht. Herz und Lunge werden abgehorcht, einfach eine Untersuchung von Kopf bis Fuss. Ausserdem werden eine Blutentnahme und ein Ruhe-EKG durchgeführt.
Spielt das Thema Ernährung auch eine Rolle? Wer im Wachstum ist und viel Bewegung hat, sollte sicher noch mehr auf die Ernährung achten, als ohnehin gut wäre. Daran scheitern schon viele Erwachsene, für Kinder ist das wahrscheinlich nicht einfacher. Sind Mangelerscheinungen ein Thema?
Ja, das ist ein Thema. Mit ansteigendem Trainingspensum umso mehr. Eine ausgewogene Ernährung ist die wichtigste Grundlage. Bei der Blutuntersuchung bestimmen wir zum Beispiel auch den Eisen- und Vitamin D-Wert. Spurenelemente und Vitamine sind wichtig für die Kinder. Wenn wir in der Blutuntersuchung niedrige Werte feststellen, können wir handeln, bevor Mangelerscheinungen auftreten. Gerade im Wachstum sehen wir häufiger einen niedrigen Vitamin-D-Spiegel oder Eisenmangel. Das kann man gut behandeln.
Muss man in der Pubertät noch wachsamer sein?
Im Verlauf der Entwicklung machen alle Kinder einen sogenannten Wachstumsspurt durch. In dieser Zeit benötigen sie natürlich mehr Energie. Und wenn sie viel Sport treiben, muss man das berücksichtigen. Sie brauchen Vitamin D für die Knochenentwicklung. Sie benötigen Eisen, insbesondere Mädchen.
Sie haben ja nicht nur mit extrem sportlichen Kindern zu tun. Auf der anderen Seite gibt es Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten, Herzproblemen oder asthmatischen Beschwerden. Unter welchen Voraussetzungen können Kinder mit solchen Problemen Sport treiben?
Grundsätzlich kann jedes Kind Sport machen. Manchmal muss man ein paar Einschränkungen in Kauf nehmen. Aber für die körperliche und psychische Entwicklung ist Bewegung essenziell. Deshalb darf man sie gerade Kindern mit chronischen Erkrankungen nicht vorenthalten. Kinder, die zum Beispiel im Kleinkindalter häufig operiert wurden, haben oftmals motorische Defizite, weil sie viel in der Klinik waren. Sie werden häufig ein bisschen mehr behütet, sind vielleicht vom Schulsport befreit. Wir untersuchen diese Kinder im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit und mögliche Defizite, die man eventuell auch mit Physiotherapie behandeln kann.
Sie können genauso Sport machen, aber manchmal braucht es einen geschützten Rahmen. Wir sind gerade in der Planung für eine interdisziplinäre Sportgruppe für Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen. Dort können Betroffene mit Erkrankungen des Bewegungsapparates, Herzerkrankungen oder Übergewicht in geschütztem Rahmen Sport treiben. Das ist auch für die Eltern beruhigend.
Von den Einzelfällen zum Schluss wieder zurück zu den Sorgen der Gesellschaft als Ganzes: Wird genug getan, um den Kindern möglichst früh einen sportlichen Lebensstil nahezubringen? Das wäre doch die beste Prävention.
Es gibt Förderungsprogramme und tolle Angebote in den Schulen und Vereinen. Aber die Kinder bekommen zu Hause ein Stück weit vorgelebt, wie selbstverständlich Bewegung ist. Wenn die Eltern aktiv sind, nehmen sie die Kinder wahrscheinlich auch mit. Grundsätzlich sind viele Angebote da – und wir müssen die Kinder alle gemeinsam unterstützen, sie auch zu nutzen.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.