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MIL-STD-810: Etikettenschwindel mit Militärnorm?
![Martin Jud](/im/Files/3/9/8/9/8/5/2/7/joa.png?impolicy=avatar&resizeWidth=40)
Immer mehr Produkte sind mit der US-Militärnorm «MIL-STD-810» zertifiziert. Sie steht wie die IP-Zertifizierung für Notebooks, Smartphones und Wearables, die besonderen Umweltbelastungen standhalten. Doch stimmt das wirklich?
Die US-amerikanische technische Militärnorm MIL-STD-810 spezifiziert eigentlich Umwelt-Testbedingungen für militärische Ausrüstung. Ganz ähnlich der IP-Zertifizierung. Schon länger taucht die Militärnorm auch bei Elektronik-Produkten auf. Insbesondere bei Notebooks, Smartphones und Smartwatches. Doch im Gegensatz zur Ingress-Protection-Zertifizierung bietet ein Aufdruck der Militärnorm nur bedingten Mehrwert: Der Infogehalt ist ähnlich aussagekräftig wie der Aufdruck «wie von Hand gemacht» auf einer Chips-Verpackung.
Was soll die Militärnorm bringen?
Entsprechend den Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI gaben die USA im Jahr 2018 eine unglaubliche Summe von 649 Milliarden US-Dollar für Militär und Rüstung aus. Das sind mehr als 35 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben (1.8 Billionen US-Dollar). Das Spiel mit dem Krieg ist profitabel. Zumindest für gewisse Kreise, welche die richtigen Aktien respektive Obligationen besitzen. Doch ab und zu bringt die militärische Aufrüstung auch Verbesserungen fürs normale Volk – ganz abseits des Krieges.
Nebst einigen technischen Errungenschaften gehört auch die Militärnorm MIL-STD-810 dazu. Die erste Version der Norm entstand Anfang der 1960er-Jahre. Zwischenzeitlich wurde sie siebenmal überarbeitet. Aktuell genormte Produkte kommen mit der sechsten Revision «G» aus dem Jahr 2008 daher.
Seit dem 31. Januar 2019 gibt es die siebte Version. Das Dokument, das sämtliche Testmethoden und Bedingungen beschreibt, umfasst mit der Revision «H» 1089 Seiten und ist damit sehr ausführlich.
Folgende Tests gehören zur Militärnorm:
Test (Paragraph) | Bezeichnung | Deutsche Bezeichnung |
---|---|---|
500.6 | Low Pressure (Altitude) | Niedriger Luftdruck in grosser Höhe |
501.7 | High Temperature | Hochtemperatur |
502.7 | Low Temperature | Tieftemperatur |
503.7 | Temperature Shock | Temperaturschock |
504.3 | Contamination by Fluids | Kontaminierung durch Flüssigkeiten |
505.7 | Solar Radiation (Sunshine) | Solare Einstrahlung |
506.6 | Rain | Regen |
507.6 | Humidity | Luftfeuchtigkeit |
508.8 | Fungus | Pilzbefall |
509.7 | Salt Fog | Salznebel |
510.7 | Sand and Dust | Sand und Staub |
511.7 | Explosive Atmosphere | Explosive Atmosphäre |
512.6 | Immersion | Untertauchen |
513.8 | Acceleration | Beschleunigung |
514.8 | Vibration | Vibrationen |
515.8 | Acoustic Noise | Lärm |
516.8 | Shock | Mechanischer Schock |
517.3 | Pyroshock | Brandschock |
518.2 | Acidic Atmosphere | Ätzende Atmosphäre |
519.8 | Gunfire Shock | Schock durch Geschützfeuer |
520.5 | Combined Environments (temperature, altitude, humidity, input electrical power, vibration) | Kombinierte Umgebungsbedingungen (Temperatur, Höhe, Luftfeuchtigkeit, elektrische Energie, Vibration) |
521.4 | Icing / Freezing Rain | Gefrierender Regen |
522.2 | Ballistic Shock | Ballistischer Schock |
523.4 | Vibro-Acoustic / Temperature | Vibroakustik / Temperatur |
524.1 | Freeze / Thaw | Einfrieren / Auftauen |
525.2 | Time Waveform Replication | Praxisbezogene Vibrationstests |
526.2 | Rail Impact | Zugaufprall |
527.2 | Multi-Exciter Test | Struktur- und Funktionstest für Materialien in bestimmter Umgebung |
528.1 | Mechanical Vibrations of Shipboard Equipment (Type I - Environmental and Type II - Internally Excited) | Umwelteinflüsse und Vibration bei Schiffsaurüstung |
Was bringt die Militärnorm wirklich?
Wenn du nach dem Durchsehen der Tabelle denkst, dass dein Smartphone mit Militär-Zertifizierung gegen Temperaturschock oder Pilzbefall geschützt ist, hast du dich geschnitten. Und jetzt kommt's:
Damit ein Hersteller sein Produkt mit dem Aufdruck «MIL-STD-810» versehen darf, muss dieses Produkt nur einen der insgesamt 29 Tests bestehen.
Das wirft ein ganz neues Licht auf die Militärnorm. Für uns Kunden bedeutet dies, dass die Zertifizierung keine klare Information in sich birgt.
Beispiel gefällig? Liest du in unserem Shop beim Produkt LG V40 ThinQ die Spezifikationen, steht unter «Widerstandsfähigkeit» sowohl «IP68» als auch «MIL-STD-810». Bei IP68 ist klar definiert, dass das Produkt staubdicht und gegen dauerndes Untertauchen geschützt ist. Über die Militärnorm erfährst du nichts. Zumindest nicht, solange du dir nicht Zeit nimmst, auf der Herstellerseite nachzuforschen.
Auch in Marketingtexten finden sich im Web zig Stellen und Hinweise auf die Norm, die schlichtweg nichts aussagen. Ein Beispiel aus dem digitec-Shop wäre dieses Samsung-Smartphone: «Entworfen, um Sie überallhin zu begleiten. Mit IP68- und MIL-STD 810G*- ist das Galaxy XCover 4 so robust, dass es sich hervorragend für widrige Bedingungen eignet.»
Hier musst du nun beim Doppelsternchen auf der Website das Kleingedruckte lesen gehen, um Genaueres zu erfahren. Also falls es das Kleingedruckte überhaupt gibt.
Noch mehr Kundenverarsche?
Doch selbst wenn du Kleingedrucktes und Details zu den wirklich gemachten Tests findest, bleibt die Norm überaus fragwürdig. Denn da sind noch mehr Ungereimtheiten:
Im Vergleich zur IP-Zertifizierung hat die Militärnorm keinen bindenden Charakter. Will heissen, dass die auf 1089 Seiten beschriebenen Testmethoden beliebig auf das zu testende Gerät angepasst werden können. Ausserdem dürfen die Hersteller selbstständig testen.
Unabhängige Prüflabore sind also genauso wenig vorgeschrieben, wie die Einhaltung der beschriebenen Testabläufe. Auch gibt es keine zu erreichenden Mindestziele für die einzelnen Tests. Damit verliert die Norm viel an Glaubwürdigkeit. Klar wird es Hersteller geben, die die Tests gewissenhaft durchführen und deren Produkte somit gut vor manchen Umweltschäden geschützt sind. Doch wenn jeder tun darf, wie er gerade lustig ist, handelt es sich hierbei nicht mehr um eine Norm.
Für uns Kunden bedeutet dies, dass wir Versprechen wie «MIL-STD-810H zugelassen», «MIL-STD-810H zertifiziert», «nach MIL-STD-810H entworfen» oder «bestandener MIL-STD-810H-Test» keine Beachtung schenken sollten. Solange keine detaillierte Beschreibung der Tests seitens Hersteller vorliegt, sollten wir uns lieber an IP-Zertifizierungen orientieren.
Noch ein kleiner Aufreger zum Schluss: Gemäss Aussagen von verschiedensten Seiten und Foren soll es auch Hersteller geben, die überhaupt keine Tests machen, dennoch aber mit MIL-STD-810 werben. So steht selbst im englischen Wikipedia-Eintrag: «When queried many manufacturers admit no testing has actually been done and that the product is merely designed/engineered/built-to comply with the standard.»
Zu Deutsch:
Auf Nachfrage geben viele Hersteller zu, dass keine Tests durchgeführt wurden und dass das Produkt lediglich so konzipiert, entwickelt und gebaut wurde, dass es der Norm entspricht.
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Der tägliche Kuss der Muse lässt meine Kreativität spriessen. Werde ich mal nicht geküsst, so versuche ich mich mittels Träumen neu zu inspirieren. Denn wer träumt, verschläft nie sein Leben.