Oktoberfest? Ich betrink mich lieber alleine auf dem Sofa
Sie verbinden Geselligkeit mit Folklore: Oktoberfest-Zelte schiessen wie Pilze aus dem Boden. Ganze Firmen und Sportvereine schmeissen sich in bayerische Kluft, um hemmungslos und pseudo-anonym in der Menge zu saufen. Ich verzichte darauf und du solltest es auch.
Das Oktoberfest in München. Die Wiesn. Das wohl legendärste aller Volksfeste. In München ist es Tradition und in München soll es auch bleiben. Leider haben findige Event-Scharlatane um die Jahrtausendwende herum beschlossen, in jedem grösseren Kaff Festbänke in ein Zelt zu stellen, Bier in Literkrügen auszuschenken und dazu trockene Brezn und noch trockenere Poulets zu servieren.
Was die Organisatoren auf der Speisekarte an Vokalen sparen (Brez(e)n, Händ(e)l, Tür(e)l usw.), hauen sie bei den Preisen drauf. Da gibt es zum Beispiel bei der «Züri Wiesn» für läppische 900 Stutzrl ein Tischrl für zehn Personrl. Für 90 Franken pro Nase kriegt jeder ein Poulet, zwei Liter Bier und eine halbe Brezn. Auf der Bühne gibt es irgendeine Kapelle, die im Halbstundentakt mit dem Lied «Ein Prosit» zum kollektiven Humpenstämmen aufruft und den überrissenen Eintrittspreis legitimieren soll. Dass die Party dann in Fahrt kommt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche oder das Gekotze auf der Oktoberfest-Toilette.
Wenn Lorena vom Empfang mit Ivan aus dem Lager knutscht
Weil auch hartgesottene Oktoberfest-Fans nicht mehrmals 90 Franken abdrücken, um zwei Bier zu trinken, gehen die Organisatoren beim lokalen Klein- und Mittelgewerbe hausieren. Den KMU – dem «Fundament» der Schweizer Wirtschaft – lässt sich hervorragend vorgaukeln, dass ein Tisch am Oktoberfest der Teamanlass ist, auf den die geschätzte Belegschaft gewartet hat. Die KMU beissen freilich munter an und hauen die Kohle aus dem Teamevent-Budget auf den Biergarten-Tisch. Eine Mail mit folgendem Inhalt wird dieser Tage in der Firma verschickt:
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Nach dem grossen Erfolg der vergangenen Jahre haben wir auch in diesem Jahr wieder einen Tisch beim Oktoberfest reserviert. Wir bitten euch für dieses Highlight in stilechter, traditioneller Tracht zu kommen. Für die Madln sind Dirndl Pflicht, die Buam tragen Lederhosn. Wie jedes Jahr kann das Outfit gemietet werden (siehe separates Mail von Brigit).
In diesem Sinne:
O’zapft is
Die Firma zieht also geschlossen nach Feierabend ins Bierzelt. Spätestens nach der ersten Mass steht der Chef auf der Bank und gafft der Praktikantin in den Ausschnitt, sobald seine Frau draussen eine Zigarette pafft. Nach der zweiten hält er dann eine peinliche Ansprache, die keiner versteht, weil er sie in «Bayrisch» hält, was aber eher wie Russisch klingt. Danach kauft der Patron spendabel einen ganzen Korb mit kleinen Schnäpsen, was die Stimmung zum Kochen bringen soll. Schnell geöffnet, klemmen sich alle die Deckel des Schnäppschens auf die Nasenspitze, prosten sich zu und trinken das mit Industriealkohol und künstlichen Aromen angereicherte Zuckerwasser in einem Schluck weg.
Die Band stimmt zu immer grösseren Gassenhauern an, es schwirren Fliegen um Pferdehintern, es gibt Skandale im Sperrbezirk und Urs von der Buchhaltung hat schon das erste Mal neben den Tisch gekotzt. Er wird von der Security ohne grosse Gegenwehr aus dem Zelt geführt. Lorena vom Empfang und Ivan aus dem Lager haben das gar nicht mitbekommen, da sie eng umschlungen am Ende des Tisches sitzen und sich gegenseitig die Zunge in den Hals stecken. Ivans Verlobte wird davon nichts erfahren, weil die Devise «was beim Oktoberfest geschieht, bleibt beim Oktoberfest» in der Firma hoch gehalten wird.
Am nächsten Tag schweigen sich beim Wasserspender dann alle etwas betreten an, weil niemand mehr so genau weiss, was der oder die andere von gestern noch weiss, nicht weiss oder nicht wissen sollte. Urs hat die Rechnung für die Reinigung der verkotzten Lederhose schon auf dem Tisch und bezahlt sie auch gleich, Ivan reagiert nicht mal als Lorena ihn mit einem kurzen «Morgen» begrüsst und der Chef löscht die erste Zeile seiner Dankesmail schon zum vierten Mal (letzte Version: «Obacht Madln und Burschen»), weil er es sie für zu wenig kreativ hält.
Saufen im Kostüm
Dir bleibt nach dem Besuch eines Oktoberfests der Kater und der Filmriss. Den Organisatoren bleibt ein prall gefülltes Bankkonto. Sie reiben sich die Hände, weil es jetzt erst richtig los geht. Die Oktoberfeste sind Auftakt zur Eventsaison: Oktoberfest, Halloween und Weihnachtsmarkt, das ist die heilige Dreifaltigkeit der Eventisierung. Krönender Abschluss bildet dann in gewissen Regionen die Fasnacht.
Es ist wenig überraschend, dass bei drei dieser vier Events Verkleidung Pflicht ist. Ob in Lederhosen, als Skelett oder im Guggenmusik-Kostüm, verkleidet trinkt es sich besser, könnte man meinen. Mal so richtig aus dir rauskommen, den Alltag hinter dir lassen und eine andere Persönlichkeit annehmen. Während in der Arbeitswelt das Credo «sei du selbst» gilt, musst du beim Saufen offenbar unbedingt zum Freizeit-Johnny-Depp oder zur Afterwork-Angelina-Jolie werden und in eine Rolle schlüpfen. Wir haben das Vertrauen in die Wirkung des Alkohols verloren. Bier und Schnaps reichen nicht mehr, Lederhosen und Perücken sind heute Pflicht. 3, 2, 1, lustig.
Mir ist da das ehrliche Feierabendbier mit den Kolleginnen und Kollegen viel lieber. Das ist weder an eine Jahreszeit, noch an irgendeinen heidnischen oder religiösen Brauch gebunden. Gehen alle in meiner Abteilung geschlossen ans Oktoberfest, dann sage ich gerne ab. Sorry, schon was vor. Ich geh ans traditionelle, finnische Oktoberfest «Kalsarikännit».
«Kalsarikännit» steht für «Ich betrinke mich alleine zu Hause in Unterhosen».
Wie stehst du zum organisierten Besäufnis in bayrischer Tracht? Ein Highlight deines Jahres oder absoluter Tiefpunkt im Herbst? Hinterlasse einen Kommentar und folge meinem Autorenprofil. Ich geb’ dir einen aus, solange es nicht beim Oktoberfest ist. Deal?
Als ich vor über 15 Jahren das Hotel Mama verlassen habe, musste ich plötzlich selber für mich kochen. Aus der Not wurde eine Tugend und seither kann ich nicht mehr leben, ohne den Kochlöffel zu schwingen. Ich bin ein regelrechter Food-Junkie, der von Junk-Food bis Sterneküche alles einsaugt. Wortwörtlich: Ich esse nämlich viel zu schnell.