Ich will mich trennen
Deutsch, Torsten Geiling, 2024
Die Weihnachtstage werden für viele Paare zum «emotionalen Endspiel». Das sagt Trennungsberater Torsten Geiling im Interview. Er warnt davor, die Erwartungen zum Fest der Liebe zu hoch zu hängen.
Er muss es wissen. Torsten Geiling ist vor vielen Jahren selbst durch eine Trennung gegangen – und hat aus den Erfahrungen von damals und mit vielen Weiterbildungen seinen neuen Beruf gemacht. Zusammen mit seiner neuen Partnerin arbeitet er als Systemischer Coach und unterstützt Menschen, die sich trennen wollen in individuellen Coachings. Auch ein Buch zum Thema hat der Kommunikationswissenschaftler und Journalist bereits verfasst.
Torsten, ist Weihnachten gut für Dein Geschäft?
Nach den Feiertagen verzeichnen wir tatsächlich regelmäßig einen deutlichen Anstieg bei den Beratungsanfragen. Das ist aber kein rein subjektiver Eindruck: Dass Urlaub ein Beziehungskiller ist, haben auch Soziologen von der University of Washington in einer Studie festgestellt. In den USA reichen Ehepaare ihre Scheidung auffällig oft nach den Ferienzeiten im Sommer und Winter ein.
Und bei uns?
In der Schweiz, Deutschland und Österreich dürften die Ergebnisse ähnlich liegen. Und wenn das Geschäft läuft, ist das natürlich schön, aber mich macht das nicht froh – im Gegenteil. Ich weiß, hinter jeder dieser Anfragen steckt ein Mensch in einer tiefen persönlichen Krise.
Warum droht nach Weihnachten das Beziehungs-Aus?
Die Feiertage haben eine besondere Dynamik. Sie legen oft schonungslos offen, was im Alltag noch überdeckt werden kann. Viele Paare, die sich auseinandergelebt haben, können sich zwischen Arbeit und Hobbys noch aus dem Weg gehen. An Weihnachten geht das nicht mehr. Dazu kommen die hohen Erwartungen an das «Fest der Liebe» – viele hoffen insgeheim, dass die gemeinsame Zeit ihre Beziehung wie durch ein Wunder rettet. Diese Erwartung wird meist bitter enttäuscht.
Ist auch der Besuch der Eltern oder Schwiegereltern ein Stressfaktor?
Absolut. Die Familiendynamik kann eine ohnehin angespannte Situation noch verschärfen. Man muss sich ja nur vorstellen: Auf engstem Raum treffen verschiedene Erwartungen, Traditionen und Bedürfnisse aufeinander. Das ist der perfekte Nährboden für Konflikte. Der renommierte Paartherapeut John Gottman hat in seiner Forschung gezeigt, dass etwa 69 Prozent aller Beziehungskonflikte auf grundlegenden Persönlichkeitsunterschieden basieren. Diese werden in der Intensität der Feiertage besonders deutlich. Aber: Die Feiertage sind nicht der Grund für die Schieflage einer Beziehung – die liegt vielfach Wochen, Monate oder sogar Jahre zurück. An Weihnachten findet dann quasi das emotionale Endspiel statt.
Wenn fast 70 Prozent aller Konflikte in Persönlichkeitsunterschieden verborgen liegen, dann sind wir ihnen doch hilflos ausgeliefert ...
Im Gegenteil, diese Erkenntnis kann sehr befreiend sein. Sie zeigt uns: Es ist normal und okay, dass wir unterschiedlich sind. Wir müssen nicht jeden Konflikt «lösen» oder einen Partner nach unserem Bild formen.
Sondern?
Entscheidend ist, wie wir mit diesen Unterschieden umgehen. Glückliche Paare haben nicht weniger Konflikte – sie haben gelernt, diese zu akzeptieren und sogar als Bereicherung zu sehen. Wenn der eine Partner sehr strukturiert ist und der andere spontan, kann das eine Beziehung belasten oder bereichern. Vielleicht sorgt der Strukturierte für Stabilität, während die Spontane mehr Lebendigkeit einbringt.
Also Unterschiede als Chance, richtig?
Ja. In meiner Beratung erlebe ich oft, dass Unterschiede erst dann zum Problem werden, wenn Menschen aufhören, respektvoll über den Partner zu sprechen. Oder wenn sie versuchen, den anderen zu ändern, statt die Unterschiedlichkeit als Teil der Beziehung zu akzeptieren.
Was also können Paare tun, die sich zwar in der Krise befinden, aber noch keine Trennung wollen?
Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass Konflikte normal sind. Es geht nicht darum, eine perfekte Harmonie zu erreichen, sondern einen konstruktiven Umgang mit Unterschieden zu finden. Wenn Klientinnen und Klienten bei mir im Coaching sagen, aber wir streiten doch nie, dann werde ich hellhörig.
Warum?
Weil es in vielen Partnerschaften ein gravierendes Problem ist: Viele Menschen schieben längst überfällige Aussprachen über Jahre vor sich her. Würden wir viel eher sagen, was wir uns wünschen, was unsere Grenzen sind und wo unsere Schmerzpunkte liegen, dann würde es nicht so viele Trennungen geben. Also, lasst uns streiten!
Und wenn ein Partner doch die Trennung möchte ...?
Dann finde ich Ehrlichkeit den besten Weg – und besser früher als später, auch wenn der Zeitpunkt ungünstig erscheint. Eine Trennung ist fast nie eine spontane Entscheidung, sondern das Ergebnis eines längeren Prozesses. Je früher man offen damit umgeht, desto mehr Würde bewahrt man selbst und die Beziehung zum Partner.
Die Frage ist ja: Trennt man sich dann vor oder sogar an Weihnachten? Oder wartet man die Feiertage ab? Auch wenn man sich ja schon entschlossen hat.
Diese Frage höre ich oft in meiner Beratung, und ja, es fühlt sich unfair an. Aber zumeist steckt dahinter der verständliche Wunsch, niemandem – besonders nicht den Kindern – die Feiertage zu verderben. Das Problem ist: Diese Vermeidungsstrategie erhöht den emotionalen Druck auf alle Beteiligten. Wenn du bereits sicher bist, dass du dich trennen möchtest, ist es letztlich aufrichtiger, dies auch vor den Feiertagen zu kommunizieren. Das gibt allen Beteiligten die Chance, sich darauf einzustellen und authentisch damit umzugehen, zumal Kinder mehr mitbekommen, als man gemeinhin denkt.
Wie viele Menschen trennen sich doch nicht, die mit diesem Anliegen deinen Rat gesucht haben?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil ich Menschen nur ein Stück ihres Lebensweges begleite. Ich würde aber sagen, dass 15 bis 20 Prozent meiner Klientinnen und Klienten vorerst nicht den Schritt der Trennung gehen, aus unterschiedlichsten Gründen: Etwa weil sie das Gefühl haben, noch nicht alles probiert zu haben, weil sie Angst vor der möglichen Einsamkeit haben oder noch mit Schuldgefühlen kämpfen, den Partner oder die Kinder im Stich zu lassen.
Was sagst Du diesen Menschen?
Ich finde es wichtig, dass wir in solchen Krisen an andere denken. Viele vergessen aber in solchen Situationen eine ganz wichtige Person: sich selbst. Ich vergleiche das gerne mit einem Luftdruckabfall in einem Flugzeug. Wenn die Sauerstoffmasken von der Decke fallen, gibt es eine klare Anweisung: «Put on your oxygen mask before you help others.» Du kannst nur anderen und dir selbst helfen, wenn du fürsorglich auch mit dir selbst umgehst. Eine Beziehung wächst zudem durch die Bewältigung von Problemen. Und die sind nicht die Ausnahme, sondern eher der Normalfall. Entscheidend ist also nicht die Abwesenheit von Konflikten, sondern wie Paare damit umgehen.
Es geht also nicht darum, um jeden Preis zusammen zu bleiben?
Nein, eher darum, eine bewusste und ehrliche Entscheidung zu treffen. Dafür sollte ich wissen: Wer bin ich eigentlich? Wohin will ich noch im Leben? Und erst dann sollte man sich die Frage stellen: Mit wem?
Welche Tipps hast du konkret für die Weihnachtstage?
Das Geheimnis einer gelingenden Partnerschaft liegt eigentlich in der Zeit zwischen den Feiertagen. Eine Beziehung ist kein Selbstläufer, sie ist Arbeit. Das hört sich anstrengend an. Es bietet aber gleichzeitig die Möglichkeit, etwas selbstverantwortlich und vielleicht auch gemeinsam für die Partnerschaft zu tun.
Aber du wolltest ja wissen, was man jetzt noch konkret tun kann. Hier sind meine wichtigsten Empfehlungen für eine möglichst entspannte Weihnachtszeit, in lesefreundlicher Aufzählung.
Also gut, leg los!
Hab den Mut, «Nein» zu sagen.
Und vor allem: Setzt euch nicht unter Druck. Spielt nicht die perfekte Familie, wenn es gerade kriselt. Diese Ehrlichkeit kann sogar verbindend wirken, weil sie allen den Druck nimmt. Weihnachten muss nicht perfekt sein.
Danke für das Gespräch, Torsten.
Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln.