Wüsten-WM schauen oder nicht? Ja, Nein – Jein …
18.11.2022
Knapp einen Monat lang wird jetzt in der Wüste gekickt. Soll man Spiele schauen? Darf man überhaupt? Folgt man den lautesten Stimmen, darf man nicht. Auf. Gar. Keinen. Fall! Ich sehe das ein bisschen anders.
Es ist absurd, dass der gesellschaftlich und wirtschaftlich grösste Sportanlass der Welt in einem winzigen Wüstenstaat mit einer eigenen Sporttradition bestehend aus Reiten und Falknerei stattfindet. Dass die Vergabe dieser WM nicht nur schlicht falsch, sondern inzwischen hinlänglich belegt, gekauft war, ist unumstritten. Dass die Menschenrechtslage vor Ort desaströs ist – es sei denn man ist Mitglied der Königsfamilie oder von ihr bezahlter Influencer –, weiss die ganze Welt. Selbst Sepp Blatter, seines Zeichens FIFA-Präsident bei der Vergabe der WM, sagt heute, es sei ganz klar ein Fehler gewesen. Hilft jetzt nichts und niemandem mehr, ist aber dennoch bezeichnend.
Wie viel die FIFA aus dieser Vergabe (und früheren problematischen) lernen wird, bleibt abzuwarten und man darf berechtigte Zweifel haben. Immerhin: Die nächste WM 2026 findet in Kanada, den USA und Mexiko statt, da ist zumindest die Sporttradition gross – wenn auch nicht unbedingt im Fussball.
Fruchtlose Boykott-Diskussion
Es gibt also ganz viele Gründe, warum diese WM nicht in der Wüste stattfinden sollte und nur ganz wenige Gründe (welche eigentlich?), warum doch. Die öffentliche Diskussion ist gerade daran entbrannt, ob Fussballfans in der Schweiz das Turnier mit Nichtbeachtung strafen sollten. Eine Diskussion, die nur logisch und in grossen Teilen verständlich ist. Hier und heute kurz vor dem Beginn des Turniers wird sie aber rein gar nichts bewirken.
Denn Fakt ist: Die WM findet statt. So wie seit zwölf Jahren vorgesehen. Die Stadien sind gebaut, die Sponsorengelder ebenso geflossen wie die TV-Rechte verkauft. Mutmasslich Tausende Bauarbeiter haben ihr Leben verloren und Zehntausende haben unter Sklaverei nahen Bedingungen gearbeitet. Das sind Katastrophen und die werfen ein schlechtes Licht, nicht nur auf Katar und die FIFA, sondern letztlich auf die ganze Welt.
Denn der Aufschrei, der Widerstand, der Boykott des Turniers hätte 2010 beginnen müssen. Und hätten die Kontinentalverbände, die Landesverbände, die Superstars des Weltfussballs damals gemeinsam mit einer Stimme gegen die Vergabe protestiert, vielleicht wäre die FIFA ja zur Vernunft gekommen. Aber wie irgendein Fussballprofi vermutlich irgendwann in einem Interview einmal gesagt hat: «Wäre, wäre, Fahrradkette.»
Und so stehen wir nun da und hadern mit uns selbst, ob es jetzt auf gar keinen Fall okay ist, doch das eine oder andere Spiel im TV zu schauen. Oder ob man nun doch, vielleicht, ohne allzu schlechtes Gewissen, eventuell, das eine oder andere Spiel einschalten könnte (ohne es jemandem zu sagen, natürlich).
Niemand braucht ein schlechtes Gewissen zu haben
Ja, es ist im Moment sehr beliebt und normal im Brustton der Überzeugung zu sagen, man schaue sich das garantiert nicht an, wegen: Korruption! Gigantismus! Menschenrechten! Diskriminierung! Und überhaupt! Aber sind wir mal ehrlich. Wenn am 18. Dezember um 16 Uhr MEZ das Finalspiel angepfiffen wird, sitzen die allermeisten von uns vor der Glotze und drücken wem auch immer die Daumen. 1,12 Milliarden Menschen haben sich den WM-Final 2018 angeschaut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es am 18. Dezember nicht viel weniger sein werden.
Und niemand muss deswegen ein schlechtes Gewissen haben – finde ich. Sollen Kinder, deren Liebe zum Fussball noch so jung und unschuldig ist, wie die von Martin Jungfer in den 1980er- und 90er-Jahren, auf ihre erste WM verzichten? Sollen die Spieler von Kanada, die sich erstmals seit 1986 und zum erst zweiten Mal überhaupt für das Turnier qualifiziert haben, ein schlechtes Gewissen haben und von ihren Fans zu Hause mit Nichtbeachtung gestraft werden? Verändern wir irgendetwas in Sachen WM-Vergabe oder Gigantismus im Sport, wenn wir keine WM-Spiele anschauen? Nein, die Verantwortung dafür auf die Fans zu Hause vor dem Bildschirm abzuschieben, ist weder fair noch sinnvoll oder wirkungsvoll. Wer WM schauen will, soll WM schauen.
Trotzdem kann man durchaus auch der Meinung sein, dass eben gerade in diesem Fall jeder, auch später, Protest besser ist als gar keiner. Darum ist es genauso okay für sich zu entscheiden: Mit dieser WM will ich nichts am Hut haben. Keine Spiele zu schauen ist genauso richtig, wie einige Spiele zu schauen oder sich so viele wie möglich reinzuziehen, sogar Wales gegen Iran. Letztlich muss und darf das jede und jeder für sich persönlich entscheiden. Heuchlerisch finde ich es nur, wenn man sich mit seiner Entscheidung jemand anderem moralisch überlegen und sich auch noch veranlasst fühlt, das lautstark kund zu tun.
PS. Der Boykott, von dem ich denke, dass er eventuell tatsächlich etwas bewirken könnte, wäre derjenige der grössten Sponsoren, die am meisten Geld investiert haben. Die fürchten schlechte Publicity und ein schlechtes Geschäft vielleicht genug, um künftig tatsächlich nicht mehr ohne weiteres bei allem, was die FIFA sich ausdenkt, mitzumachen.
Oliver Fischer
Teamleader Editorial
Oliver.Fischer@digitecgalaxus.chWeltenbummler, Wandersportler, Wok-Weltmeister (nicht im Eiskanal), Wortjongleur und Foto-Enthusiast.