«Agatha All Along»: Qualität statt Kontroverse
Kritik

«Agatha All Along»: Qualität statt Kontroverse

Luca Fontana
9.11.2024

Mit «Agatha All Along» gelingt Marvel ein Befreiungsschlag. Weg von den generischen Superhelden-Klischees und aufgesetzter Diversität, hin zu einer düsteren und komplexen Erzählung, die mit unerwarteten Wendungen und starken Frauenfiguren überzeugt.

Achtung: In diesem Artikel gibt es Spoiler zu «WandaVision», «Doctor Strange in the Multiverse of Madness» und «Agatha All Along». Spoiler zu «Agatha All Along» werden allerdings in aufklappbaren Infoboxen versteckt, damit jene, die diese Serie noch schauen möchten, den Text unbesorgt lesen können.

Jedes Mal, wenn Marvel Studios eine neue Live-Action-TV-Serie macht, scheinen die Serien-Götter eine Münze zu werfen: Kopf bedeutet packende Story und Tiefe, Zahl heisst mittelmässige Effekte und lahme Figuren. Zu schade, lag die Münze in den vergangenen Jahren eindeutig öfter auf Zahl.

Die zweite Staffel von «Loki» zum Beispiel machte zwar Hoffnung. «Echo» hingegen war ein absolutes Schnarchfest. «Secret Invasion» ein als knallharter Thriller getarnter Rohrkrepierer. «Moon Knight» und «Ms. Marvel» begannen zwar stark – gingen dann aber irgendwo zwischen riesigen Tier-Gottheiten und bunten Glitzer-Gefechten mit Djinns unter, wie Sören Diedrich von Gamestar so schön schreibt. Und je weniger wir über «She-Hulk» reden, desto besser …

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    von Luca Fontana

Das Studio, das seit 2009 zu Disney gehört und zwischen 2010 und 2019 nichts als Superhelden-Hit an Superhelden-Hit reihte, scheint seit «Endgame» nur noch oberflächliche Charaktere, erzwungene Disney-Channel-Gags und unnötige politische Botschaften zu können.

Oder doch nicht?

Mehr als nur Familienunterhaltung

Ich hatte es ja kaum zu hoffen gewagt. Aber mit «Agatha All Along» liegt die Münze tatsächlich mal wieder auf Kopf. Der Meinung scheine nicht nur ich zu sein. Auf Rottentomatoes etwa, einer Datenbank, die Filmbewertungen im Internet sammelt, kriegt die Serie sowohl von Kritikerinnen und Kritikern als auch vom Publikum starke 83 Prozent Zustimmung – mehr als die zweite Staffel von «Loki».

Das will was heissen.

Die herrliche Kathryn Hahn stiehlt als Agatha immer noch allen die Show.
Die herrliche Kathryn Hahn stiehlt als Agatha immer noch allen die Show.
Quelle: Marvel / Disney+

Die Story beginnt dabei relativ geradlinig: Drei Jahre sind vergangen, seit Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen), die Scarlet Witch, Agatha Harkness (Kathryn Hahn) all ihrer Mächte beraubt und sie in ein Gedanken-Gefängnis verbannt hat. Dies, um Agathas bösen Treiben auf alle Ewigkeit Einhalt zu gebieten. Aber nun, da Wanda in «Dr. Strange in the Multiverse of Madness» gestorben ist, hat sich das Gefängnis geschwächt – gerade genug, damit ein mysteriöser Teenager (Joe Locke) eindringen und Agatha befreien konnte.

Gemeinsam müssen sie nun mit einem Hexenzirkel, den es erst noch zu gründen gilt, die sagenumwobene «Witches’ Road» betreten. Denn wenn sie die vielen Meilen von List und Prüfungen überleben, so sagt die Ballade, die Wegweiser und Warnung zugleich ist, erwarte sie am Ende nicht nur Ruhm, sondern das, was sie am meisten begehren – Macht.

Klingt spannend. Und furchteinflössend. Passend zu den dunkleren Tagen um Halloween herum. Aber auch nach einer Geschichte, die sich verhunzen lässt. Gerade, wenn sie auf Disney+ erzählt wird, Disneys Streamingdienst, das auf Gedeih und Verderb auf Familientauglichkeit getrimmt ist. Das passt doch nicht zu schaurigen Gruselgeschichten?

Soviel zu: Grusel passt nicht zu Disney.
Soviel zu: Grusel passt nicht zu Disney.
Quelle: Marvel / Disney+

Dazu wieder ein Hexenzirkel. Seit «The power of maaaany!» ein rotes Tuch. Oder queere Hauptdarsteller. Homoerotische Beziehungen. Dass Disney solche Thematiken nur deshalb auf die Story-Checkliste täte, um sich auf die Fahne schreiben zu können, wie moralisch überlegen man mittlerweile ist, ohne dass es für die Geschichte Sinn ergibt oder nötig wäre, ist nichts Neues. Siehe «Strange World». Genau das liess mich vor dem Schauen Schlimmes befürchten.

Aber dann …

Ab Staffelhälfte wird's düster – und ein Twist jagt den nächsten

Neun Folgen später stelle ich fest: «Agatha All Along» ist nie und nimmer so weichgespült oder aufdringlich politisch, wie befürchtet. Im Gegenteil. Die Serie ist gut. Richtig gut – wenngleich nicht perfekt.

Kollege Patrick Vogt und ich etwa monierten zwar beim Pausenkaffee nach vier Folgen, dass «Agatha All Along» durchaus ihre schaurigen Momente hat. Etwa wenn die Salem Seven körperverrenkt und mit Spinnen, Maden und Würmen aus dem Mund quillend die Verfolgung aufnehmen. Aber da ist auch immer noch der Marvel-typische Kinderhumor, der den angeschlagenen düsteren Ton immer wieder unnötig unterbricht.

Argh!

Immer wieder tolle Bilder – aber in der ersten Staffelhälfte auch etwas zu viel des «Marvel-Humors».
Immer wieder tolle Bilder – aber in der ersten Staffelhälfte auch etwas zu viel des «Marvel-Humors».
Quelle: Marvel / Disney+

Ab Staffelhälfte dreht die Story der «WandaVision»-Autorin und «Agatha All Along»-Showrunnerin Jac Schaeffer jedoch auf. Kompromisslos, dramatisch – und sogar richtig traurig. Charaktere sterben. Mehrere. Genau davor warnte die Ballade: Wer die Prüfungen nicht bestehe, bezahlt mit dem eigenen Leben. Andere wiederum finden zum Leben … auf bittersüsse Weise. Mehr verrate ich nicht.

Dazu kommen Plot-Twists, die sogar ich als alter Marvel-Comic- und Serienveteran nicht habe kommen sehen. Einer machte mir sogar direkt Lust, die Serie von vorne zu beginnen und die Augen nach den subtil versteckten Hinweisen offenzuhalten. Hinweise, die auf einmal so offenkundig scheinen, dass ich mich frage, wie ich sie übersehen konnte. Das sind die besten Twists.

Es ist, als ob man bei Marvel meinen Artikel, was mit dem Marvel Cinematic Universe aktuell schiefläuft, gelesen und beherzigt hätte. Der Disney-Channel-Humor nimmt ab, bis er ganz verschwindet – wie auch mein Gefühl, dass sich Marvel einem immer jüngeren Publikum anbiedern will. Überhaupt entpuppt sich der Plot gerade in der zweiten Hälfte der Serie als viel cleverer, als ich ihm zugetraut hätte. Und die neuen Charaktere? Die sind endlich mal mehr als blosse Marken-Botschafterinnen und -Botschafter, die Werbung für den nächsten Film oder die nächste Serie machen. Ihre Schicksale gehen mir ans Herz und lassen mich nicht unberührt.

Zum Schluss habe ich fast alle Charaktere fest ins Herz geschlossen – und will mehr von ihnen!
Zum Schluss habe ich fast alle Charaktere fest ins Herz geschlossen – und will mehr von ihnen!
Quelle: Marvel / Disney+

Was soll ich sagen? Marvel kann’s ja doch noch. Sogar, wenn kontroverse Themen gestreift werden, die bei Fans und der – leider – immer toxischer werdenden Diskussionskultur des Internets zu Shitstorms und Rage Baiting führen. Nicht so bei «Agatha All Along». Denn Jac Schaeffers «Kreatur» fühlt sich einzigartig an. Frisch und unverbraucht. Ganz ohne überbordendes Multiversums-Gedöns. Die Fans auf den meisten Kritik-Portalen danken es mit sehr guten Bewertungen.

Genauso sollte es sein.

Fazit

Mehr davon, Marvel!

Bravo. Endlich wieder eine Marvel-Live-Action-Serie, die Konsequenzen nicht nur verspricht, sondern sie tatsächlich durchzieht!

Das funktioniert, weil «Agatha All Along» auf Charaktere setzt, die wir Zuschauende schnell ins Herz schliessen. Auf eine Story, die so viele Überraschungen bereithält, dass man Lust bekommt, nochmals von vorne zu beginnen. Und das alles bei einem ultra-bescheidenen Budget von nur 40 Millionen Dollar. Tatsächlich sieht «Agatha All Along» streckenweise sogar schöner, greifbarer und – vor allem – echter aus als das masslos enttäuschende «Secret Invasion» mit seinem etwa 225-Millionen-Dollar-Budget. Nicht schlecht.

«Agatha All Along» beweist damit eindrücklich, dass Frauen und Minderheiten locker ein Projekt erfolgreich anführen können. Nicht «Wokeness» per se war Marvels jüngstes Problem. Sondern schlechte Schreibe. Und davon ist «Agatha All Along» weit entfernt.

Titelbild: «Agatha All Along» / Marvel / Disney+

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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