
Hintergrund
Fünf Gründe, warum dir ein Kuss so guttut
von Olivia Leimpeters-Leth
Es war keine gute Woche für Facebook. Neue Enthüllungen einer Whistleblowerin zeigen das Ausmass an gravierenden Missständen, die das Unternehmen für Profit in Kauf nimmt. CEO Zuckerberg bezeichnet die Anschuldigungen als irreführend.
Einen respektablen Ruf oder gute Presse genoss der kalifornische Tech-Koloss Facebook auch vor zwei Wochen nicht. Trotzdem ist die Popularität in den vergangenen Tagen weiter in den Keller gestürzt.
Verantwortlich dafür ist ein riesiger Leaking-Skandal, der vom Wallstreet Journal publiziert wurde. Noch vor dem Totalausfall des globalen Facebook-, Whatsapp- und Instagram-Netzwerkes Anfang der Woche haben diese Enthüllungen international grosse Wellen geschlagen.
Unter dem Namen Facebook Files publizierte die amerikanische Börsenzeitung ihre Analysen zu einem Berg an internen Facebook-Dokumenten, die ihnen eine Whistleblowerin zugespielt hatte.
Die schwerwiegendste Erkenntnis: Der Tech-Konzern, dessen digitale Infrastruktur täglich von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt genutzt wird, weiss genau, was alles schief läuft – unternimmt aber bewusst nichts dagegen. Und das, obwohl einfache Lösungen teilweise auf der Hand lägen.
Die nun folgenden Punkte sind besonders brisant.
Die von der Whistleblowerin geteilten Dokumente sollen zeigen, dass auf Facebook eine Zweiklassengesellschaft besteht. Während durchschnittliche Userinnen und User von Bot-Algorithmen auf das Einhalten der Community Guidelines überwacht werden, ist das bei Prominenten nicht der Fall.
Denn die Algorithmus-Polizei ist nicht perfekt und macht oft Fehler. Diese für Facebook meist peinlichen Patzer werden jedoch nur bei besonders exponierten Personen gross beachtet. Indem Facebook prominente Accounts also vor der Algorithmus-Kontrolle schützt, werden visible Fehltritte des Unternehmens vermieden.
Das Whitelisting-Programm ist intern unter dem Namen XCheck bekannt. 2020 wurden laut dem Wallstreet Journal 5.8 Millionen Accounts durch das Programm bevorzugt behandelt.
Deshalb konnte der brasilianische Fussballspieler Neymar 2019 in einem Facebook-Video praktisch ungestraft Nacktbilder einer Frau zeigen, die ihn zuvor der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Obwohl das Zeigen von Nacktbildern einer anderen Person – die das zudem nicht will – streng verboten ist, blieb der Post einen ganzen Tag online und das Profil wurde nicht gelöscht.
Gemäss den Dokumenten weiss Facebook, dass eine solche Zweiklassengesellschaft in scharfem Gegensatz zu den Richtlinien des Unternehmens steht. Trotzdem werde nichts dagegen unternommen.
Interne Studien von Facebook zeigen, dass bei einem von drei Mädchen bereits vorhandene Probleme mit dem eigenen Körperbild durch die Nutzung von Instagram verschlimmert werden.
Vergleiche auf der Plattform können die Art und Weise verändern, wie junge Frauen sich selbst sehen und beschreiben, heisst es in den internen Dokumenten. Das gehe soweit, dass dreizehn Prozent der Jugendlichen mit Suizidgedanken diese auf Instagram zurückführen würden.
Das alles nimmt Facebook laut der Whistleblowerin in Kauf. Öffentlich behaupten Mark Zuckerberg und Instagram-Chef Adam Mosseri zudem gerne das Gegenteil. Noch im März dieses Jahres betonte Zuckerberg vor dem Amerikanischen Kongress, dass die Forschung gezeigt habe, «dass die Nutzung sozialer Apps, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben kann».
Nebst der bewussten Geheimhaltung der negativen Effekte ihrer digitalen Produkte, hat Facebook auch ein grosses Problem mit Kriminalität – besonders in Entwicklungsländern.
Die Palette an Missständen ist hier sehr breit.
Zum einen tolerierte Facebook, dass in Mexiko Drogenkartelle offen Facebook und Instagram nutzen, um Auftragskiller anzuwerben und Trainingscamps für deren Ausbildung zu koordinieren.
In Afrika hingegen soll Facebook als Werbe- und Kommunikationsinstrument für Menschenhändler fungieren. Etwa, um Opfer mit dem Vorsatz von lukrativen Jobs ins Ausland zu locken und sie dort in prekären Situationen der Zwangsarbeit festzuhalten – oft als Sexarbeiterinnen oder im Hausdienst. In gewissen Konfliktgebieten wie Äthiopien oder Myanmar soll Facebook sogar systematisch genutzt worden sein, um zu Gewalt an ethnischen Minderheiten aufzurufen.
Facebook-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sollen intern ausgiebig und regelmässig alle diese Missstände – und einige mehr – angeprangert haben. Deshalb herrsche grosse Frustration darüber, dass das Unternehmen nicht genug dagegen tue, heisst es im Wallstreet Journal.
Gegen aussen kommuniziert Facebook aber, dass gegen solche Verstosse vorgegangen werde – und gewisse Posts und Accounts werden auch tatsächlich gelöscht. Doch anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen und das System so zu konfigurieren, dass Kriminelle es nicht mehr nutzen können, würden anderen Aspekten – wie der Haltung der Nutzerzahlen – mehr Priorität zugeschrieben.
Dass Facebook so wenig Acht darauf legt, Menschen in Entwicklungsländern zu schützen ist schwerwiegend. Es sind nämlich genau die Länder, wo Facebook zurzeit noch am stärksten wächst. Das heisst, die Zahl an potentiellen Opfern, die in die Fänge von Drogenbanden oder Menschenhändlern geraten, nimmt täglich zu. Währenddessen sollen die Lösungsbemühungen des Unternehmens aber konstant schwach bleiben.
2018 hatte Facebook mit einem besorgniserregenden Trend zu kämpfen: Interaktionen der Userinnen und User auf der Plattform nahmen ab.
Die Lösung: Facebook programmierte den Algorithmus so um, dass sogenannte «Meaningful Social Interactions» bevorzugt wurden. Das heisst, seit dieser Umstellung bewertet der Facebook-Bot jene Inhalte höher, die viele Reaktionen, Likes, Kommentare oder Reshares hervorrufen. Diese Inhalte werden dann eher auf der Timeline angezeigt.
Das Problem dieser Lösung: Jene Inhalte, die diese Reaktionen hervorrufen sind zu einem grossen Teil wutschürende oder kontroverse Posts.
Dass die Facebook-Timelines der Nutzerinnen und Nutzern deshalb regelrecht mit Fehlinformationen und gewalttätigen, anstössigen oder kontroversen Inhalten geflutet werden, wurde in internen Dokumenten besprochen.
Datenwissenschaftlerinnen und Datenwissenschaftler des Unternehmens hätten verschiedene Lösungen vorbereitet, um für Besserung zu sorgen. Der CEO und Hauptaktionär von Facebook, Mark Zuckerberg, habe einige dieser Lösungen jedoch bewusst abgelehnt – aus Angst, Userinnen und User würden dann wieder weniger mit Facebook interagieren.
Erst im Nachgang des Sturms auf das amerikanische Kapitol im vergangenen Januar sah sich der Tech-Riese schliesslich dazu gezwungen, Änderungen in der Funktionsweise des Algorithmus vorzunehmen.
Facebook wird schon länger als «App für alte Menschen» bezeichnet – doch auch Instagram ist bei Generation Z nicht die erste Plattform des Vertrauens. Jüngere Userinnen und User siedeln sich vermehrt bei TikTok oder Snapchat an.
Um diesem Trend entgegenzuwirken, arbeitet Facebook offenbar seit Jahren an verschiedenen Projekten, um bereits Kinder in den Bann der sozialen Plattformen zu ziehen.
Bereits vergangenen März wurde bekannt, dass Facebook ein Instagram für Kinder ins Leben rufen wollte. Auf Anhieb stiess dieses Vorhaben auf grosse Kritik in der Öffentlichkeit, weshalb Facebook mit diesen Plänen vergangene Woche zurückkrebste.
Doch die geleakten Dokumente zeigen, dass «Kidstagram» nicht das einzige Kinderprojekt der Firma gewesen ist. Hinter den Kulissen soll Facebook Studien durchgeführt haben, um herauszufinden, welche Produkte am besten bei Kindern und Früh-Teenagern ankommen.
Offiziell dürfend die Dienste von Facebook erst ab einem Alter von dreizehn Jahren genutzt werden.
Die Enthüllungen des Wallstreet Journals wurden seit Mitte September laufend publiziert. Die Whistleblowerin war in dieser Zeit noch unbekannt. Doch vergangenen Sonntag zeigte sie ihr Gesicht. Es handelt sich um Frances Haugen, eine 37-jährige Datenwissenschaftlerin und ehemalige Produktmanagerin bei Facebook.
Sie war zwei Jahre beim Tech-Konzern angestellt.
Haugen gab im Rahmen der Sendung 60 Minutes auf dem Kanal CBS ein langes TV-Interview.
Nebst dem Wall Street Journal hat Frances Haugen die kopierten Dokumente dem amerikanischen Kongress sowie der Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde des Landes zugespielt. Deshalb wurde sie zur Aussage vor den Amerikanischen Senat in Washington geladen.
Die Anhörung fand in dieser Woche statt. Am Dienstag stellte sich Haugen den Fragen der Gesetzgeber. Dabei stand im Zentrum, wie die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Internet besser geschützt werden kann.
Im Rahmen der Anhörung plädierte Haugen dafür, das Netzwerk besser und stärker zu regulieren. Zudem betonte sie, dass Facebook erst den eigenen «moralischen Bankrott» einsehen müsse, bevor das Unternehmen das Vertrauen der Öffentlichkeit wieder zurückgewinnen könnte.
Zuckerberg meldete sich am Mittwoch in einem längeren Facebook-Post zu Wort. Darin nahm der Facebook-Chef Bezug auf den Service-Ausfall und die Whistleblower-Enthüllungen.
Zuckerberg sagt, dass die Anschuldigungen zu einem grossen Teil «keinen Sinn machen würden». Wenn Facebook Studien und Erkenntnisse einfach ignorieren wollte, würden sie diese gar nicht erst in Auftrag geben, heisst es im Post.
Zudem betonte Zuckerberg, dass es nicht wahr sei, dass Facebook Profit über Wohlergehen und Sicherheit stellen würden. Dass Facebook absichtlich Inhalte verbreiten würde, die Userinnen und User wütend machen würden, sei zutiefst unlogisch.
Die Stimmen, die nach stärkerer Regulierung im Tech-Bereich rufen, wurden in den vergangenen Jahren immer lauter. Ob und wie die neuesten Erkenntnisse in die Gesetzgebung einfliessen werden, wird sich zeigen.
«Ich will alles! Die erschütternden Tiefs, die berauschenden Hochs und das Sahnige dazwischen» – diese Worte einer amerikanischen Kult-Figur aus dem TV sprechen mir aus der Seele. Deshalb praktiziere ich diese Lebensphilosophie auch in meinem Arbeitsalltag. Das heisst für mich: Grosse, kleine, spannende und alltägliche Geschichten haben alle ihren Reiz – besonders wenn sie in bunter Reihenfolge daherkommen.