Die Entdeckung der irrationalen Zahlen kam aus einer Sekte
Wurde ein Mathematiker von Mitgliedern eines seltsamen Kults ertränkt? Um die Geschichte der irrationalen Zahlen drehen sich viele Mythen und Legenden.
Für seine Entdeckung der irrationalen Zahlen wurde er mit dem Tod bestraft – so lautet zumindest die Legende um den antiken Gelehrten Hippasos von Metapont. Was sich tatsächlich im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zugetragen hat, ist bis heute unklar.
Offenbar gehörte Hippasos zu den Pythagoreern, einer Art Sekte, die sich unter anderem mit Mathematik und Zahlenmystik befasste. Ein Kernelement ihrer Lehre bezog sich auf harmonische Zahlenverhältnisse, die Brüche aus ganzen Zahlen umfassten. Mit natürlichen und rationalen Zahlen liess sich aus damaliger Sicht die ganze Welt beschreiben. Doch als Hippasos die Längenverhältnisse eines Pentagramms – das Symbol der Pythagoreer – untersuchte, erkannte er, dass sich einige Seitenlängen nicht als Bruchzahlen ausdrücken lassen.
Damit lieferte er den ersten dokumentierten Beweis für die Existenz irrationaler Zahlen. In manchen Geschichten heisst es, die Pythagoreer hätten ihm dies übel genommen, weil solche Zahlen gegen ihre Weltanschauung verstiessen. In anderen Interpretationen habe Hippasos sein Ergebnis veröffentlicht und damit gegen die Geheimhaltungsbestimmungen des Bundes verstossen. So oder so: Hippasos ist nach seiner Entdeckung offenbar im Meer ertrunken. Manchmal wird berichtet, die Pythagoreer hätten ihn von einem Schiff geworfen, nachdem er sie über seine Entdeckung unterrichtete – oder aber, sein Tod sei ein Unfall gewesen, die Pythagoreer hätten es aber als Strafe Gottes angesehen. Aktuelle Interpretationen gehen davon aus, dass nichts davon stimmt. Im Gegenteil: Hippasos' Fund sei schon damals als mathematischer Durchbruch anerkannt worden, auf den die Pythagoreer stolz waren – vorausgesetzt, der Beweis stammt tatsächlich von Hippasos. Denn nicht einmal das ist gesichert.
Überliefert ist nur, dass Pythagoreer die Inkommensurabilität gewisser Grössen bewiesen haben, aus der die Existenz irrationaler Zahlen folgt. Und auch um die Pythagoreer selbst ranken sich etliche Geschichten, deren Wahrheitsgehalt oft fragwürdig ist. Gegründet wurde die Gemeinschaft im heutigen Süditalien vermutlich von Pythagoras von Samos – dem griechischen Gelehrten, nach dem der berühmte Satz des Pythagoras benannt ist (obwohl unklar ist, ob er das Theorem tatsächlich bewiesen hat).
Die Pythagoreer lehnten Reichtum ab, lebten vegetarisch und asketisch. Zudem glaubten sie an die Wiedergeburt, wodurch sie sich von der restlichen Bevölkerung der griechischen Antike unterschieden. Neben mathematischen Inhalten beschäftigte sich die Gemeinschaft wohl mit Philosophie und Politik. Ihre Sichtweise traf aber auf wenig Zuspruch, weshalb sie verfolgt wurden: Es gab mehrere Anschläge auf die Gemeinschaft; einige Jahrzehnte nach Pythagoras' Tod verschwand der Bund vollständig.
Zahlen jenseits von Brüchen
Obwohl vieles um die Pythagoreer mysteriös bleibt, gelten sie weithin als Entdecker der irrationalen Zahlen. Inzwischen lernen wir bereits in der Schule, dass es Werte gibt, die sich nicht als Quotient zweier ganzer Zahlen ausdrücken lassen. Doch diese Erkenntnis erscheint keineswegs natürlich: Schliesslich lassen sich alle irrationalen Werte beliebig genau durch Bruchzahlen nähern – auch wenn es bei manchen irrationalen Zahlen schwerer fällt als bei anderen.
Der Beweis, den Hippasos (oder ein anderer Pythagoreer) vorbrachte, lässt sich am einfachsten mit einem gleichschenkligen und rechtwinkligen Dreieck veranschaulichen, auch wenn der Originalbeweis vermutlich an einer anderen geometrischen Figur durchgeführt wurde (wahrscheinlich am Pentagon). Die beiden Katheten der Länge a in einem gleichschenkligen, rechtwinkligen Dreieck schliessen also einen rechten Winkel ein, demgegenüber die Hypotenuse der Länge c liegt.
Ein solches Dreieck hat ein festes Seitenverhältnis a⁄c. Falls sowohl a als auch c rationale Zahlen sind, kann man die Längen der Dreiecksseiten so wählen, dass a und c den jeweils kleinstmöglichen natürlichen Zahlen entsprechen (sie besitzen also keine gemeinsamen Teiler). Falls das Seitenverhältnis zum Beispiel ⅔ wäre, würde man a = 2 und c = 3 wählen. Das heisst: Unter der Annahme, dass die Längen des Dreiecks rationalen Zahlen entsprechen, sind a und c ganzzahlig und teilerfremd.
Ein Widerspruchsbeweis
Hippasos nutzte diese Tatsache, um einen Widerspruch zu erzeugen – und damit zu beweisen, dass die ursprüngliche Annahme falsch sein muss. Zunächst nutzte er den Satz des Pythagoras und drückte damit die Länge der Hypotenuse c in Abhängigkeit der beiden Katheten a aus: 2a2 = c2. Da a und c ganzzahlig sind, folgt aus der vorangehenden Gleichung, dass c2 eine gerade Zahl sein muss. Demnach ist auch c durch zwei teilbar: c = 2n, wobei n eine natürliche Zahl ist.
Indem man c = 2n in die ursprüngliche Gleichung einsetzt, ergibt sich: 2a2 = (2n)2 = 4n2. Auf beiden Seiten lässt sich die Zwei kürzen, wodurch man folgendes Ergebnis erhält: a2 = 2n2. Da a ebenfalls eine ganze Zahl ist, folgt daraus, dass a2 und damit zudem a gerade Zahlen sind. Doch das steht im Widerspruch zu der ursprünglichen Annahme; denn wenn a und c beide gerade sind, können sie nicht teilerfremd sein.
Damit konnte Hippasos folgern, dass das Seitenverhältnis eines gleichschenkligen, rechtwinkligen Dreiecks a⁄c keiner rationalen Zahl entsprechen kann. Sprich: Es gibt Zahlen, die sich nicht als Verhältnis zweier ganzzahliger Werte darstellen lassen. Wählt man zum Beispiel die Längen der beiden Katheten des Dreiecks a = 1, dann ist c = √2. Und wie wir heute wissen, ist √2 eine irrationale Zahl. Ihre Nachkommastellen setzen sich unendlich lange fort, ohne sich jemals zu wiederholen.
Aus heutiger Sicht scheint die Existenz irrationaler Werte nicht allzu erstaunlich, weil wir schon sehr jung mit dieser Tatsache konfrontiert werden. Wie eine solche Erkenntnis vor etwa 2500 Jahren gewirkt haben muss, lässt sich nur schwer einschätzen. Es muss jedenfalls das mathematische Weltbild auf den Kopf gestellt haben. Kein Wunder also, dass es so viele Mythen und Legenden zu dieser Entdeckung gibt.
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