Disney+ kommt – und wiederholt denselben Fehler wie Netflix
Disney+ wird international ausgerollt. Die bisherigen Abo-Zahlen zeigen: Der Dienst ist ein voller Erfolg. Ob der auch langfristig hält, hängt allerdings davon ab, ob Disney nicht denselben Fehler wiederholt wie Netflix.
Ginge es nach Disney, dann wäre die zweite Mandalorian-Staffel wohl eher heute als morgen zum Streamen parat. Schliesslich ist «The Mandalorian» ein riesengrosser Erfolg, der Kritiker und Fans gleichermassen begeistert und massgeblich zum Abo-Boom bei Disney+ beiträgt.
In Zahlen: 28,6 Millionen Menschen haben Stand 2. Februar ein Abo bei Disney+ abgeschlossen – kaum drei Monate nach seinem US-Start. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Sie dürften aber höher sein. Auch, weil der Streamingdienst jetzt international ausgerollt wird: In der Schweiz und in Deutschland ist Disney+ seit heute verfügbar.
Die genannten Abo-Zahlen sind gut, weil Ex-Disney-CEO Bob Iger eigentlich mit einem viel tieferen Wachstum gerechnet hatte: 18 Millionen Abonnenten – pro Jahr. Der erste Schritt, anfangs einen möglichst grossen Kundenstamm aufzubauen, ist damit bereits getan.
Der nächste Schritt: Diesen Kundenstamm auch langfristig zu halten. Ob das gelingt, hängt davon ab, ob Disney den Fehler von Netflix vermeidet.
Momentan sieht’s nicht danach aus.
Netflix: Vom Video- und DVD-Verleih zum Streaming-Giganten
Welchen Fehler? Da muss ich etwas ausholen. Vor allem aber müssen wir uns anschauen, wie der einstige DVD- und Video-Verleiher zum Streaming-Giganten geworden ist.
Ende 2007 sieht Netflix-CEO Reed Hastings vor allen anderen das Ende der physischen Speichermedien kommen. Darum setzt er alles auf eine Karte: Streaming. Für das Unternehmen heisst es, das eigene Video- und DVD-Verleih-Geschäft aufzugeben. Stattdessen werden Lizenzgebühren an Vertriebs- und Produktionsfirmen fällig, um ihre Filme und Serien in die eigene Streaming-Bibliothek aufzunehmen – zum Beispiel an Disney.
Ein Wagnis. Denn Ende 2007 ist die Streaming-Qualität mies. Mieser als DVD-Qualität. Darauf hat niemand gewartet.
Aber die Rechnung geht auf.
Netflix verbessert die Streaming-Qualität und vergrössert seine Bibliothek. Zwischen 2007 und 2010 schliesst der Nobody Partnerschaften mit Microsoft, Sony und Apple ab und macht so seine App auf zahlreichen Plattformen verfügbar. Ende 2011 zählt Netflix über 20 Millionen Mitglieder.
Skepsis weicht Zuversicht. Vertriebs- und Produktionsfirmen sehen in Netflix eine neue, attraktive Einnahmequelle. Gerade, weil die DVD-Verkäufe gleichzeitig einbrechen und prominente Opfer fordern. Eines davon ist der einstige Verleih-Gigant Blockbuster.
Netflix etabliert sich. Zeigt durch seinen kometenhaften Aufstieg aber auch, wie viel Geld im Streaming-Geschäft und seinem Abomodell steckt – Geld, an das auch die Verleiher und Produzenten kommen wollen.
Verhandlungen über Lizenzverlängerungen werden kompliziert; die Rechteinhaber verlangen immer höhere Gebühren. Noch zieht Netflix mit. Aber der sich radikal verändernde Streaming-Markt verlangt nach einer neuen Strategie: Eigenproduktionen.
Im Jahr 2013 lancieren die Kalifornier aus Los Gatos, wo der Netflix-Hauptsitz steht, «House of Cards» und «Orange is the New Black». Die Eigenproduktionen sind nicht nur Kritikererfolge, sie stellen auch die Legitimät Netflix’ als Produzent grossartiger TV-Shows à la HBO unter Beweis. Dank diesen Eigenproduktionen fallen mühselige Lizenzverhandlungen weg. Zudem lockt die Exklusivität der Originale neue Abonnenten an und überzeugt sie, zu bleiben, falls andere beliebte Serien oder Filme aus der lizenzierten Bibliothek fallen. Viel mehr, als es uralte Film- und Serienklassiker je könnten.
Aber durch die Investitionen in die Originale bleibt weniger Geld für Lizenzgebühren: Zwischen 2012 und 2016 verliert Netflix etwa die Hälfte seines lizenzierten Angebots. Netflix – auch wegen neuer Streaming-Konkurrenz – muss handeln. Und zwar schnell. Eine erneute Kurskorrektur wird vorgenommen: Quantität vor Qualität. Zumindest in Punkto Eigenproduktionen. Oder anders gesagt: Die schrumpfende Bibliothek soll mit neuen Originalen aufgefüllt werden.
Die Verantwortlichen bei Netflix drücken das erklärte Ziel in Zahlen aus: 50 Prozent der gesamten Netflix-Bibliothek soll aus Eigenproduktionen bestehen. In Folge dessen werden eilig zahlreiche Projekte wie «Fuller House», «Frontier» oder «Bright» durchgewunken, die qualitativ und inhaltlich nicht mit vorhergegangenen Produktionen mithalten können. Im Jahr 2016 investieren die Kalifornier rund 6 Milliarden Dollar in Eigenproduktionen. Tendenz steigend: 2019 sind es bereits 15,3 Milliarden Dollar gewesen, bis Ende 2028 sollen es gar über 28 Milliarden Dollar jährlich sein. Prozentualer Anteil an Eigenproduktionen im Oktober 2018: 37 Prozent.
Was hat das alles mit Disney+ zu tun?
Mittlerweile zählt Netflix 167 Millionen Abonnenten. Letzten Sommer waren es noch 150 Millionen. Die Zahl steigt also.
In einem im Juli 2019 veröffentlichten Artikel geht das Wirtschaftsmagazin Forbes dennoch davon aus, dass Netflix’ Strategie scheitern wird. Denn obwohl Netflix weltweit betrachtet gesund scheint, ist gerade auf dem heimischen US-Markt der Abo-Wachstum seit Jahren niedriger als prognostiziert.
In anderen Worten: Netflix in Abonnenten ausgedrückt wächst nicht schnell genug, um die konstant steigenden Betriebskosten nachhaltig abzudecken.
Denn laut Nasdaq gibt das Unternehmen seit 2016 jährlich etwa 2 Milliarden Dollar mehr aus, als es einnimmt. Auf die Aktienkurse hat sich das bisher kaum ausgewirkt; das Vertrauen in Netflix ist gross. Aber wenn die Kalifornier weiterhin weniger Geld verdienen, als dass sie «verbrennen», wie es im Jargon so schön heisst, werden die Investoren abspringen.
Was hindert Netflix am rascheren Abo-Wachstum? Kurz gesagt: Das Angebot ist wegen der Strategie, viel und schnell zu produzieren, qualitativ und inhaltlich betrachtet insgesamt gut, aber nicht sehr gut. Zudem ist Netflix wegen seinen immensen Betriebskosten einer der teuersten Streamingdienste der Welt. Das führt dazu, dass Kunden hochwertige Serien wie «Stranger Things» oder «The Crown» am Laufmeter erwarten, aber nicht kriegen. Da hilft es nicht, dass Konkurrenz von HBO, Amazon, Apple, Warner Bros, Sky und Universal droht.
Disney+ steuert auf das gleiche Problem wie Netflix zu.
Schauen wir uns Disney+ etwas genauer an
Disneys Ausgangslage unterscheidet sich von Netflix’: Disney kann sich nämlich teure Lizenzgebühren sparen, weil der berüchtigte Disney-Bunker bereits den grössten Teil der Klassiker beinhaltet. Dazu gibt’s ja noch die eingekauften Marken.
Da sind etwa die Disney- und Pixar-Animationsfilme, die sich perfekt für Familien und Kinder eignen. Da sind die Marvel- und Star-Wars-Filme, von denen einige zu den finanziell erfolgreichsten und gefeiertsten Filme aller Zeiten zählen. Und National Geographic bietet, als Tüpfelchen auf dem i, oscarprämierte Dokus für Wissensbegierige an. Alles an einem Ort: Disney+.
Damit weiss Disney seinen Backkatalog – der Bibliothek exklusive Eigenproduktionen – auch langfristig gesichert; anders als bei Netflix schrumpft sie wegen auslaufenden Lizenzen nicht. Zudem ist sie die womöglich attraktivste auf dem Markt. Zumindest aus Hollywood-Perspektive: Pixar, Marvel oder Star Wars – das sind starke Marken. Es gibt also deutlich weniger Zugzwang für Disney, exklusive Eigenproduktionen am Laufmeter zu produzieren.
Anders gesagt: Disney hat kein Backkatalog-Problem à la Netflix.
Das alleine ist allerdings keine Garantie, dass die aktuell über 28,6 Millionen Abonnenten bei Disney bleiben. In einer von Forbes veröffentlichten, aber nicht selbst durchgeführten Studie sind die beiden Hauptgründe, die in den USA zur Beendigung eines Abos führen:
- Ein schlechtes Preis-/Leistungsverhältnis
- Nicht genügend neue und spannende Inhalte
Die Attraktivität eines Streaming-Dienstes liegt also hauptsächlich in seinen exklusiven Eigenproduktionen, nicht in seinem Backkatalog. Das mag banal klingen. Ist aber wichtig. Denn Disney verlässt sich auf die Attraktivität seines Backkatalogs. Langfristig sind es allerdings nicht die Inhalte, die die Leute bereits kennen, die sie beim Streamingdienst halten, sondern die neuen Inhalte, die es zudem regelmässig nachzureichen gilt – eben Eigenproduktionen. In Disneys Fall Disney Originale.
Und genau die haben ein Problem.
Das Problem: Disney Originale sind… auch nur okay
Die meisten Disney Originale sind mittelprächtig bis okay. Ausnahmen gibt es wenige. «Togo» zum Beispiel, ein grossartiger Film mit Willem Dafoe. Oder «The Imagineering Story», eine der besten Dokus über Disney, die es gibt. Auch «The World According to Jeff Goldblum» ist super, weil es eine seichte Infotainement-Serie ist, die dafür jede Menge Goldblum’schen Charme versprüht.
Nur: Niemand redet von ihnen. Und das ist das grosse Problem. Denn das einzige Disney Original, das bisher auf ähnlich viel Interesse gestossen ist wie etwa Netflix’ «The Witcher», ist «The Mandalorian». Und gemessen daran, wie wichtig in der Wahrnehmung der Abonnenten die Originale sind, ist das zu wenig für einen Dienst, der auf den Premium-Ruf der Marke Disney setzt. Umso mehr, weil die nächste Mandalorian-Staffel nicht vor Oktober 2020 erscheinen wird.
Die derzeit laufende siebte und finale Staffel von «Star Wars: The Clone Wars» hilft, die Lücke bis Oktober zu schliessen. Allerdings nur bei den bereits bestehenden Fans der Serie. Neue Abonnenten lassen sich damit kaum anlocken. Das nächste Original, das ähnlich gute Erfolgsaussichten wie «The Mandalorian» hat, ist «Falcon and the Winter Soldier». Die Serie soll im August 2020 erscheinen. In fünf Monaten. Die nächste Marvel-Produktion – «WandaVision» – folgt im Dezember 2020. «Loki» kommt nicht vor Frühling 2021.
Das sind lange Wartezeiten.
In der Zwischenzeit begnügt sich Disney+ mit dem Launch mittelmässiger Originale, die nett produziert sind, aber niemanden interessieren. «Timmy Failure» etwa ist langweilig. Die «One Day at Disney»-Kurzdokus sind zwar spannend, aber mit 5 Minuten pro Folge oberflächlich und viel zu kurz. Und aktuell vermarktet das Haus der Maus das am 13. März gelaunchte «Stargirl» als die nächste grosse Teenie-Romanze und Coming-of-Age-Geschichte. Aber eigentlich tut der Film nichts anderes, als ähnliche Filme eher schlecht als recht zu kopieren.
Das zeigt auch die Google-Trends-Analyse unten: Im Vergleich zu «The Mandalorian» und «The Witcher» erregt «Stargirl» am Launch-Tag selbst zwar viel Interesse, fällt aber wenige Tage später wieder ab. Eine Woche nach Launch wird «Stargirl» gar von «The Mandalorian» überholt – einer Serie, die es bereits seit Monaten gibt.
Was muss Disney also besser machen – abgesehen vom Offensichtlichen, nämlich bessere Originale zu produzieren?
Weg von der Mittelprächtigkeit eines Netflix-Originals!
Wir können nicht wissen, ob der Forbes-Artikel oben, der Netflix’ Scheitern voraussagt, Recht behalten wird. Wir können uns aber ausmalen, welchem Zweck ein Original wie «Stargirl» bei Netflix gedient hätte: Es hätte die Bibliothek erweitert und sich an die jungen Erwachsenen gerichtet. Oder einfach an jene, die es gewohnt sind, durch die Netflix-Bibliothek zu stöbern und das zu gucken, was der Netflix-Algorithmus passend zu den eigenen Sehgewohnheiten vorschlägt.
Denn Netflix muss aufgrund seines Backkatalog-Problems in kurzer Zeit viele neue Inhalte produzieren. Manchmal zu Lasten der Qualität. Sowas wie «Stargirl» zum Beispiel. Aber diese «Hauptsache, es hat was für jeden»-Taktik kann nur für Netflix funktionieren. Das ist schliesslich seine Stärke: Jede und jeder kann irgendetwas auf Netflix finden, das gefällt.
Aber wofür steht Disney+?
Jedenfalls nicht Diversität. Am ehesten für «Familienfreundlichkeit». Dafür steht ja Disney. Nur scheint Disney selbst nicht so recht zu wissen, was das im Falle Disney+’ bedeuten soll. Erst kürzlich wurde «Live, Victor», eine Teenie-Serie über den schwulen Victor auf dem Weg zum Coming Out, von Disney+ nach Hulu verschoben, Disneys Streamingdienst für erwachsenere Inhalte. Denn Disney ist «Love, Victor» offenbar nicht familienfreundlich genug.
Solche Spielchen helfen auf dem Weg zum klaren Profil nicht. Denn Disney muss lernen, sich auch über seinen eigenen geschichtsträchtigen Namen und den seiner Marken hinaus zu definieren. Und zwar bald. Was helfen würde, ist, Qualitätsinhalte zu produzieren. Besser: Nur noch Qualitätsinhalte. So wie Netflix anno dazumals mit «House of Cards» und «Orange is the New Black». So, wie Disney es eigentlich mit «The Mandalorian» vor vier Monaten getan hatte.
Stattdessen gibt es «Stargirl» oder «Timmy Failure».
Dabei würde der Fokus auf Qualität den Leuten echte Gründe liefern, ihr Disney+-Abo zu behalten, nachdem sie sich «The Mandalorian» angeguckt hätten. Selbst dann, wenn das Haus der Maus nicht die gleiche Quantität und Diversität bieten kann wie Netflix.
Dabei könnte die Ausgangslage für Disney nicht besser sein. Das Unternehmen kann es sich sogar leisten, es geduldig anzugehen. Es hat ja kein drängendes Backkatalog-Problem. Nur tut’s Disney nicht. Schlimmer: Disney, im Versuch, Netflix Konkurrenz zu machen, wiederholt die von Forbes zumindest als fragwürdig eingestufte Entscheidung Netflix', Quantität der Qualität vorzuziehen.
Wir sehen weiter, wenn es August 2020 ist und «Falcon and the Winter Soldier» kommt.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»