Netflix vs. Blockbuster: Untergang eines Imperiums – wegen 40 Dollar
Als Netflix-Gründer Reed Hastings sein Unternehmen Blockbuster Video für 50 Millionen Dollar zum Kauf anbietet, wird er ausgelacht. Antioco, Blockbuster-CEO, trifft gerade die schlechteste Business-Entscheidung seines Lebens.
40 Dollar. Für das verspätete Zurückgeben der «Apollo 13»-DVD.
Reed Hastings, der noch nicht weiss, dass er Netflix gründen wird, denkt nicht daran, die Busse des DVD-Verleihgeschäfts – Blockbuster Video – zu bezahlen. Schuld am absurd hohen Betrag sei schliesslich nicht er, sondern das übertrieben restriktive Prozedere Blockbusters. Überhaupt, was würde seine Frau dazu sagen?
Was noch niemand weiss: Die Busse verändert das Videoverleihgeschäft für immer. Sie ist der Flügelschlag des Schmetterlings, der zum Orkan wird – in Form der schlechtesten Business-Entscheidung aller Zeiten.
Für Blockbuster Video.
Am Anfang war die Busse
Anno 1997 ist Blockbuster Video das grösste Videoverleihgeschäft der Welt. Etwa 5000 Filialen in den USA und 3000 Filialen ausserhalb zählt es. Weltweit beschäftigt der Verleiher 84 300 Mitarbeiter, alleine 58 500 davon in den USA. In seiner Blütezeit ist das Unternehmen etwa fünf Milliarden Dollar wert.
Den 37-jährigen Hastings interessiert das nicht, als er sich an einem Juli-Nachmittag zu seinem Freund und Unternehmer, Marc Randolph, ins Auto setzt. Die 40-Dollar-Busse regt ihn mehr auf. Grauenhaft. Ungerecht. In der Dreiviertelstunde dauernden Autofahrt von Santa Cruz, Kalifornien, nach Silicon Valley brainstormen sie. Wie so oft.
Die Männer kennen sich, weil Hastings zu diesem Zeitpunkt Chef des Software-Unternehmens Pure Atria ist. Dort ist Randolph sein Marketingchef, weil Hastings Anfang Jahr Randolphs altes Unternehmen QA Software gekauft hat. Seitdem fahren sie jeden Tag zusammen zur Arbeit und brüten über die nächste grosse Idee.
Aber diese Fahrt ist anders. Mittlerweile dauert sie anderthalb Stunden. Auf der State Route 17 stauen sich die Autos. Genug Zeit, die Welt zu verändern.
«Marc, denkst du, dass es möglich ist, DVDs per Post zu verschicken, ohne, dass sie kaputt gehen?»
Netflix wird geboren
Hastings und Randolph fackeln nicht lange. Überzeugt davon, es besser zu können als das Multi-Milliarden-Unternehmen Blockbuster, gründen sie mit einem Startkapital von 2,5 Millionen Dollar ihr erstes gemeinsames Startup.
Netflix.
Ihr Vorteil ist, dass sie Blockbuster Video von Anfang an etwas voraus haben: das Internet. Darum auch der Name, wo «Net» in Netflix als Kürzel fürs Internet und «flix», eigentlich «flicks», als umgangssprachlicher Ausdruck für Filme steht.
Das Geschäftsmodell ist simpel. Kunden suchen sich Wunschfilme auf der Netflix-Homepage aus, bezahlen pro Titel und lassen sich die DVDs per Post nach Hause schicken. Kein müssiger Gang in eine Filiale. Keine Suche nach dem Film. Keine Enttäuschung, wenn der Film bereits bei jemand anderem zuhause ist. Clever. Die verwendeten roten Post-Couverts bestimmen noch heute das Erscheinungsbild von Netflix.
Zum Start umfasst die Bibliothek im Netflix-Hauptquartier in Los Gatos 900 Titel. Zwei Jahre später sind’s schon 3100 Titel. Hastings und Randolph gehen klug vor: Sie sichern sich Exklusiv-Verleihrechte beliebter, aber uralter Film- und Serienklassiker, die kaum noch in Videotheken zu finden sind. «Twin Peaks» zum Beispiel.
Als nächstes kommt das Abo. Für 22 Dollar im Monat können sich Kunden so viele Titel ausleihen, wie sie wollen und solange sie wollen – ohne Busse für verspätete Rückgaben. Hastings legt’s auf Convenience aus. Ein Jahr später die konsequente Umstellung aufs Abo-Modell: Ausleihen ohne Mitgliedschaft ist nicht mehr möglich.
Das Start-Up-Unternehmen wächst und macht die Leute neugierig. Bald schon ist Netflix kein kleiner Fisch mehr im Verleihgeschäft.
Es herrscht Aufbruchstimmung.
Die Dotcom-Blase – eine weltweite Krise
Der Fortschritt des Internets löst eine Euphorie aus. Risiken werden eingegangen. Investoren vertrauen leichtgläubig. Jedes Dotcom-Unternehmen wird milliardenschwer. Ganz bestimmt.
Aber mit jedem Dotcom, das es zum Multi-Milliarden-Unternehmen bringt, etwa Amazon oder eBay, kommen hunderte andere dazu, die scheitern – etwa Pets.com oder Kozmo.
Im März 2000 fällt das Dotcom-Kartenhaus in sich zusammen. Milliardäre werden über Nacht zu Bettlern. Investoren verlieren Unsummen. Sie stossen alles ab, was nicht niet- und nagelfest ist. Der Markt sackt in sich zusammen. Die Wirtschaft blutet. Auch das Land. Die ganze Welt: 1.7 Billionen Dollar, schätzt CNN. Und mittendrin ein Startup mit roten Couverts, das auf ein Minus von 50 Millionen Dollar zusteuert.
Netflix steht vor dem Aus.
Im September 2000 sehen Hastings und Randolph nur noch einen Weg aus dem Schlamassel heraus – und der führt sie nach Dallas, Texas.
Zum Feind. Zu Blockbuster Video.
Die schlechteste Business-Entscheidung
Es ist Hauptverkehrszeit. Ein Taxi holt Hastings und Randolph an der Treppe zum Flugzeug ab. Die Fahrt zu ihrem Ziel dauert ewig; im Flugzeug haben sie kaum geschlafen. «Das ist es, der Renaissance Tower», sagt der Taxifahrer, als er die Männer vor dem Glasturm absetzt, das direkt aus dem Trottoir zu ragen scheint, «eines der höchsten Gebäude der Stadt. Vielleicht sogar das teuerste.»
Hastings und Randolph blicken sich ein letztes Mal an, ehe sie den Turm aus Glas und Stahl betreten. Oben, im 23. Stock, befindet sich das Büro John Antiocos, seines Zeichens Blockbuster-CEO.
Hier werden Geschäfte gemacht.
John Antioco wirkt entspannt, lehnt sich zurück. Sein Ledersessel ist gepolstert. Er trägt keinen Anzug, aber seine Halbschuhe sehen teurer aus als ein Auto. Er strahlt Lässigkeit aus, ist im Hoch. Immerhin hat er, John Antioco, Blockbuster Video gerade eben aus einer Finanzkrise geführt. Wenn einer weiss, wie strauchelnde Firmen wieder auf den Dampfer kommen, dann er, John Antioco. Und wenn Hastings und Randolph, zwei Unbedeutende, etwas zu sagen haben, dann sollte das besser etwas Gutes sein. Denn er, John Antioco, ist gewillt, zuzuhören.
«Blockbuster ist mächtig. Hat ein gewaltiges Filialnetzwerk mit tausenden Standorten und leidenschaftlichen Mitgliedern», beginnt Hastings seinen sorgfältig vorbereiteten Pitch. Er ist gut. Prägnant. Schmeichelnd. Taktvoll lässt er aus, dass die meisten der 20 Millionen aktiven Mitglieder den Video- und DVD-Verleihservice Blockbusters hassen. Antioco soll Netflix kaufen und in die Strukturen Blockbuster Videos integrieren. So jedenfalls die Überlebensstrategie.
Hastings nimmt Tempo auf. «Es gibt aber Bereiche, in denen Blockbuster die Expertise und Marktposition Netflix’ nutzen könnte. Gerade im Online-Bereich.» Hastings gehört hierher, in dieses Büro. «Wir könnten Synergien finden, die Blockbuster und Netflix zu wahrlich mehr machen als die Summe ihrer Teile».
Dann: «Wir sollten unsere Kräfte bündeln.»
Finanziell ist Blockbuster nicht auf Netflix angewiesen. Trotz seines miserablen Rufs. Hastings und Randolph wissen das. Aber Blockbuster Video hat ein grösseres Problem: den Fortschritt. Denn die Welt geht online. Dotcom-Blase hin oder her. Blockbuster Video ist nicht nur schlecht positioniert, um diesen Trend zu nutzen – John Antioco scheint ihn nicht einmal kommen zu sehen.
Diese Lücke wollen Hastings und Randolph schliessen. Sie mögen zwar kein Geld haben. Dafür aber die Zukunft. Vielleicht.
Der Blockbuster-CEO schweigt. Er, John Antioco, lässt die Männer zappeln. «Wenn wir Netflix kaufen würden», beginnt der Retter eines Unternehmens endlich, «was denkt ihr? Ich meine, eine Zahl. Wovon reden wir hier?»
Eine Sekunde, die sich wie eine Stunde anfühlt. Hastings und Randolph tauschen nervöse Blicke. «Wir haben uns die jüngsten Vergleichswerte angesehen», dieses Mal ist es Randolph, der der das Wort ergreift und eine Kaskade aus Zahlen und Business-Analysen vorträgt. Hastings wird ungeduldig.
«Fünfzig Millionen Dollar», unterbricht er.
Über die Jahre hinweg eignen sich Manager Tricks an. John Antioco, CEO des weltweit grössten Videoverleihs, kennt sie alle: Nach vorne lehnen, Augenkontakt herstellen, nicken, Fragen stellen, die vorheucheln, dass er, John Antioco, zuhört. Aber jetzt, da Hastings die Zahl genannt hat, zeigt der Visionär Blockbuster Videos etwas Neues. Keinen Trick, sondern ein Zucken. Da, um die Mundwinkel herum. Winzig. Unfreiwillig. Und fast sofort wieder weg.
Antioco hat Mühe, nicht zu lachen.
Fünf Minuten später ist das Meeting beendet. Blockbuster will nichts von Netflix wissen.
«Well. Shit», sagt Randolph resigniert, als sie zurück im Flugzeug mit einer sarkastischen Geste das Plastikglas erheben. Aber Hastings lächelt nur. Er lächelt tatsächlich, versteckt das Lächeln nicht.
«Es ist offensichtlich, was wir jetzt tun müssen», sagt Hastings dann, «wir müssen Blockbuster in den Arsch treten.»
Die Kunst des Arschtretens
Es wird eng. Im März 2001 zählt Netflix zwar 600 000 Abonnenten und einen Quartalsumsatz von 30 Millionen Dollar, muss aber gleichzeitig einen Quartalsverlust von 4,5 Millionen Dollar hinnehmen. Weniger als letztes Jahr. Trotzdem noch zu viel. Barry McCarthy, Netflix’ CFO und bekannt für seine Finanz-Tricks, beginnt auszurechnen, wie lange sich das kalifornische Unternehmen über Wasser halten kann. Ein paar Monate vielleicht. Mehr Luft wird er Netflix nicht verschaffen können.
Hastings denkt nicht ans Aufgeben. Zusammen mit seinen IT-Experten entwickelt er den Stiefel, der Blockbuster Videos Arsch treten soll: Cinematch Ranking, ein Algorithmus, der Filmvorschläge personalisiert. Im Prinzip bedient er sich dreier Datensätze:
- Welche Filme sich Nutzer bereits angeschaut haben
- Wie sie die angeschauten Filme bewertet haben
- Wie andere Netflix-Nutzer die gleichen Filme bewertet haben
Damit lernt Cinematch, was Netflix’ Abonnenten mögen und was nicht. Daraus erfolgen erstaunlich akkurate Filmvorschläge. Dazu berücksichtigt der Algorithmus die Verfügbarkeit in den Verteilzentren – es soll nichts vorgeschlagen werden, das nicht vorhanden ist. Das gefällt Abonnenten: Sie verschwenden keine Zeit mit schlechten Filmen oder der Suche nach guten Filmen. Skeptiker hingegen sagen, dass Netflix im Extremfall steuere, wer was wann schauen darf.
Kurz nach Cinematch Ranking kommt ein zweiter Stiefel: die Watchlist. Mit ihr können sich Abonnenten Filme vormerken und automatisch ausleihen, sobald die alte Auswahl ans Verteilzentrum zurückgeschickt worden ist. Kein anderer DVD-Verleiher arbeitet so effizient wie Netflix.
Es ist ein verregneter Nachmittag im Juni 2003. Hastings kämpft mit seinem kaputten Schirm. Fluchend. Er hat gerade das Netflix-Verteilzentrum in Phoenix, Arizona, besucht. Verdammter Schirm. Plötzlich klingelt sein BlackBerry. Eine neue Nachricht. Absender: Marc Randolph.
«Reed, Netflix hat die 1-Millionen-Abonnenten-Marke geknackt! Wir schreiben schwarze Zahlen – endlich!»
Netflix ist über den Berg. Der kaputte Schirm ist Hastings auf einmal egal. Er spaziert im Regen, klatschnass, und fühlt sich dennoch federleicht. Es ist einer dieser magischen Spaziergänge, an die er sich das ganze Leben erinnern wird.
Der Schlüssel zur Zukunft
Netflix wächst. Ende 2005 zählt das kalifornische Unternehmen 4,2 Millionen Abonnenten. 2006 erzielt es einen Jahresgewinn von 80 Millionen Dollar. Alles ist gut. Nur einer ist nicht zufrieden im Haus der roten Couverts: Hastings sieht das Ende der physischen Speichermedien kommen. Vor allen anderen. Ein neues Geschäftsmodell muss her.
Ende 2007 trifft Hastings eine Entscheidung: Er setzt auf Streaming. Komplett.
Mit der Post hat Netflix den Gang zum Filmverleiher eliminiert. Jetzt beginnt das Rennen gegen die Zeit. Zwischen Bestellung und Filmgucken sollen null Minuten vergehen. Glücklich darüber sind nicht alle: Die Streaming-Qualität ist hundsmiserabel im Internet des Jahres 2007. Mieser als DVD-Qualität. Sie funktioniert nur am PC. Nur auf Microsoft Windows. Nur mit Internet Explorer. Darauf hat niemand gewartet.
Aber sollte Hastings Recht behalten, hält er den Schlüssel zur Zukunft in Händen.
Zwischen 2007 und 2010 kündigt der Neu-Streamer Partnerschaften mit Microsoft, Sony und Apple an. So wird die Netflix-App auf Konsolen, Handys und Tablets verfügbar. 2010 steigt Nintendo ins Boot. Gleichzeitig investiert Netflix Millionenbeträge in die Verbesserung der Streamingqualität – alleine 40 Millionen im Jahr 2007. Es zahlt sich aus: Ende 2011 zählt Netflix über 20 Millionen Mitglieder.
Das ist nicht nur eine Zahl. Es sind dieselben 20 Millionen, die Blockbuster Video hatte, als der unternehmensrettende Visionär Antioco die Netflix-Gründer zehn Jahre zuvor in seinen Büros im 23. Stock des Renaissance Towers empfing und auslachte.
«Well. Shit», sagt ein resignierter Antioco.
Jetzt lacht er nicht mehr. Netflix hat gerade den Sieg errungen.
Der Arsch ist getreten.
Blockbuster Video geht unter
Zur selben Zeit sinken die DVD-Verkäufe. Wie vorhergesehen stirbt das physische Speichermedium langsam aus, zumindest in der Unterhaltungsindustrie. Nicht unschuldig daran ist der von Netflix ausgelöste Streaming-Boom.
Das bekommt Blockbuster zu spüren: 2010 muss der einstige Riese Insolvenz anmelden. Tausende Filialen werden in den folgenden Jahren geschlossen. Noch mehr Menschen verlieren ihren Job. Während Netflix 2012 gar anfängt, eigene Inhalte wie «House of Cards» zu produzieren, kriegt Blockbuster keinen Fuss vor den anderen.
Der Riese taumelt. 2014 stürzt er.
Als die letzte Blockbuster-Video-Filiale geschlossen wird, hat Netflix über 50 Millionen aktive Mitglieder. Vier Jahre später ist der Streaminggigant das sechstgrösste Internet-Unternehmen der Geschichte, setzt jährlich 11,69 Milliarden Dollar um und hat 139 Millionen Abonnenten. Blockbuster Video gibt es nicht mehr.
Alles wegen 40 Dollar.
Titelbild: Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»