«Ein Rennen fühlt sich an wie das Leben im Schnelldurchlauf»
Wenn ein Mensch an seinen Herausforderungen wächst, dann ist Nicole Reist eine Riesin. Gross genug, um es mit einem ganzen Kontinent aufzunehmen. Die Ultracyclerin startet zum zweiten Mal beim Race Across America.
Wer seine Grenzen einfach nur kennt, tut sich so etwas nicht an. Nur wer sie kennt und nicht akzeptiert, sie mit unbändigem Willen immer weiter verschiebt, Tritt für Tritt für Tritt für Tritt, in einem endlosen Akt der Selbstüberwindung, geht beim «Race Across America» an den Start, dem härtesten Ultracycling-Rennen der Welt. Das RAAM hat zwar nur eine Etappe, doch die sprengt alle Dimensionen: 4 941 Kilometer auf dem Rennrad quer durch die USA, von der West- an die Ostküste, über insgesamt 53 400 Höhenmeter. Zu fahren an höchstens 12 Tagen. Maximale Herausforderung, maximale Erschöpfung. Die Hölle auf Rädern – und Nicole Reists Traum.
Komfortzone ist ein dehnbarer Begriff
Die 33-jährige Winterthurerin ist die derzeit erfolgreichste Ultracyclerin der Welt, ihre Rennen fangen bei 1 000 km nonstop erst an. «Ich bin überzeugt, dass der Mensch viel mehr leisten kann, wenn er bereit ist, seine Komfortzone ab und zu zu verlassen», sagt sie auf ihr Motto angesprochen, dass der Erfolg ausserhalb dieser entstehe. Wobei der Begriff sehr dehnbar ist und bei ihr nicht kurz hinter der Sofakante, sondern in anderen Dimensionen beginnt. «Im Training ist es mein Ziel, die Grenze möglichst weit nach oben zu verschieben, damit ich im Rennen möglichst innerhalb meiner Komfortzone fahren kann. Alles andere würde der Körper über die Dauer nicht mitmachen.»
Das gelingt ihr wie kaum einer anderen, die Liste ihrer Erfolge liest sich beeindruckend. Weltmeistertitel, Europameistertitel, Streckenrekorde, Siege bei der «Tortour» rund um die Schweiz in Serie. Tausende Kilometer, endlose Höhenmeter. Auch das Race Across America hat sie 2016 schon einmal gewonnen. Sie ist eine von nur 37 Solo-Fahrerinnen, die bei bislang 36 Austragungen überhaupt ins Ziel kamen. Es sind extreme Rennen und gewaltige Leistungen, die in der öffentlichen Wahrnehmung doch nur eine Randnotiz bleiben. Eine Welt für sich, ohne grosse Preisgelder und Ruhm über die Szene hinaus.
100% – im Büro und auf dem Velo
Da ist ein privilegiertes Profi-Leben ist nicht drin, Nicole Reist arbeitet Vollzeit als Hochbautechnikerin. «Ich trainiere dann, wenn andere noch schlafen, so dass ich vor der Arbeit bereits die erste Einheit absolviert habe. Und nach der Arbeit kommt noch eine zweite.» An den Wochenenden stünden jeweils lange Einheiten auf dem Programm. Dazu muss rund um die Rennen viel organisiert und finanziert werden, die Kosten für das Projekt Race Across America belaufen sich alleine auf etwa 60 000 Franken. Ein Leben am Limit, dass in jeder Hinsicht nach Entbehrung klingt und einen fast zu der Frage zwingt: warum? Was treibt sie an?
Wenn Nicole Reist am 12. Juni im kalifornischen Oceanside Amerika unter die Räder nimmt, ist sie einerseits sehr alleine, andererseits doch Teil eines grossen Ganzen. «Elf Personen werden mir rund um die Uhr alles abnehmen, nur das Radfahren nicht. Das Team navigiert, verpflegt und unterhält mich», sagt sie, die auch der Teamgeist durch das das Rennen trägt: «Das Erlebnis, gemeinsam ein Ziel zu erreichen, welches fast unerreichbar erscheint, ist ein unheimlich gutes Gefühl.» Sie sei keine Einzelkämpferin, sondern ein Puzzleteil im gesamten Projekt.
Wie der Kopf die Kontrolle behält
Funktioniert ihr Team, ist Nicole Reist frei. Frei für den Kampf, den sie auch im Kopf führen muss. «Ich fokussiere mich auf den Moment und mache mir möglichst keine Gedanken, was noch vor mir liegt. Denn wenn ich diese Pedalumdrehung in diesem Moment nicht schaffe, muss ich mir auch keine Gedanken darüber machen, wie ich die Pedalumdrehung in 4000 km schaffe.» Damit der Körper dieser Logik immer und immer wieder folgt, ist Mentaltraining ein zentraler Teil ihrer Vorbereitungen. Negatives und nicht zu beeinflussende Umstände wie das Wetter blende sie aus, wo immer es geht. Voller Fokus auf den Moment und totaler Verlass auf das Team sind Trumpf. Weiter, immer weiter durch die USA. Es gibt keine Gegnerinnen, die es zu schlagen gilt, ausser sich selbst.
Und doch gibt es beim Race Across America viel zu verlieren. Den Kampf gegen den eigenen Körper, die äusseren Umstände, die Müdigkeit. «Der Sekundenschlaf ist heimtückisch», sagt Nicole Reist, die per Funk ständig mit ihrem Team verbunden ist. Gespräche, Rätsel und Musik, die vom Dach des Begleitfahrzeugs schallt, helfen ihr dabei, wach und in der Spur zu bleiben. Einmal 32 Stunden am Stück, dann 24 Stunden nonstop und schliesslich mit zwei bis drei Pausen innerhalb von 48 Stunden. Für eine Stunde steigt sie dann jeweils vom Rennrad. Es ist nicht schwer sich auszumalen, wie viel Selbstüberwindung es anschliessend braucht, den erschöpften Körper wieder in Schwung zu bringen: «Entscheidend ist, dass ich nicht aus einer Tiefschlafphase geweckt werde und dass nach dem Aufwachen alles sehr zügig abläuft», erklärt sie. «Sobald ich Zeit habe nachzudenken, falle ich in eine negative Spirale.» Davonfahren, bevor der Geist kapitulieren kann – das ist die Kunst.
Die Schmerzen werden kommen, die Belohnungen auch
Immerhin weiss sie genau, worauf sie sich einlässt. Sie hat es schon einmal erlebt: «Vom letzten Mal weiss ich, dass ich dieses Rennen beenden kann. 2016 wusste niemand, ob ich überhaupt die Fähigkeit besitze, 5 000 km zu fahren.» Nicole Reist kennt den extremen Schlafentzug, die rauen Strassenbeläge und deren Folgen: «Hände und Füsse schmerzten nonstop», erinnert sie sich, «und das wird auch diesmal so sein.» Nur könne sie sich mental noch besser darauf einstellen. Die Schmerzen werden kommen, aber die Belohnungen auch. «Nie vergessen werde ich die erste Abfahrt in eine Wüste», denkt sie zurück. «Diese unendliche Weite hat mich fasziniert.»
Sie will sich nicht darin verlieren, sondern ankommen: «Egal wie viel Erfahrung und Erfolg ich habe, jedes Rennen beginnt bei Kilometer Null und jeder Meter muss gefahren werden.» 11 Tage, 14 Stunden und 25 Minuten war sie bei ihrer ersten Teilnahme unterwegs. «Wenn alles wie geplant läuft, werde ich diesmal schneller sein», sagt Nicole Reist. Sie wird fahren, jede Pedalumdrehung ein kleiner Sieg auf einem langen Weg. Das Team hinter sich, das Land vor sich, ihre eigenen Grenzen weiter und weiter verschiebend. Und irgendwann wird sie dort sein, wo es selbst für sie nicht mehr weitergeht: an der Ostküste, am City Dock in Annapolis. Am Ziel.
Zur Person
Name: Nicole Reist
Geburtstag: 26. Juni 1984
Wohnort: Winterthur
Aufgewachsen in: Tann, ZH
Beruf: Dipl. Technikerin HF Hochbau
Grösste Erfolge
2017: Sieg und Weltmeistertitel an der Glocknerman Ultraradmarathon Weltmeisterschaft (1 000km, 16 000hm);
Sieg und Schweizermeistertitel an der TORTOUR (1 000 km, 13 000 hm); Sieg Overall, Streckenrekord und
Europameistertitel am Race Around Ireland (RAI, 2 150 km, 21 000 hm)
2016: Sieg Race Across America (RAAM, 5 000 km, 50 000 hm); Sieg und Schweizermeistertitel an der TORTOUR
2015: Sieg an der TORTOUR
2014: Sieg und Weltmeistertitel an der Glocknerman Ultraradmarathon Weltmeisterschaft; Sieg an der TORTOUR
2013: Sieg am Race Around Austria (RAA, 2 200 km, 30 000 hm)
2012: Sieg am Race Around Austria
2007: Sieg und Weltmeistertitel an der Glocknerman Ultraradmarathon Weltmeisterschaft
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.