Einheitsbrei in der Mainstream-Musik, Teil 4: Die Gründe
Wir wissen jetzt: Dass die Charts immer langweiliger werden, ist nicht nur ein Gefühl, sondern durch Studien belegt. Doch die grosse Frage bleibt: Warum? Ein Erklärungsversuch.
Max Martin ist schuld. Er ganz allein hat die Musik kaputt gemacht. Zu diesem Schluss könntest du kommen, wenn du die diversen Youtube-Erklärvideos zum Thema anschaust. Max Martin ist an vielen erfolgreichen Songs als Produzent und Songwriter beteiligt, unter anderem von Britney Spears, Katy Perry und Taylor Swift. Discogs listet ihn momentan bei 1236 Songs als (Mit-)urheber auf. Kein Wunder, klingt alles gleich, wenn alles von der gleichen Person produziert wurde.
Wir haben also den Sündenbock gefunden. Bloss: So einfach ist es nicht. Dass alles nach dem gleichen Rezept gebraut wird, liegt nicht an Max Martin. Als Produzent tut er lediglich, was getan werden muss, um erfolgreich zu sein. Wenn er es nicht täte, würde es ein anderer tun.
Die Gründe für die zunehmende Eintönigkeit in der Mainstream-Musik sind komplex und lassen sich nicht auf eine Einzelperson reduzieren. Wenn es eine grosse Hauptursache gibt, dann ist es der Kampf um Aufmerksamkeit, der durch den technischen Fortschritt immer härter wird.
Alles ist jederzeit hörbereit
Durch Spotify und Co. sind Millionen von Songs immer und überall abrufbereit. Das führt dazu, dass ich mir selten Zeit nehme, ein Album konzentriert durchzuhören – es gibt ja noch so viel anderes zu entdecken. Im Prinzip stehen alle Songs, die es überhaupt gibt, in ständiger Konkurrenz um meine Aufmerksamkeit. Im CD-Zeitalter beschränkte sich dieser Konkurrenzkampf auf den kleinen Teil der Musik, den ich selbst besass. Plus die paar CDs, die ich im Laden probehören konnte.
Im Kampf um Aufmerksamkeit müssen Songs einerseits auffallen, andererseits vertraut wirken. Denn Vertrautes ist eingänglicher. An Fremdartiges muss man sich zuerst gewöhnen, das erfordert Zeit, Musse und Konzentration. Wenn eine CD so etwas ist wie ein Buch, dann ist Spotify wie Online-News. Die Songs werden dementsprechend immer kürzer.
Streaming ist der vorläufig letzte Schritt einer Entwicklung, die schon lange anhält: Es wird immer einfacher, an Musik zu kommen. Schon die MP3-Tauschbörsen machten mehr Musik verfügbar, als ich hätte hören können. Davor gab es immerhin schon selbstgebrannte CDs, MTV und unzählige Radiosender. Alles Dinge, die mein Vater in seiner Jugendzeit nicht hatte.
Andere Gatekeeper als früher
Musiker werden im Internetzeitalter auf andere Art bekannt. Früher drehte sich alles um Plattenverträge. Die grossen Labels entschieden, wem sie eine Chance geben wollten und wem nicht. Dort fand bereits eine Vorselektion statt.
Heute können Künstler ihre Musik theoretisch von A bis Z selbst produzieren. Das ganze Studio-Equipment ist viel billiger und leistungsfähiger geworden. Veröffentlichen ist sowieso kein Problem mehr, das kann heute jeder selbst.
Dies sollte eigentlich zu mehr Vielfalt führen, nicht weniger. Wer früher vom Musikproduzenten aus dem Studio geworfen wurde, weil er gerade nicht dem Zeitgeschmack entsprach, kann heute auf eigene Faust werkeln. Vermutlich nimmt die Vielfalt über den ganzen Musikbereich gesehen tatsächlich zu. Aber es ist eine Vielfalt, die nicht bis in die Charts vordringt. Ohne die Unterstützung eines Labels bleibt innovative bis experimentelle Musik meist in einer Nische.
Für die Labels lohnt es sich nicht mehr, experimentierfreudige Musiker zu unterstützen. Das war früher anders: Es bestand immer die Möglichkeit eines Überraschungserfolgs mit riesigen Einnahmen. Diese Einnahmen waren so gross, dass sie alle vergeblichen Investitionen wett machten.
Heute sind die Einnahmen generell kleiner, Überraschungserfolge unwahrscheinlicher und zu allem Übel wird auch die Promotion für die Labels immer teurer. Laut IFPI, dem Verband der Musikindustrie, kostet es zwischen 200 000 und 700 000 US-Dollar, einen Künstler im grossen Stil zu promoten. Marketing und Promotion ist der grösste Kostenpunkt, noch vor Aufnahme und Musikvideo. Dabei würde ich das Video auch schon als Promotion sehen.
Die Folge davon ist, dass die Labels kein Risiko mehr eingehen. Es wird nur noch das gemacht, was mit allergrösster Wahrscheinlichkeit Erfolg hat. Und das heisst eben: Alles läuft nach Schema f.
Algorithmen statt Menschen entscheiden
Theoretisch kann jeder auf eigene Faust gross rauskommen, aber die Chancen dafür sind extrem klein. Auf den Streaming-Plattformen ist zwar jeder Song auffindbar, doch nicht jeder ist gleich gut sichtbar. Deshalb gibt es auch heute eine Vorselektion. Nur, dass sie nicht mehr von Menschen, sondern von Algorithmen vorgenommen wird. Was dir auf Spotify und Youtube vorgeschlagen und empfohlen wird, welche Suchtreffer zuoberst erscheinen, das ist das Ergebnis von Algorithmen.
Diese Empfehlungen sind einerseits deinen Hörgewohnheiten angepasst, andererseits gibt es aber auch Musik, die generell häufiger empfohlen wird. Wer mit einem Stück häufig empfohlen wird, erhält mehr Aufmerksamkeit, wird in der Folge mehr gespielt und landet in irgendwelchen Charts – erhält also noch mehr Aufmerksamkeit, und plötzlich geht ein Stück durch die Decke.
Analysen, was zieht und was nicht
Also versuchen Künstler und ihre Musiklabels, herauszufinden, wie die Algorithmen funktionieren. Einiges ist allgemein bekannt. Bei Spotify zum Beispiel ist es laut Pitchfork so, dass ein Song mindestens 30 Sekunden laufen muss, um als «gehört» zu zählen.
Folglich strukturieren Hitproduzenten ihre Songs so, dass sie die ersten 30 Sekunden interessant sind. Was danach kommt, ist nicht mehr so wichtig. Insbesondere die «Hookline», also der eingängigste Teil eines Songs, muss schon in den ersten 30 Sekunden kommen.
Der aktuelle Hit «Memories» von Maroon 5 ist ein gutes Beispiel. Er beginnt mit einer eingängigen Melodie, die in den ersten 30 Sekunden bereits drei Mal wiederholt wird. Danach kommt nichts Neues mehr. Immer nur die 10-Sekunden-Melodie, gelegentlich etwas abgewandelt, um so etwas wie einen Refrain anzudeuten.
Das liegt nicht an der Band, das liegt an der Zeit. Die ersten Hits von Maroon 5 aus dem Jahr 2002 sind anders aufgebaut. «She will be loved» hat einen richtigen Refrain (im Video ab 0:59), eine Bridge (2:45) und ein Outro (3:55). In den ersten 30 Sekunden passiert nicht viel – das, was den Song zum Hit macht, ist der Refrain. Im Spotify-Zeitalter würde ein solches Stück einfach übersprungen.
Vergiss die Charts
Viele haben es schon in den Kommentaren der ersten drei Teile angemerkt: Es gibt eine riesige Vielfalt, wenn du dir die Mühe machst, aktiv zu suchen. Charts und Radio bieten keine Inspiration mehr, aber Empfehlungen von Freunden, Kuratoren, Zufallsentdeckungen im Internet – die Zeiten für Musikliebhaber waren nie so gut wie heute. Es ist nur etwas schwieriger geworden, in der riesigen Menge das zu finden, was dir wirklich gefällt.
Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.