Hintergrund
20 Jahre «World of Warcraft»: Als ich noch jung und die Welt riesig war
von Luca Fontana
Der Norweger Mats Steen (†) träumte von einem Leben jenseits der Grenzen seines gebrechlichen Körpers. In der virtuellen Welt von «World of Warcraft» fand er es – in Form von Freiheit, Freundschaft und Liebe. Dies ist seine Geschichte.
Als Mats Steen starb, war er 25 Jahre alt. Friedlich. Schlafend. Ein kleiner Trost. Aber kein unbedeutender: Mats hatte nämlich Angst vor dem Tod, schrieb er in seinem Blog. Wie hiess es gleich? Ah, ja. Musings of life – Gedanken über das Leben.
Mats, aus Norwegen, dachte viel übers Leben nach. Besonders in seinen letzten Jahren. Denn Mats litt an der Duchenne-Muskeldystrophie, einer schweren genetisch bedingten Muskelerkrankung. Wo andere Kinder sich auf die Schaukel schwangen, fiel er hin. Wo sie rannten, strauchelte er. Bis Mats letztlich kaum mehr Muskeln im Körper hatte, um das eigene Bett zu verlassen. Um zu sprechen. Zu essen. Zu trinken.
Zu atmen.
Den Kopf liess er nur selten hängen. «Ich bin jetzt schon seit 24 Jahren auf dieser Erde», schrieb er etwa im August 2013, «und ich habe fest vor, noch lange zu bleiben.» Dann, wenige Monate später, im Dezember, als er beinahe an seinem eigenen Schleim erstickt wäre, schrieb er: «Es gab einen Moment, da dachte ich: ‹Das war’s. Das ist mein Ende.› Aber der Tod wird noch eine Weile auf mich warten müssen.»
Der Tod wartete noch elf Monate. Dann schloss Mats für immer seine Augen.
Im Dezember 2014 hielt Papa Robert Steen in einer Kapelle nahe Oslo die Trauerrede für seinen verstorbenen Sohn Mats. Seinen Worten lauschten nicht nur Verwandte. Sondern auch Unbekannte. Fremde für die Familie. Doch für Mats gehörten sie zu den wichtigsten Menschen seines kurzen Lebens.
«Mats, ich möchte etwas mit dir teilen», sagte Robert damals. Nicht auf Norwegisch. Sondern auf Englisch. So, dass ihn auch die Fremden verstehen konnten. «Der grösste Schmerz, den deine Mutter und ich im Leben litten, war die Vorstellung, dass du nie wissen würdest, wie es ist, zu lieben. Dass du nie Freundschaften schliessen würdest. Dass du keine sozialen Beziehungen und gemeinsame Aktivitäten mit anderen erleben könntest. Und dass du nie eine bedeutende Rolle im Leben anderer Menschen spielen würdest.»
Mats aber belehrte sie eines Besseren, wie sein Vater feststellte. Denn erst nach seinem Tod, als plötzlich hunderte E-Mails, Nachrichten und Briefe eintrafen, wurde seinen Eltern bewusst, wie wichtig ihr Sohn für andere Menschen gewesen war. Sie erfuhren von tiefen Freundschaften, gemeinsamen Abenteuern und davon, wie sehr Mats das Leben anderer bereichert hatte.
Dabei hatte er doch nur eines getan: Er ist seiner Leidenschaft für «World of Warcraft» nachgegangen, einem Online-Spiel, in dem hunderte Spielerinnen und Spieler gleichzeitig in einer virtuellen Welt miteinander interagieren können.
Die Fremden im Raum? Besagte Spielerinnen und Spieler, die ihm Abend für Abend die Ketten seines körperlichen Fluchs abnahmen und die unglaublichsten Abenteuer in einer fantastischen Welt erleben liessen. Für sie, angereist aus aller Welt, war Mats nicht Mats. Für sie war er Ibelin, ein Adliger von Geburt, ein Privatdetektiv, Lebemann und Entdecker, der sich überall, wo er hinging, Freunde und Feinde machte.
Und sich sogar verliebte.
Es war ein friedlicher, warmer Abend in Azeroth. «Ein paar Freunde und ich sassen am Lagerfeuer, genossen ein paar Bier und erzählten uns gute Geschichten», schrieb Mats in einem Blogeintrag, den er mit «Liebe» betitelte. «Das Gute an virtuellem Bier ist, dass man nicht wirklich betrunken wird. Man tut nur so. Es klingt vielleicht absurd, aber es ist eine lustige Herausforderung für einen Rollenspieler.»
Plötzlich, schrieb Mats weiter, kam eine dunkelhaarige, geheimnisvolle Schönheit aus dem Wald und gesellte sich zu Mats ans Feuer: Rumour. Sie begann, Ibelin zu necken. Mit ihm zu flirten. Mats gefiel das. «Ich war damals 17 und hatte keine Ahnung, wie man überhaupt ein Mädchen anspricht!» Rumour schnappte sich Ibelins Hut. Rannte in den Wald. Ibelin nahm die Verfolgung auf. Holte sie ein. Eine Weile standen sie einander untätig gegenüber. Verlegen. Und dann, ohne Vorwarnung, gab sie Ibelin einen Kuss – auf die Wange.
«Es war zwar nur ein virtueller Kuss, aber Mann, ich konnte ihn beinahe spüren.»
Rumour und Ibelin verliebten sich, während Lisette – so der echte Name der Niederländerin – und Mats eine tiefe Freundschaft entwickelten. Lisette würde sich Jahre später in einem BBC-Interview daran erinnern, wie Mats einmal einen berührenden Brief an Lisettes Eltern schrieb. Die hatten zuvor Lisettes Computer konfisziert, weil sie zu viel Zeit in «World of Warcraft» verbrachte und ihre Schulnoten darunter litten. Das wiederum trieb Lisette in die Depression.
Mats argumentierte im Brief, dass die Sorgen ihrer Eltern zwar berechtigt seien. Aber andererseits würden radikale Massnahmen nur zu noch mehr Entfremdung zwischen ihnen und ihrer Tochter führen. Es gäbe bestimmt eine andere Lösung, die für beide Seiten akzeptabel wäre.
Lisette bekam ihren Computer wieder. Zum Dank zeichnete sie ein Bild von Ibelin und Rumour, liebevoll umschlungen, das sie ihm zum Geburtstag nach Norwegen schickte. Mats würde später schreiben, dass es ihm immer ein Lächeln ins Gesicht zauberte, das Bild anzuschauen, wenn ihn düstere Gedanken mal wieder herunterzuziehen drohten.
Das Bild hängt noch heute in Mats altem Zimmer.
Dass Mats an Duchenne litt, im Rollstuhl sass und bald nur noch seine Finger bewegen konnte, wusste Lisette damals noch nicht.
«In dieser anderen Welt würde ein Mädchen keinen Rollstuhl oder irgendetwas anderes sehen», schrieb Mats in seinem Blog, «sie würde nur meine Seele, mein Herz und meinen Verstand sehen, die praktischerweise in einem hübschen, starken Körper stecken.»
Und weiter: «Alle Charaktere sehen hier stark und hübsch aus. Viele mögen das albern finden, aber zumindest spielt das Aussehen so keine Rolle mehr. Es geht nur um die Persönlichkeit.»
Es gab einen Grund, weshalb Mats seinen Mitspielerinnen und Mitspielern nie etwas über seine Krankheit verriet: Mats wollte kein Mitleid. Keine Spezialbehandlung. Er wollte einfach nur normal sein. Auch darüber schrieb er in seinem Blog. «Als Kind musste ich einmal in ein Sommerlager für behinderte Kinder. Ich hasste die ganze Idee natürlich.» Im Gedächtnis geblieben ist ihm vor allem der Besuch eines Freizeitparks. Tusenfryd, ausserhalb von Oslo.
Ein grosser, behindertengerechter Bus holte Mats und die anderen Kinder ab. Fuhr sie zum Park. Mats war es peinlich, wie in einer Art Freakshow zu paradieren und von den Leuten angestarrt zu werden. Manche dachten sogar, sie wären geistig behindert. «HALLO! GEFÄLLT EUCH DER PARK?», sprachen sie ihn in grossen, langsamen und einfachen Worten an. «Ja, ich bin nicht taub oder geistig behindert», entgegnete Mats, «vielen Dank auch.»
Im Sommer 2013 – Mats war mittlerweile 24 Jahre alt – machte die Familie Steen Urlaub auf Mallorca, während Mats, reiseunfähig, mit seinem Assistenten in seiner Kellerwohnung zu Hause blieb. Den hatte er nunmehr pausenlos um sich herum. «Rollstühle und all das – sie machen alles unheimlich kompliziert.»
Es war in dieser Zeit, als Mats seinen «Musings of life»-Blog zu schreiben begann. In einem seiner ersten Einträge – «My escape» – schrieb er über sein Leben in Azeroth. «Ich fahre den Computer hoch, setze mich zurecht, und dann verlasse ich diese Welt.» Der Bildschirm war Mats' Tor zu seinen Träumen. Ein Zufluchtsort vor der manchmal harten Realität. Und das Schöne an Träumen ist ja: Man kann sie immer wieder besuchen.
«Die meiste Zeit verbringe ich in diesem kleinen Ort namens Azeroth, ein Name, der einigen von euch bekannt vorkommen dürfte», schrieb Mats, «Dort spielt meine Behinderung keine Rolle. Meine Ketten sind gesprengt, und ich kann sein, wer immer ich sein möchte.
Dort fühle ich mich normal.»
Ibelin war nicht nur sein erster erfolgreicher Rollenspielcharakter. Ibelin war die Erweiterung von Mats’ Selbst. Und egal wie aussichtslos die Lage schien: Ibelin rappelte sich stets wieder auf, um mit einem Lächeln im Gesicht weiterzumachen. Genau wie Mats.
Tatsächlich mauserte sich Ibelin gar zu einer kleinen Berühmtheit auf seinem Spiel-Server. Half Mitspielerinnen und Mitspieler in Not. Nahm sich ihrer an. Löste Probleme. Hörte zu. Und gab Ratschläge, so weise und voller Zuversicht, wie sie nur jemand geben konnte, der die Hölle auf Erden durchlitt und sich dennoch weigerte, aufzugeben.
Einmal, wenige Monate vor seinem Tod, loggte sich Mats zehn Tage lang nicht mehr in «World of Warcraft» ein. Für seine Verhältnisse eine lange Zeit. Mats war eigentlich immer online. Seine Freunde bei Starlight, einer Rollenspielgilde, begannen sich zu sorgen. Dank Mats’ Blog hatten sie endlich erfahren, wie es wirklich um ihn stand. Dann kehrte er wieder zurück – direkt aus dem Krankenhaus.
«Mats, du musst jemandem die Möglichkeit geben, mit uns in Kontakt zu treten, falls dir etwas zustossen sollte», schrieb ihm Anne, eine Gildenfreundin. «Du bist uns wichtig.»
Mats wollte davon nichts wissen.
«Das sagst du nur, weil du erfahren hast, dass ich im Rollstuhl sitze.»
Anne entgegnete, dass das nicht stimme. Sie begann, Namen von Menschen aufzuzählen, denen Mats – nicht Ibelin – bereits geholfen hatte. Wirklich geholfen. Auch ausserhalb des Spiels.
«Du bist wichtig für die Gilde. Für uns. Du bist ein fantastischer Zuhörer. Und du bist einer der wenigen Menschen in Starlight, die andere aufbauen können.»
Es war wohl das erste Mal, dass Mats zu begreifen begann, dass sein Leben nicht bedeutungslos vorüberziehen würde. Dass er nicht nur in «World of Warcraft» eine wichtige Rolle gespielt hatte, buchstäblich, sondern auch im Leben anderer Menschen – obwohl er ihnen nie persönlich begegnet war.
Mats war wichtig.
Mats starb wenige Monate nach dieser Unterhaltung. Als sein Papa Robert Steen im Dezember 2014 die Trauerrede vor Familie und Freunden hielt, berichtete er aber nicht nur über die schlimmsten Schmerzen und Ängste von seiner Mutter und ihm. Er fand auch Lichtblicke.
«Ich habe in der letzten Woche berechnet, dass du in den letzten zehn Jahren zwischen 15 000 und 20 000 Stunden in dieser digitalen Gemeinschaft verbracht hast. Du hast alles gemacht, wovon wir befürchteten, du würdest es nie tun können. Du hast dich verliebt. Du hast Mist gebaut. Du wurdest manchmal sogar beschuldigt, ein Frauenheld zu sein. Und als Vater muss ich zugeben, dass mich das ein bisschen stolz macht.»
Dann wandte sich Robert Steen direkt an Mats’ Gildenfreunde.
«Mats war acht Jahre lang in der Welt des Rollenspiels ein wichtiges Mitglied einer fantastischen Gemeinschaft. Dort durfte er Liebe, Freundschaft und das Gefühl erleben, einen Unterschied im Leben anderer Menschen gemacht zu haben. Ich danke euch dafür.»
Als Mats’ Gildenmeister Kai Simon – oder Nomine, wie er im Spiel heisst – das Wort ergriff, sprach er nicht nur zu Mats’ Eltern, sondern zur ganzen Welt: «Wisset, dass gerade jetzt, in ganz Europa, Menschen Kerzen für Mats anzünden.»
Wer selbst eine Kerze zu Ehren Mats’ anzünden möchte, kann das an seinem Grab in «World of Warcraft» tun, das seinem echten Grab in Oslo nachempfunden ist. Es befindet sich genau dort, wo sich Ibelin und Rumour zum ersten Mal begegnet sind – am See direkt hinter Goldshire im Elwynn Forest.
Seine Ketten sind nun für immer gesprengt.
Inspiriert von Mats Steens Geschichte gibt es jetzt in World of Warcraft das «Reven»-Paket. Der gesamte Erlös aus dem Verkauf des Pakets, das einen Fuchs als Begleiter und eine passende Rücken-Transmogrifikation enthält, geht an die Organisation CureDuchenne, die sich für die Erforschung und Behandlung von Duchenne-Muskeldystrophie einsetzt. Damit wird Mats' Vermächtnis weitergeführt und gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Krankheit geleistet.
Starlight, übrigens, wurde 2006 gegründet. Die Gilde existiert bis heute. Und wenn du im offiziellen Gildenregister genau nachschaust, kannst du ihn immer noch als offizielles Mitglied finden – Ibelin.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»