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Filmkritik: «News of the World» ist Tom Hanks erster Western-Film
Paul Greengrass’ «News of the World» ist wunderschön anzuschauen und anzuhören. Zum erhofften Neo-Western-Klassiker reicht’s trotzdem nicht – trotz Tom Hanks. Aber das ist nicht schlimm.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Zwei Golden-Globe-Nominierungen, für die Musik und für Helena Zengel, die deutsche Newcomerin. Dazu «Bourne»-Regisseur Paul Greengrass und Tom Hanks. Kurz: Ein neuer Netflix-Film, der als heisser Oscar-Kandidat gilt.
Hält der Neo-Western, was er verspricht?
Ein Mann erklärt Neues aus der Welt
Texas, 1870. Fünf Jahre sind seit dem Ende des Bürgerkriegs vergangen, der ein ganzes Land in zwei Lager geteilt hat – den Nord- und den Südstaaten. Jefferson Kyle Kidd (Tom Hanks), Ex-Konföderations-Captain, zieht von Stadt zu Stadt, um allen, die ein offenes Ohr und 10 Cent in der Tasche haben, die Nachrichten vorzulesen.
Neues aus der Welt, eben.
Denn das Bildungsniveau ist tief. Lesen können längst nicht alle. Und selbst wenn: Zeitungen werden nicht in alle Ecken der vom Krieg gezeichneten Amerikanischen Union getragen. Genauso wenig das Gesetz. Die Strassen sind unsicher. Gefahrvoll. Das kriegt Kidd am eigenen Leib zu spüren, als er eines Tages auf ein zurückgelassenes, verwaistes Mädchen (Helena Zengel) trifft.
Kidd sträubt sich, das Mädchen alleine zurückzulassen, dem sicheren Tod ausgesetzt. Er entscheidet sich, es mitzunehmen und zurück zu seiner übrig gebliebenen Verwandtschaft zu bringen. Eine gefährliche, wochenlange Reise quer durch den unruhigen Staate Texas beginnt.
Zwei am jeweils anderen Ende ihrer Karriere
Es ist zunächst nicht viel, was die Beziehung zwischen Hanks’ Kidd und die von Helena Zengel gespielte Johanna hergibt.
Schuld daran sind alte Wunden. Körperliche wie emotionale. Johannas Eltern, deutsche Migranten, wurden einst von Kriegern des Kiowa-Stamms abgeschlachtet. Johanna aber nahmen sie mit. Integrierten sie – bis die Kiowa selbst von weissen Plünderern ermordet wurden. Johanna, jetzt Doppel-Waise, ist seit dem verstört, alleine und mehrheitlich stumm.
«Das Mädchen ist verloren. Es muss nach Hause gebracht werden», sagt Kidd, und verfolgt dabei nicht nur uneigennützige Ziele.
![Kidd und Johanna auf dem Weg nach Hause.](/im/Files/4/1/7/0/5/9/8/2/hanks_and_zengel_on_the_kutsche_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Tatsächlich sollen Tante und Onkel Johannas in der Nähe von San Antonio leben – dort, wo Kidds Frau seit über fünf Jahren auf ihn wartet. Vielleicht. Wenn der alte Kriegsveteran sich endlich seinen Dämonen zu stellen wagt.
Spätestens hier wird die Prämisse klar: Kidd und Johanna sind auf unterschiedliche Weise verlorene Seelen, die nach Zugehörigkeit suchen. Nach Erlösung. Ihre Reise ist ein emotionaler Katalysator. Ein Sinnbild für den Weg, der vor ihnen liegt. Mit jedem zurückgelegten Meter wachsen sie. Manchmal aneinander. Manchmal über sich hinaus. Erzählerisch macht der Film keine Kunststücke. Ihre emotionale Wirkung entfaltet deren wachsende Beziehung trotzdem.
Muss am perfekten Casting liegen.
Ich meine: Tom Hanks. Amerikas «Dad». Er spielt immer noch mit Charisma, Bodenständigkeit, Sympathie und der kindlichen Freude seiner ganz frühen Rollen. Mit einer Leichtigkeit bedient er seine schauspielerische Palette, jede einzelne Nuance seines Spiels, die es beinahe zu einfach aussehen lassen, wenn er Charaktere wie in «Captain Phillips», «Bridge of Spies», «The Post» oder «Sully» gibt.
Oder in «Greyhound». Ein kurzer, aber umso spannenderer Kriegsfilm.
Mittlerweile schaue ich mir Hanks-Filme nur wegen Hanks an. Der hierzulande viel zu wenig beachtete «A Beautiful Day in the Neighborhood» etwa, in dem Hanks zwar nur die Nebenrolle besetzt, sie aber mit solch einer Würde und Gravita spielt, dass er den ganzen Film tragen könnte.
Hanks trägt auch «News of the World». Zweifellos. Allerdings nicht alleine: Helena Zengel hilft kräftig mit. Erst mit viel Wut im Bauch. Dann Misstrauen. Später taut sie auf. Erst kürzlich hat die 12-jährige deutsche Jungschauspielerin mit «Systemsprenger» den deutschen Filmpreis gewonnen. Dabei wusste Zengel zum Zeitpunkt des Castings nicht einmal, wer Tom Hanks eigentlich ist. Und als sie’s realisierte, habe sie vor Freude geschrien.
Zwei grossartige Schauspieler*innen am jeweils anderen Ende ihrer Karriere. Ein ungleiches Paar, das zueinander findet.
1870, ein Spiegelbild der Gegenwart
Keine Frage: «News of the World» ist in seinem Kern ein Roadtrip, der die Beziehung zweier Menschen durchleuchtet und dabei eine grosse Welt malt, die gespaltener kaum sein könnte.
Da die Nordstaaten, bemüht, die einstigen Feinde, die Südstaaten, in die Union Amerikas einzugliedern – nicht immer mit fairen Mitteln. Dort die besagten Südstaaten, die Verlierer, gekränkt in ihrem Stolz, und darum immer noch festhaltend am alten Groll. Dazwischen Gewalt, Kriminalität, die Vertreibung von Ureinwohnern und der grassierende Rassismus.
Kommt dir das bekannt vor?
![Unterwegs begegnen wir einer Welt, die der unsrigen gar nicht so unähnlich ist.](/im/Files/4/1/7/0/6/1/5/0/tom_hanks_und_so_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Kein Zufall. Regisseur Greengrass, der auch das Drehbuch geschrieben hat, sucht sie, die Aktualität. Immer wieder. Das fängt in der allerersten Szene an, als Tom Hanks’ Jefferson Kidd einer kleinen Kommune irgendwo in der texanischen Prärie die Nachrichten vorliest:
«Der Houston Telegraph vom 1. Februar berichtet Folgendes: Die Meningitis-Epidemie breitet sich weiter ungehindert aus. Bisher fielen ihr 97 Menschen zum Opfer. In zwei Monaten.»
Leeres Schlucken.
![Jefferson Kyle Kid verliest die Nachrichten.](/im/Files/4/1/7/0/5/1/4/8/tom_hanks_reading_the_news.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Szenen wie diese sind es, die es einem kalt den Rücken runterlaufen lassen und gleichzeitig einen unheimlichen Reiz ausüben. Szenen, die uns unsere Gegenwart wie ein Spiegel vor Augen halten. Sei es eine Epidemie. Sei es Rassismus. Vertreibung. Sogar Fake News. Oder eine Regierung, die proklamiert, dass der Krieg vorüber und die Waffen niedergelegt seien, obwohl sich die Unruhen im Land wie ein heiss lodernder Flächenbrand auszubreiten drohen.
«Der Krieg ist vorbei. Wir müssen irgendwann aufhören, zu kämpfen», sagt auch Hanks’ Kidd in einer Szene.
![Heute wie damals könnte die USA nicht weniger geeint sein.](/im/Files/4/1/7/0/5/1/9/4/siege_of_capitol_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Reuters
In all dem ist Kidd sowas wie ein Nachrichtensprecher. Von Stadt zu Stadt zieht er, rastlos, aber dennoch bemüht, den Menschen nicht nur Nachrichten aus der Welt zu überbringen, sondern auch Geschichten. Geschichten über Mut. Heldentum. Hoffnung. Über verschüttete Minenarbeiter, die wie durch ein Wunder überleben und sich den Weg in die Freiheit erkämpfen, weil sie alte Vorurteile und neu geschaffenes Misstrauen überwunden haben.
Weil sie zusammengehalten haben.
«Das war Neues aus der Welt. Ich danke Ihnen und sage: gute Nacht», verabschiedet sich Kidd, der Nachrichtensprecher, der davon nicht reich wird. Aber es ist genug, um ein Leben auf einer Kutsche zu finanzieren, die nie stillsteht.
Prachtvolle Bilder, eindringliche Musik
Zugegeben, da ist ziemlich viel Laufen und Reden, Reiten und Reden oder einfach nur Sitzen und Reden. Trotzdem fühlt sich «News of the World» nicht langweilig an. Nie. Und wenn’s dann doch mal Action gibt, dann ist sie umso wirkungsvoller. Wohl auch, weil der «Bourne»- und «Captain Phillips»-Regisseur sein Handwerk wie kein Zweiter versteht.
Überhaupt: Die Bildgewalt, mit der Greengrass seine Geschichte über das nach Erlösung suchende Pärchen erzählt, sucht Seinesgleichen. Vor allem dann, wenn die texanische Landschaft mit eindrucksvollen Drohnenbildern eingefangen wird. Das verdanken wir Kameramann Dariusz Wolski, der in Filmen wie «The Martian», «Prometheus» und «Sicario 2» schon ein gutes Gespür für grossartige Panoramen gezeigt hat.
![Ich mag das Kameraauge des Dariusz Wolski.](/im/Files/4/1/7/0/5/9/8/4/hanks_on_a_horse_with_zengel_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Dazu orchestriert James Newton Howard einer der besten Soundtracks der letzten Monate. Vielleicht gar Jahre. Seine Musik ist nämlich facettenreich, malerisch und nie aufgedrückt oder kompensierend. Dafür stets perfekt untermalend. Ein Genuss für die Ohren, der mit einer der besagten zwei Golden-Globe-Nominierungen gewürdigt worden ist.
Hält «News of the World» also das Versprechen eines würdigen Oscar-Kandidaten?
Das verflixte letzte Drittel
Jein. Da ist ein roter Faden, der auf irgendwas hinausläuft. Zugehörigkeit. Erlösung. Zwei Drittel lang. Der zieht sich nur nicht so richtig durch. Verschwindet gar. Ersetzt wird er – zumindest bei mir – durch das komische Gefühl, die grosse Geschichte, die während weiten Teilen des Films in wunderschönen Bildern erzählt wird, nicht so richtig verstanden zu haben.
Stattdessen hocke ich da, beim Abspann, und denke mir: «Okay?»
![«News of the World» wirkt manchmal etwas gar episodenhaft.](/im/Files/4/1/7/0/5/9/8/3/hanks_and_zengel_on_the_run_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Keine Sorge. Ich spoilere nichts. Mir fehlt aber eine Entwicklung. Eine Moral. Vielleicht auch ein Aha-Erlebnis. Ich bin mir nicht sicher, ob die Charaktere Kidds und Johannas zum Ende hin tatsächlich was dazugelernt haben. Gefahren überwinden sie meistens relativ schnell. Narben tragen sie keine davon. Nichts hinterlässt Spuren.
Nicht wirklich.
Und das stört mich. Gerade, weil die relativ kleine Geschichte nicht mehr zur prachtvollen Bildgewalt des Films passen will. Ähnlich gelagerte Filme und Charaktere, etwa «True Grit», um einen anderen Western zu nennen, oder «The Jungle Book», bewirken mehr. Hinterlassen mehr Eindruck. Haben mehr… Punch.
«News of the World» hingegen… versandet. Versäuft. Irgendwo zwischen viel Set Up und wenig emotionalem Pay Off.
Fazit
Es gibt Filme, die gar nicht so einfach zu fassen sind. «News of the World» ist so einer. Trotz Tom Hanks. Trotz Paul Greengrass. Trotz James Newton Howard. Das Problem ist, dass der Film nicht so recht zu wissen scheint, wo er zum Ende hin will.
Was bleibt, ist ein handwerklich unheimlich solides Werk. Angefangen beim Regisseur und seinem Kameramann, der dem Genre des Westerns mit grossartigem Gespür und viel Liebe zum Detail ein Gewinn ist. Dazu kommen Schauspieler, die auf der Höhe ihres Schaffens sind und ein Filmkomponist, der in jeder Szene den perfekten Ton trifft.
![«Links: Paul Greengrass. Rechts: Tom Hanks.](/im/Files/4/1/7/0/6/0/7/5/greengrass_and_tom_hanks_web.jpg?impolicy=resize&resizeWidth=430)
Quelle: Netflix
Zum neuen Neo-Western-Klassiker wird’s wohl nicht reichen. Dafür ist der Film zum Schluss hin zu harmlos. Zu seicht. Es fehlt ihm an Fallhöhe. Trotzdem: Die knapp zwei Stunden Laufzeit könnten deutlich schlechter investiert sein.
«News of the World» ist seit dem 10. Februar 2021 auf Netflix zu sehen.
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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»