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Filmkritik: «Togo» hat eine simple Story, aber eine grosse Wirkung
Der Stafettenlauf, den «Serum Run to Nome», kennt in den USA jedes Kind. Disney hat einen Film daraus gemacht: «Togo». Das Resultat ist nicht nur besser als erwartet. Es ist grossartig.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Viel zu lange habe ich «Togo» gesnobbt. Über ein Jahr. Zu tief war meine Überzeugung verankert, dass ein Disney+-Original kaum über die Qualität eines beliebigen Disney-Channel-Films hinaus kommen könnte.
Ich habe mich geirrt.
«Togo» ist verdammt gut.
Der heldenhafteste Hund aller Zeiten
Es ist 1925. In Nome, einem kleinen Ort im Westen Alaskas, bricht Diphtherie aus: Eine hochansteckende Infektionskrankheit, die sich rasend schnell verbreitet und vor allem Kinder innert Tagen in den Tod reisst. Das Gegenmittel ist gefunden. Wartet in Nenana – über 1000 Kilometer entfernt.
Strassen zwischen Nenana und Nome gibt es keine. Einer der fürchterlichsten Winterstürme der damaligen Zeit macht den Einsatz von Flugzeugen unmöglich. Ein Staffettenlauf mit Schlittenhunden soll die Rettung bringen. Von Nome nach Nenana und wieder zurück – in nur fünf Tagen.
Togo, der mittlerweile 12-jährige Schlittenhund des Mushers Leonard Seppala (Willem Dafoe), steht das längste und schwierigste der insgesamt 20 Teilstücke bevor.
Vom Regisseur, der Kameramann ist
Es ist keine hochkomplexe Story, die «Togo», den Film, ausmacht. Es ist das Drama. Die Musik. Die Action. Die Bilder. Aber vor allem ist es eines: die Freundschaft zwischen Herrchen und Hund, die auf etwas beruht, was das Überleben in der unerbittlichen Wildnis Alaskas voraussetzt.
Vertrauen.

Quelle: Disney+
Regisseur Ericson Core baut es auf, dieses Vertrauen. In Rückblenden, die hie und da die Hauptstory unterbrechen und den Erzählfluss etwas zu bremsen drohen. Das stört kaum. Zu schön die von Core eingefangene, frühlingshafte Prärie Alaskas, wo die Vorgeschichte spielt. Zu unter die Haut gehend die Musik des weitestgehend unbekannten Komponisten Mark Isham, der bisher kaum von sich hat hören lassen. Zumindest nicht im Mainstream.
Isham versteht es, die lockeren Momente der Rückblenden, die einen verspielten, aber beharrlichen Togo zeigen, mit der Schwere und schieren Aussichtslosigkeit der Mission zu kombinieren. Keine einfache Aufgabe. Den Ton verfehlt Isham nie. Meist klingt er melancholisch; die Streicher düster und tief. Oft nur eine einzelne Violine, die den Ton angibt. Selten klingt Ishams Werk heiter, oder gar euphorisch.
Und wenn das geschieht, dann entfaltet «Togo» eine unheimliches, geradezu ansteckendes Hochgefühl.
Etwa in der im Trailer bereits gezeigten Szene, in der der rauhe, pragmatische Norweger Seppala realisiert, dass sein eigentlich für viel zu klein gehaltener Schlittenhund eben gar kein Schlittenhund, sondern Leithund ist.
Entsprechend der Titel im Soundtrack: «To Lead».
Zusammen flechten Isham und Core – der eben nicht nur Regisseur, sondern auch Kameramann ist – eine Story, das Leonard Seppala und Togo in den Mittelpunkt rückt. Nichts daran ist innovativ. Dafür umso effektiver. Zugänglicher.
Auf der einen Seite Seppala, ein rauer, vom Leben gezeichneter Norweger, der die wahre Natur des kleinen vierbeinigen Teufels, den er zunächst Satan nennt, zuerst entdecken muss. Auf der anderen Seite der unterschätzte Satan, der wegen seines geringen Gewichts und seiner kleinen Körpergrösse als Schlittenhund nichts tauge – schon gar nicht in der kargen Landschaft Alaskas. Doch dann durchdringt er die undurchdringlichen Schalen des pragmatischen Seppala.
«Er hat ein wahres Kämpferherz. Ich nenne ihn Togo. Der Name eines Underdogs für einen Underdog», so Seppala.

Quelle: Disney+
Tatsächlich war der japanische General Tōgō Heihachirō genau das – ein Underdog. Aber in Konflikten mit der chinesisch-britischen Marine und später mit den Russen hatte er sich anfang 19. Jahrhundert bald schon einen Namen als genialer See-Stratege gemacht. Später brachte er es gar zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen japanischen Flotte – zum Erstaunen vieler, auch des Kaisers.
«Er besitzt sehr viel Persönlichkeit und ist als Mann mit viel Glück bekannt», so Marineminister Yamamoto bei Tōgōs Ernennung zum Oberbefehlshaber.

Quelle: Disney+
Es ist, als ob Seppala gewusst hatte, dass sein Leithund Jahre später genau diese Eigenschaften brauchen würde, sollte er sich beim Serum Run Chancen ausrechnen wollen. Und so Klischeebehaftet das hier alles klingt – «Togo» fühlt sich nie so an.
Zu keiner Sekunde.
Die Kunst des Willem Dafoe
Schuld daran ist Schauspieler Willem Dafoe. Der braucht nicht viel, um eine emotionale Brücke zwischen uns und seinen Schlittenhunden zu bauen. Und noch weniger, um uns das Gewicht der Bürde, die das Dorf Nomes auf seine Schultern legen will, spüren zu lassen.

Quelle: Disney+
Ein ruhiger Gesichtsausdruck hier. Ein schweres Schnaufen da. Ein Wortgefecht mit der von Julianne Nicholson eindringlich gespielten Ehefrau Constance dort. Es geht um das Schicksal von Kindern. Um das rettende Serum, das in Nenana wartet. Aber auch um das Schicksal Seppalas Schlittenhunde. Seines Leithunds. Seines eigenen Lebens. Um das Zurücklassen seiner Frau.
Und um seinen Ruf, der Beste zu sein. Ein kleines bisschen, zumindest. Auch das macht Charakterzeichnung aus.
Dabei ist «Togo» kein Film, der Dafoe je eine Oscar-Nominierung einbringen wird. Aber Dafoe ist ein Schauspieler, dem du in jeder Szene ansieht, warum er viermal für eine goldene Statuette nominiert wurde. Niemals hätte er sich für einen Disney-Film hergegeben, hätte das Drehbuch bestenfalls Disney-Channel-Niveau gehabt.
Ich hätte es besser wissen sollen, all die Monate, die ich den Film gemieden hatte.

Quelle: Disney+
Wie gut Dafoe dem Film tut, wie geerdet und unklischeehaft das Geschehen dank ihm wirkt, ist in jener Szene am Abend vor dem womöglich verhängnisvollen Rennen gegen die Zeit zu sehen, als er zu «seinem» Togo sagt:
«You got one more in you, pup?» – «Hast du noch einen weiteren Lauf in dir, Junge?»
Dann ein tiefer Blick in die Augen des 12-jährigen Leithundes. Sie sind beide alt. Zu alt.
Seppala braucht keine Sprache, um die Antwort zu kennen. Genauso gut könnte es aber Togo sein, der in den Augen seines Herrchens nach derselben Antwort sucht. Denn es geht nicht darum, wann sie Nenana erreichen. Es geht darum, ob sie Nenana erreichen. Der tödlichste Wintersturm seit Jahrzehnten kennt keine Gnade. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann sie.
Mensch und Hund legen ihr eigenes Leben in die Hände und Pfoten des anderen. Musher vertraut Leithund. Leithund vertraut Musher. Das ist es, was Vertrauen bedeutet.
Die Entscheidung, den Widrigkeiten zu trotzen, fällt in tiefster Nacht. Das Schneegestöber ist bereits undurchschaubar. Der Wind grausam. Die Kälte dringt durch Fell und Mantel. Ist bis auf die Knochen zu spüren. Minus 50 Grad Celsius. Gefühlt gar kälter.
Ein 20-Jahres-Tiefwert.

Quelle: Disney+
Noch bevor die Sonne aufgeht, startet das Gespann den Serum Run.
Die Würdigung einer Heldentat
Es wäre unfair, alles Gute am Film nur an Dafoes Schauspiel festzumachen. Tatsächlich trägt auch die Regie des Ericson Core zum grossartigen Gelingen des Films bei. Nicht nur, wenn die grandiosen Bilder die gleichsame Schönheit und Grausamkeit des Wintersturms zeigen. Es sind vor allem die Actionpassagen, die «Togo» unfassbar packend machen.
Etwa beim Überqueren des zugefrorenen Sunds. Oder dem Bewältigen der höchsten, von Schneestürmen umwobenen Gipfel, urplötzlich auf einen horrenden Abgrund schlitternd.
Core gelingt es dabei spielend leicht, den Heldenmut und die Übermenschlichkeit von Musher und Tier rüberzubringen. Etwa durch geschickte Kameraeinstellungen. Greenscreen, wo nötig und sinnvoll. Aber hauptsächlich durch das ausgesprochen gut trainierte Gespann an Hunden, das bis auf eine einzige Szene nie computeranimiert ist.

Quelle: Disney+
Gerade letzteres ist ein Fakt, den ich immens zu schätzen weiss. Wer sich im Filmbusiness ein wenig auskennt, weiss: Nichts ist schwieriger als die Arbeit mit Tieren. Geschweige denn mit einem ganzen Gespann an Tieren.
Gerade aus dem Grund etwa ist beim fast zeitgleich erschienenen «Call of the Wild» mit Harrison Ford in der Hauptrolle die Entscheidung gefallen, den Hund komplett am Computer zu animieren.
Schlechte Entscheidung.
Core geht den ganzen Weg. Scheut keine Mühen. Und wird belohnt: Was auch immer für Stunts in «Togo» zu sehen sind. Jede Anstrengung. Jede Gefahr. Jedes Winseln und Flehen. Es ist echt. Geht unter die Haut. Berührt. Lässt kein Auge trocken.
Es ist die Würdigung einer Heldentat.
Mehr noch: Es ist, als ob ich am eigenen Leib die Kälte, die drohende Ohnmacht und die Verzweiflung, die Hunde und Hundeschlittenführer an ihre Grenzen und darüber hinaus gepeitscht haben, spürte. Meistens bloss, um das nächste Road House zu erreichen. Geführt von Einheimischen – Innuit und Indianer, unbesungene Helden der Reisenden –, wo Wärme, Rast und Verpflegung wartet.
Und irgendwo dazwischen Seppala und Togo – eine warme Schneise in der kalten Landschaft. An Symbolik mangelt es dem Film nicht.
Fazit
Ich werde dir nichts vorwegnehmen. Nur, dass ich Disney nicht mehr zugetraut hatte, Filme zu machen, die tatsächlich düster sind. Die melancholisch stimmen. Ein wenig traurig sogar. Aber trotzdem voller Energie, Heldenmut und Hoffnung stecken.

Quelle: Disney+
Nein, «Togo» ist kein Film des Jahrhunderts. Vielleicht nichtmal des Jahres. Ausser für mich. Irgendwas in mir will, dass «Togo» mehr Aufmerksamkeit bekommt, als ihm vergangenes Jahr zugestanden wurde. Gerade gegen den damals im Kino startenden «Call of the Wild» ging «Togo» als Underdog ins Rennen – zu unrecht.
Aber genau wie im Film ist es schlussendlich der Underdog, der alle überrascht und eines Besseren belehrt. Mich eingenommen.
«Togo» ist seit Dezember 2019 auf Disney+ zu sehen. Das «Time»-Magazine hat Togo, den Hund, anno 2011 zum heldenhaftesten Tier aller Zeiten gekürt.
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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»