«Im Tantra geht es um Liebe, nicht um Sex»
Wenn du beim Wort Tantra gleich an einen innigen Liebesakt denkst, dann geht es dir wie vielen. Im Gespräch mit Tantra-Lehrerin Mahara McKay wird schnell klar: Da steckt so viel mehr dahinter. Ein Versuch, das Thema greifbar zu machen.
Leben ist Sex und Sex ist Leben. Dieses tantrische Grundprinzip lässt sich zwar in einem Satz niederschreiben, ist aber komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Denn im Tantra, einer indischen Lebensphilosophie, geht es, anders als uns die Medien häufig weismachen wollen, nur zu einem Bruchteil um Sex. Und gleichzeitig dreht sich alles im Tantra um Sex. Verwirrt? Geht mir genauso. Mahara McKay ist Tantra-Lehrerin und erklärt mir in einem Gespräch, was es mit diesem Widerspruch auf sich hat.
Let's talk about Sex
Die Definition von Sex spielt im Tantra eine entscheidende Rolle. «In der westlichen Kultur verstehen wir darunter den Geschlechtsakt. Im Kontext von Tantra hat das Wort eine andere Bedeutung: Ein ständiges Liebe machen, das zwar das Körperliche miteinschliesst, sich jedoch nicht darauf beschränkt. Wer Tantra praktiziert, macht in allem, was er tut, Liebe», erklärt Mahara. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb viele Tantra fälschlicherweise nur auf das Eine reduzieren. Hier scheint in der Übersetzung etwas schief gelaufen zu sein. Tatsächlich beschäftigt sich Tantra laut Mahara nur zu etwa acht Prozent mit unserem Verständnis von Sexualität. «Was Tantriker als Sex bezeichnen, ist die Anziehungskraft zwischen zwei Polen. Eine Art Magnetismus, den du zum Beispiel beobachtest, wenn eine Biene eine Blume bestäubt, oder beim Ein- und Ausatmen. Das Eine kann nicht ohne das Andere.»
Von Sinnen
«Tantra ist eine andauernde Meditation. Es geht darum, stets im Hier und Jetzt zu sein und alles, was du tust, mit all deinen Sinnen wahrzunehmen», sagt die 39-Jährige. «Wenn wir heutzutage jemanden daten, reduzieren wir unser Gegenüber auf das, was wir im ersten Moment visuell wahrnehmen. Wie ist die Person angezogen? Wie sieht sie aus? Und schon stecken wir sie in eine Schublade. Unsere anderen Sinne lassen wir aussen vor. Wer geht schon zu jemandem hin und riecht an ihm oder ihr. Wer hört genau hin, wie die Stimme klingt? Im Tantra ist es wichtig, alle Sinne zu schärfen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und sie bei vollem Bewusstsein zu nutzen.»
Tantra in einer Partnerschaft
Mit allen Sinnen wird auch geliebt. «Würden wir den Menschen symbolisch in drei Arten von Körpern aufteilen, dann hätte er einen physischen, einen emotionalen und einen energetischen. Bei der sogenannten Sacred Sexuality geht es darum, deinen Partner gesamthaft zu lieben und all diese Aspekte miteinzubeziehen.» Anders gesagt: Du liebst nicht nur die schönen Augen oder das lange Haar, sondern auch die Hakennase, jedes Fältchen, Fettpölsterchen und die Macken. «Du fühlst die Energie dieses Menschen und nimmst alles an, was er auf den Tisch bringt.» Für den Liebesakt heisst das: Licht an statt Licht aus und sehen, riechen, schmecken, hören, fühlen, was du berührst.
Wer Tantra richtig versteht, der kann die Lehren auch auf das Sexualleben anwenden, sagt Mahara. «Auf diese Weise fühlt sich der gesamte Liebesakt orgasmisch an. Nicht nur der Höhepunkt selbst. Es gibt dabei kein Ziel und Zeit spielt keine Rolle.» Dadurch lässt sich der Akt über Stunden hinweg ausdehnen. «Du kannst dieses Gefühl – nennen wir es einen energetischen Orgasmus – auch beim Abwaschen oder in der Sonne liegend erleben. Dabei vibriert dein ganzer Körper, ohne, dass du oder sonst wer dich berührt.»
Was sich simpel anhört, ist eine Kunst. Sie zu beherrschen kann, muss aber nicht, ein langer Weg sein. «Viele geben zu früh auf. Sie sind nicht bereit, sich selbst zu konfrontieren, an sich zu arbeiten und die Opferrolle hinter sich zu lassen. Im Tantra sind deine Persönlichkeit, deine Denkweise und Ehrlichkeit mit dir selbst zentral. Das ist beängstigend. Kein Klammern, Projizieren oder Manipulieren. Es geht um Freiheit, ums Loslassen und Geben, ohne etwas dafür erhalten zu wollen. Du darfst keine Erwartungen haben.» Das alles braucht viel Geduld und Verständnis mit und für sich selbst. Mahara erklärt, dass es gerade in einer Partnerschaft wichtig ist, sich Fehler einzugestehen. «Nur wenn alle Parteien sich stets verbessern wollen und ihnen bewusst ist, dass sie an sich selbst arbeiten müssen, ohne die Fehler ständig beim Partner zu suchen, können sie sich als Person und Paar in der Beziehung weiterentwickeln. Ehrlichkeit, Dankbarkeit, gegenseitiges Verständnis, Vergebung und Respekt sind die Grundpfeiler. Eine Beziehung ist ein Balanceakt.»
Ein grosses Puzzle
Sich selbst ins Gleichgewicht bringen, darum geht es. Das schliesst Körper und Geist mit ein. «Begriffe wie Mindfulness und Awareness kannst du mit Tantra gleichstellen. Es geht bei allem um dasselbe», sagt sie. «Wer nach Tantra lebt, hält nicht nur seinen Geist fit und gesund, sondern auch seinen Körper. Zum Beispiel mit Ayurveda und Yoga. Alles ist Teil von Tantra. Yoga zum Beispiel wurde ursprünglich, nebst der Absicht, den Körper gesund und flexibel zu halten, praktiziert, um den Körper auf die Meditation vorzubereiten.» Wie du dich fit hältst, spielt jedoch keine Rolle, ergänzt Mahara. «Es muss nicht Yoga sein. Finde heraus, was dir Spass macht und gebe Acht auf deinen Körper. Denn das Erste, was du im Tantra lernst, ist liebevoll mit ihm umzugehen.»
Tantra schliesst also jeden Aspekt unseres Lebens mit ein. Wenn dir jetzt, wohlwissend, dass wir nur den kleinen Zehen ins Wasser halten, der Kopf raucht, verstehe ich das. Aber vergiss nicht: Wenn alles Hand in Hand geht und miteinander verwoben ist, dann reichen auch kleine Baby-Schritte am Anfang aus, um etwas zu bewirken. Mahara betont: «Bereits durch einfache Übungen, kannst du viel über dich und deinen Partner lernen. Mit Ausprobieren verstehst du am schnellsten, was Tantra ist.»
Welche Beginner-Übungen das sind und wie du sie am besten umsetzt, erfährst du im nächsten Beitrag. ☀️
Fotos: Mahara McKayAls Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich.