Macht, Rebellion, Leidenschaft: Die Geschichte des roten Fadens
Rote Kleidung wird seit Jahrtausenden als nonverbales Kommunikationsmittel verwendet. Eine kleine Reise durch die Geschichte der Farbe Rot in der Mode – vom ersten gefärbten Textil bis hin zum aktuellen Hype.
An den Ursprüngen der menschlichen Kreativität steht die Farbe Rot – und ein Warzenschwein. Vor über 45’000 Jahren malten Menschen das Tier mithilfe roter Ockerpigmente an eine Felswand der indonesischen Leang-Tedongnge-Höhle und schufen damit die älteste bekannte Höhlenmalerei. Rot markiert jedoch nicht nur die Anfänge der Malkunst, sondern auch der Textilfärberei. Der älteste Befund eines gefärbten Textils führt uns in die Neusteinzeit, genauer gesagt in eine der ersten Grossiedlungen der Weltgeschichte: Çatalhöyük. Hier, in der heutigen Türkei, wurden Textilreste mit Spuren roter Pigmente ausgegraben. Sie belegen, dass der Mensch seit rund 8000 Jahren Stoffe färbt.
Der teuerste Farbstoff der Welt
«Rotpigmente hat der Mensch in der Vergangenheit aus Mineralien, Pflanzen wie Krapp und sogar Tieren gewonnen», erklärt Dozentin Andrea Krieg, die an der STF Schweizerischen Textilfachschule unter anderem das Modul «Fashion History» unterrichtet und den Studiengang Fashion Stylist/in leitet. Die Cochenilleschildlaus beispielsweise wurde schon vor Christus auf dem amerikanischen Kontinent als Färbemittel für ein kräftiges Rot genutzt. Im 16. Jahrhundert brachten die Spanier das Insekt nach Europa. Noch heute wird der daraus gewonnene Farbstoff Karmin häufig verwendet. Jedoch hauptsächlich in der Lebensmittel- und Kosmetikindustrie, wie die Dozentin erklärt: «In der Textilbranche werden heutzutage vor allem synthetische Farbpigmente eingesetzt.»
Dank der Erfindung von synthetischen Farbstoffen während der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Zugang zu farbigen Textilien einer breiteren Masse möglich. Zuvor waren rote Kleidungsstücke lange Zeit den Reichen vorbehalten. Noch immer ist der teuerste Farbstoff der Welt übrigens ein Rotton: Echter Purpur, ein sattes Rotviolett, wird aus Purpurschnecken gewonnen und kostet pro Gramm mehrere Tausend Franken. Im alten Rom war es nur dem Kaiser erlaubt, die kostbare Farbe zu tragen. Priester, Senatoren und sogenannte Eques, grob gesagt Angehörige der Reiterklasse, hatten ausserdem das Privileg, sich einen Purpurstreifen an ihre Toga binden zu dürfen. «Damals verfestigte sich die Idee der Farbe Rot als Indikator für einen hohen Rang und Status in der Gesellschaft», erklärt Andrea Krieg.
Kardinäle und Königinnen
Im Mittelalter waren satte Rottöne nicht bloss teuer, sondern auch schwer zu verarbeiten. Nur professionelle Färber beherrschten das Handwerk. Somit wurde tiefrote Kleidung hauptsächlich von Wohlhabenden und vom Klerus getragen. Im Christentum steht Rot für das Blut und die Passion Christi. Das ist noch heute so: Kardinäle tragen Rot, Bischöfe Magenta. Krieg fügt hinzu: «Die Oberschicht wollte sich anhand ihrer Kleidung vom gemeinen Volk abheben. Durch Erlasse versuchten die Mächtigen bis ins späte Mittelalter zu kontrollieren, wer was tragen durfte. Diese Gesetze variierten interessanterweise von Stadt zu Stadt.»
Quelle: Christian Walker
In den folgenden Jahrhunderten blieb Rot eine beliebte Farbe für die Herrschenden. Sie strahlte Dominanz und Reichtum aus. Königinnen und Könige liessen sich gerne darin abbilden. Von Königin Elisabeth I. mit ihren prächtig bestickten roten Kleidern bis hin zu Sonnenkönig Louis XIV. mit seinen roten Absatzschuhen und Strumpfhosen. Rote Strümpfe waren bei den Männern des 17. Jahrhunderts übrigens besonders beliebt. Auch aktuell erlebt das Kleidungsstück wieder einen Hype – diesmal mehrheitlich in der Frauenmode.
Revolution und Erotik
Als die Monarchien in Europa ab Ende des 18. Jahrhundert ins Wanken kamen, wurde Rot vermehrt auch mit Rebellion in Verbindung gebracht. Sowohl während der französischen als auch der russischen Revolution hatte die Farbe einen starken Symbolcharakter. Dieser rebellische Geist fand später Ausdruck in den Subkulturen des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Punkbewegung.
Quelle: Christian Walker
Auch die Filmbranche griff die Symbolik auf. James Dean etwa hat sich in «Denn sie wissen nicht, was sie tun» als rebellischer Teenager in ikonischer roter Jacke ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt. Tief in der zeitgenössischen Popkultur verankert ist zudem die Trope der Frau in Rot. Sie steht für Charisma, Sinnlichkeit und Verführung. In «Matrix» repräsentiert die Frau in Rot ganz in diesem Sinne eine gefährliche Ablenkung. In «Pretty Woman» stellt die Szene mit dem roten Abendkleid einen Schlüsselmoment in der persönlichen Entwicklung von Protagonistin Vivian Ward dar: Sie hebt nicht nur die äussere Verwandlung der Sexarbeiterin hervor, sondern auch ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen und soziales Ansehen.
Quelle: Warner Bros. Pictures
Quelle: Warner Bros. Pictures
Rot regt unser Nervensystem an
Rot erweckt also zahlreiche einprägsame Assoziationen. Ein roter Faden zieht sich jedoch durch die Jahrtausende alte Geschichte der Farbe: Sie steht für intensive Emotionen. Andrea Krieg erklärt: «Rottöne mit starker Sättigung sind laut. Sie nehmen viel Raum ein. Das macht sie zu einem kraftvollen nonverbalen Kommunikationsmittel, das Aufmerksamkeit erregt und starke Gefühle auslöst.»
Modepsychologin Shakaila Forbes-Bell liefert in ihrem Buch «Big Dress Energy» eine wissenschaftliche Erklärung dafür. Farben sind unterschiedliche Wellenlängen des sichtbaren Lichtspektrums. Rot ist dabei die langwelligste Farbe. Die Autorin beschreibt, dass langwellige Farben das autonome Nervensystem (ANS) stimulieren. Dessen Aufgabe ist es, unsere Blutgefässe und internen Organe zu regulieren. Das sympathische und parasympathische Nervensystem arbeiten als Teil des ANS zusammen, um unsere Körperaktivität zu erhöhen oder zu verlangsamen – dieser Vorgang geschieht unbewusst und hat grossen Einfluss auf unser Entspannungs- und Stresslevel.
Quelle: Keystone/AFP/Angela Weiss
Langwellige Farben, insbesondere Rot, aktivieren dabei das sympathische Nervensystem und bringen unseren Körper in Fahrt. Sie können einen geselliger, extrovertierter und energetischer fühlen lassen. Forbes-Bell verweist zudem auf Studien, die gezeigt haben, dass sich rote Kleidung positiv auf die Leistung von Athletinnen und Athleten auswirken kann und Menschen attraktiver erscheinen lässt.
Auffällig aber stets klassisch
Doch so ausdrucksstark Rot auch sein mag – die Farbe ist unbestritten klassisch. Trotz ihrer auffälligen Natur wird sie aktuell von minimalistischen Brands wie The Row oder Ferragamo gerne als Statementfarbe genutzt. Sogar Designer Yohji Yamamoto, der mehrheitlich mit Schwarz arbeitet, setzt hin und wieder knallrote Farbakzente. Dass Rot die Buntfarbe der Wahl eines Mannes ist, der Trends verabscheut, sagt viel über ihren zeitlosen Charakter aus.
Kaum ein Designer ist jedoch so bekannt für seine Liebe zu Rot wie Valentino Garavani. Der 91-jährige Italiener stieg in den 60er-Jahren in der Modeszene auf und kreierte sogar seinen eigenen Rotton: Valentino Rosso. 2022 kam ein gleichnamiges Buch heraus, das die Arbeit des Modehauses Valentino mit der Farbe dokumentiert. Darin wird unter anderem beschrieben, wie Garavani in jungen Jahren während eines Besuchs der Oper «Carmen» realisierte: Nebst Schwarz und Weiss gibt es keine bessere Farbe als Rot. Sie sei stark, aber gleichzeitig neutral, so Garavanis Ansicht. Sie stünde für Leben, Leidenschaft und Liebe. «Es ist ein Heilmittel gegen Traurigkeit», soll der Modeschöpfer einst gesagt haben.
Quelle: Launchmetrics/Spotlight
Quelle: Launchmetrics/Spotlight
Ob die Farbe gerade deshalb in unsicheren Zeiten wie diesen wieder mehr Präsenz in der Mode geniesst? «Ich kann mir vorstellen, dass ein klassisches Rot für viele Menschen eine gewisse Stabilität und Sicherheit ausstrahlt», überlegt Krieg. «Sattes Rot ist eine leicht verständliche Farbe. Wir alle wissen, was darunter zu verstehen ist. Es ist ein klarer, vertrauter Ton.»
Diese zwei Bücher dienten als Quelle für den Text:
Geschichte der Mode vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Deutsch, Kyoto Costume Institute (KCI), 2019
Dieser Beitrag ist im Rahmen unserer Sonderwoche zum Thema «Rot» entstanden. Sieben Tage, sieben Beiträge. Mehr Infos dazu und alle bisher erschienenen Artikel liest du hier nach:
Hat grenzenlose Begeisterung für Schulterpolster, Stratocasters und Sashimi, aber nur begrenzt Nerven für schlechte Impressionen ihres Ostschweizer Dialekts.