«Manchmal scheint es mir, als gäbe es im Kino nur noch Sequels, Prequels und Neuauflagen»
Marianne Hegi führt das erste und einzige Kino im Kanton Uri. Ihr Grossvater Willy Leuzinger war einer der ersten, der 1906 das Potenzial des projizierbaren Films erkannte. Eine Familiengeschichte, die eng mit dem Schweizer Kino verwoben ist.
«Ich dachte, ihr hättet Angst, hereinzukommen», sagt Marianne Hegi etwas leise, aber dennoch bestimmt, als Fotograf Tom und ich durch eine Glastür in ihr Kino eintreten.
Fünf Minuten zu früh standen wir vor dem 60er-Jahre-Bau, der auf den ersten Blick so wirkt, als hätten sich zwei Gebäude ineinander verheddert. Das einende Flachdach lässt normalerweise einen unverbauten Blick auf die Berge zu, heute aber verschleiern Wolken das Panorama. Dafür kommen die roten Lettern, die an zwei Seiten der beigen Betonfassade prangen, besser zur Geltung: «Cinema» verläuft serifenlos von oben nach unten, «Leuzinger» in Schnürlischrift von links nach rechts. Darunter tragen zwei Pfeiler ein Vordach, das Mensch und Filmplakate vor Wind und Wetter schützen soll. Gerade aktuell: «Top Gun», «Jurassic World» und «Lightyear».
Die 77-jährige Kinobesitzerin leitet uns vom Kassenhäuschen in Richtung Kiosk und offeriert auf dem kurzen Weg Kaffee. Während mein Espresso aus der Kapselmaschine surrend in die Tasse rieselt, breitet Frau Hegi auf der Granitabdeckung des Tresens bereits schwarzweisse Ausdrucke im A3-Format aus, die die Geschichte des Familienunternehmens dokumentieren.
Ein Film kostete Getränke-Aufpreis statt Eintrittsgeld
Das erste Bild zeigt das Restaurant «Zum Hecht» in Rapperswil, den Ort, an dem alles begann. 1906 montierte Willy Leuzinger dort den ersten Pathé-Projektor, nur elf Jahre, nachdem die Gebrüder Lumière den «Cinématographe» zur Vorführung projizierbarer Filme überhaupt erfunden hatten. Die Filme wurden samstags und sonntags auf einem weissen Leintuch vor etlichen Neugierigen abgespielt. An solchen Abenden kostete das Bier 20 statt 15 Rappen, an Eintrittsgeld war zu dem Zeitpunkt noch nicht zu denken, die Kinotechnik war etwas Experimentelles, beinahe Ketzerisches. Selbst im grossen Zürich wurde die erste städtische Kinolizenz erst 1907 an Jean Speck ausgestellt.
Ganz anders heute. Der Glanz des Kinos ist ermattet. Die Corona-Pandemie hat ihren Teil dazu beigetragen. Streamen ist gemütlicher. «Wir Kinobetreiber haben Mühe, die Leute wieder in unsere Säle zu bringen.» Seit dem Abschluss der Umbauarbeiten des «Cinema Leuzinger» im Jahr 2008 gibt es noch 294 statt 438 Plätze, weil sich die Beschwerden häuften. Zu unbequem seien die alten Kinosessel, zu wenig Beinfreiheit böten sie. « Aber die Anzahl reicht längstens», sagt Frau Hegi ohne Unmut in der Stimme.
Sie blättert zum zweiten Bild, es zeigt ein grosses, reich verziertes Zelt inmitten einer Menschentraube. «Das war das Wanderkino.» Zwischen 1916 und 1943 tingelte die Familie in der Ostschweiz von Chilbi zu Chilbi. Nach Vorbild des Zirkusses seiner Freunde und treuen Stammkunden Knie, nannte Willy Leuzinger es «Kino National». Dadurch knüpfte der Grossvater viele Beziehungen, die ihm die Gründung neuer Kinos ermöglichten – und auch den Grundstein für das «Cinema Leuzinger» in Uri legten. Eröffnet wurde es erst knapp dreissig Jahre nach seinem Tod von seinen Töchtern, die auf dem dritten Bild zu sehen sind.
In der Schule macht sie sich nicht beliebt
«Sie waren schon seit früher Kindheit in das Familienunternehmen involviert. Meine Mutter zum Beispiel begleitete die Filme im ‹Hecht› oft auf dem Klavier, denn der Tonfilm kam ja erst 1927 mit ‹The Jazz Singer› auf.» Eine Generation später half Frau Hegi als Teenagerin regelmässig an der Kasse aus. «Ich wurde ständig von Klassenkameradinnen gefragt, ob ich sie nicht ins Kino schmuggeln könne.» Damals nämlich war der Zutritt zum Kino erst ab 18 Jahren erlaubt – ausser es liefen spezielle Kindervorführungen. «Ich musste meine ganze Schule abweisen. Da machst du dich natürlich wahnsinnig beliebt», sagt sie und lacht für einmal ganz laut. Augenscheinlich ein Kontrast zu der ruhigen Person, die uns mit gewählten Worten und perfekt sitzender Frisur durch ihr Kino führt.
Doch Frau Hegi weiss, was sie will. 1980 übernimmt sie in dritter Generation das Familienunternehmen, nachdem sie zunächst einen ganz anderen beruflichen Weg eingeschlagen hatte. «Ich habe die Handelsschule gemacht und dann in Zürich in einem Antiquariat und zehn Jahre bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Als dann innerhalb eines halben Jahres meine Tante und mein Vater starben, musste eine Nachfolge her.» Mit einer solchen Familiengeschichte könne man die Kinos nicht aus der Hand geben, habe sich Frau Hegi damals gedacht und umgesattelt.
Bis 2010 führte sie – die ersten zwanzig Jahre gemeinsam mit ihrer Mutter – zusätzlich zum Kino in Altdorf auch noch zwei Leuzinger-Kinos in Rapperswil. Dann wurde der Film endgültig digital. «Die Verleiher haben sofort aufgehört, 35-mm-Kopien zu ziehen, weil die natürlich viel teurer waren.» Doch die Umrüstung konnte sie sich nicht für alle drei Kinos leisten. «Also beschloss ich, in das Kino zu investieren, das mir gehörte und das ich gerade erst renoviert hatte. Die anderen zwei werden bis heute verpachtet.»
Memorabilia aus dem Goldenen Zeitalter des Kinos
Trotzdem steht in der Vorführkabine – sie ist über eine Treppe, die verborgen hinter einer mit einem Filmplakat beklebten Tür liegt, zu erreichen – noch immer ein 35-mm-Projektor. «Den habe ich mir bei besagtem Umbau im Jahr 2008 neu angeschafft. Das Geld hätte ich mir im Nachhinein sparen können.»
Immerhin für uns ist die Zeitreise ihr Geld wert. Ein Sideboard mit schmalen, aber hohen Fächern diente früher zur Aufbewahrung der einsatzbereiten Filmrollen. An der Wand dahinter hängt eine Art Klingelschild, doch statt der Nachnamen der Nachbarn stehen darauf Begriffe wie «lauter», «leiser» und «Bildstrich». Unten im Kinosaal hängt dasselbe Schild, so konnte kommuniziert werden, wenn etwas mit dem Film nicht stimmte. Auch ein Reparaturgerät, gedacht für den Fall, dass einmal eines der 600 Meter langen Filmbänder reissen sollte, steht noch in der Ecke. Filme einspannen, leicht überlappen lassen, Tesa darüber, fertig. «Bei 24 Bildern pro Sekunde sah das niemand», sagt Frau Hegi.
Der Digitalfilm habe zwar vieles vereinfacht, jedoch auch einen grossen Nachteil gehabt. «Ich empfand die Filme auf einmal alle so flach.» Aber auch vor der Umrüstung konnte sie die Vorstellungen im eigenen Kino nicht geniessen. «Ein normaler Film hatte eine Länge von 2800 bis 3300 Metern, auf die Rollen passten 600 Meter. Also musste mit zwei Projektoren gearbeitet werden. Sobald auf der Leinwand ein grüner Punkt zu sehen war, musste der Vorführer bereit sein, um auf die nächste Rolle zu wechseln.» War jemand nicht bei der Sache, sei es vorgekommen, dass diese Überblendung verschlafen wurde und kurz ein weisses Bild zu sehen war. «Mir ist das selbst schon passiert, deshalb war ich im Saal immer nervös.»
Heute entscheidet Frau Hegi selbst, dass sie lieber nicht im eignen Kinosaal sitzt. Als Kind wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Sie habe zwar bis 20.30 Uhr an der Kasse arbeiten müssen, selbst aber nur Kinderfilme schauen dürfen. «Alle Mitarbeitenden der Leuzinger-Kinos hatten die strikte Anweisung, uns Kinder sofort rauszuwerfen, sollten wir uns in den Saal schleichen wollen.» Hätten das ihre Schulkameraden gewusst, hätten sie ihr kaum öfter neidisch «Kino-Prinzessin» hinterhergerufen. «Mir schien es manchmal richtig unfair, dass ich als Tochter von Kinobetreibern keinen Vorteil hatte. Trotzdem habe ich es bei meinen Kindern wieder genau gleich gehandhabt», erzählt sie ungeniert und lacht, während sie ihren feuerroten Blazer zurecht zupft.
Den Pioniergeist des Grossvaters trägt auch Frau Hegi in sich
Neben der Wahl der Warnfarbe ziehen auch all die Projekte, die Frau Hegi angerissen hat, Aufmerksamkeit auf sich. Mit ihrem 1990 gegründeten Open-Air-Kino war sie die Erste, die den Rapperswiler Hauptplatz bespielen durfte. Gezeigt wurden vor allem Studiofilme – Frau Hegis Lieblingsfilmrichtung. «Die Verleiher haben mir gesagt, dass ich doch nicht solch anspruchsvolle Filme an einem Open-Air zeigen könne, ich war da aber anderer Meinung.» Und sie sollte recht behalten. «Ein Jahr später haben mir dieselben Verleiher gesagt, dass sie noch nie solche Zuschauerzahlen bei Studiofilmen gesehen hätten.»
Und auch heute funktioniere das Konzept noch. Von Oktober bis Mai steht jeden Mittwoch ein Studiofilm auf dem Programm, damit neben der leichten Blockbuster-Kost auch Filme mit künstlerischem Anspruch oder komplexen Themen zu sehen sind. Ein Credo, das schon für Grossvater Willy Leuzinger galt. Er drehte gar selbst Filme über lokale Ereignisse wie Turnfeste, Chilbis, Fasnacht und Beerdigungen, die heute als kulturelle Dokumente des öffentlichen Lebens gelten.
Das verbindet Willy Leuzinger mit den meisten Schweizer Regisseuren. Auch sie drehen mit Vorliebe nicht-fiktionale Filme. Und sie halten die Premieren mit Vorliebe in Altdorf ab. Denn im Kanton Uri laufen diese besonders gut. «Als ich das Kino nach dem Umbau 2008 wiedereröffnete, war einer der ersten Filme, der lief, «Bergauf, Bergab» von Hans Haldimann, der das Leben einer Bergbauernfamilie in Uri dokumentierte.» Die Menschen kamen in Scharen, Frau Hegi bekam gar Anrufe von Bergbauern von der Alp. «Sie wollten wissen, ob sie den Film auch noch im Oktober schauen könnten, wenn sie wieder im Tal seien.» Am Ende sollte er bis ins neue Jahr, ganze dreissig Wochen, im «Cinema Leuzinger» zu sehen sein. «Ich hätte mir keine bessere Werbung nach der zweijährigen Umbauphase vorstellen können.»
Es gibt zu wenig originelle Ideen im Blockbuster-Kino
Nebst dem Schweizer Film laufen aber vor allem die grossen Blockbuster aus dem Marvel-Universum oder, als jüngstes Beispiel, die Fortsetzung von «Top Gun» sehr gut. Beide nicht nach dem Geschmack Frau Hegis. «Mein Lieblingsschauspieler, fragen Sie? Keine Ahnung, aber sicher nicht Tom Cruise!» Die zwei Filme seien Paradebeispiele für die negative Entwicklung des Kinos. «Manchmal scheint es mir, als gäbe es nur noch Sequels, Prequels und Neuauflagen. Wenn mal etwas funktioniert hat, dann wollen die grossen Studios die Kuh bis zum letzten Tropfen melken.» Etwas verlegen fügt sie an, dass sie sich manchmal fast etwas freue, wenn so eine billige Idee an den Kinokassen scheitere.
Auch, damit Disney, Warner Bros. und Co. zwischendurch mal wieder auf den Boden der Tatsachen kämen. «Vor allem Disney hat das Gefühl, ich als Kinobesitzerin müsse mir nach jedem Film die Finger lecken. Die haben dann Konditionen, die für mich mit einem Saal teilweise fast nicht umsetzbar sind.» Die Verleiher hätten gar kurz einmal die Idee gehabt, dass sie nicht nur an den Billet-, sondern auch den Kioskverkäufen mitverdienen sollten. «Zum Glück gingen die Kinobesitzer auf die Hinterbeine und konnten das verhindern.»
Von seichten Filmen, Popcorn und Putzarbeit
Beim Popcorn gelang die Abwehr nicht. Seit 2015 gibt es den klassischen Kino-Snack auch im «Cinema Leuzinger». «Ich liess die Mitarbeitenden entscheiden, ob wir Popcorn ins Sortiment aufnehmen sollen, da sie sich schliesslich auch um die Reinigung kümmern müssen. Ich bin aber unsicher, ob sie heute noch gleich urteilen würden.» Denn der Mehraufwand sei enorm. Vor allem nach Marvel-Filmen sehe es aus, «wie wenn eine Bombe eingeschlagen hätte», sagt die Kinobetreiberin. «Da die Filme nicht sehr anspruchsvoll sind, haben die Zuschauer genug Zeit, um miteinander zu reden und genüsslich Popcorn zu essen.» Zumindest einen Teil des Kübels, der andere läge in den Gängen, die die dreizehn Mitarbeitenden – alle im Niedrigpensum – dann täglich Staubsaugen müssten.
Die Familiengeschichte endet wohl mit der dritten Generation
Frau Hegi dagegen kümmert sich um die Buchhaltung und die Programmierung. «Bei Studiofilmen ist das oft eine Bauchentscheidung, zum Teil muss ich mir nicht einmal den Trailer anschauen, sondern weiss nur anhand des Kurzbeschriebs, ob der Film zu uns passt.» Nach zweiundvierzig Jahren hat sie dafür genug Erfahrung – und auch noch immer genug Leidenschaft. Fast schon ein wenig aufgeregt erzählt sie, dass im November «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» von Fredi M. Murer und «Der Landschaftsgärtner» von Kurt Gloor im Studioprogramm gezeigt werden, Filme, die sie sehr liebe und die sie exklusiv von Murers Tochter und von Kurt Gloors Witwe bekommen habe. Ihrem guten Ruf bei Schweizer Regisseuren sei Dank.
Es ist eine Leidenschaft für Filmkultur, die weder ihr Mann noch ihre Kinder teilen. «Eine Nachfolge wird es wohl nicht geben», sagt sie ganz nüchtern und rollt am Tresen die A3-Ausdrucke zusammen, die einen Teil ihrer Familiengeschichte zeigen. Gut, dass Frau Hegi ohnehin kein Fan von Sequels ist.
Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.