Maskenschnitzen: Lebendige Tradition aus dem Sarganserland
Hexe, Krampus, Dorforiginal – zur Fasnacht schlüpfen die Sarganserländer in ganz unterschiedliche Rollen. Die geschnitzten Masken sind weltweit bekannt. Entstehen tun sie in stundenlanger Handarbeit, etwa bei Bruno Bless und den Schnitzerfreunden Flums.
Der Bahnhof hat vier Gleise, doch keine Anzeigetafeln. Vom Kiosk scheint kein Weg in die richtige Richtung zu führen. Vor mir sehe ich nur Industriegebäude, leerstehende Parkplätze und trostlose Wiesen. Ein kurzer Blick auf Google Maps hilft weiter. Der Gang durchs Dorf führt an Pizza-Kebab-Kurieren und diversen Coiffeurbetrieben (Coiffeur Barbara, Tamaras Haarbuudä, Coiffeur Hair Fantasy, Coiffeursalon Thomas) vorbei. Ich höre keinen Mucks, in den meisten Wohnungen brennt kein Licht, dabei ist es kurz vor 18 Uhr an einem nasskalten Dienstagabend. Eigentlich Feierabendzeit. Ich erblicke die Kirche, die mir das erste Mal ein Gefühl von Dorfkern gibt. Am Strassenrand steht Bruno Bless, der Grund für meinen Besuch in Flums.
Er soll mir die Tradition des Maskenschnitzens zeigen.
Eine eingewanderte Tradition
Bruno ist der Präsident der Schnitzerfreunde Flums. Ein kurzes «Hallo», dann steuern wir das Untergeschoss des Rathauses an. Hier befindet sich das Sarganserländer Maskenmuseum. 200 zeitgenössische wie auch historische Larven – wie die Masken hier genannt werden – aus allen acht Gemeinden der Region zieren die Kalkputzwände des Gewölbekellers. «Die Tradition geht auf süddeutsche und südtirolerische Schnitzer zurück, die im 19. Jahrhundert sakrale Auftragsarbeiten fertigten. Die Einheimischen waren neugierig und probierten das Schnitzen selbst aus. Als das Sarganserland vor 200 Jahren von einer Hungersnot geplagt wurde, brauchten viele Familienväter einen Nebenverdienst, um ihre Kinder durchzubringen. Sie hackten Holz oder verkauften Larven», erklärt Bruno.
So wurde das Handwerk langsam zur Tradition in der Region. Bruno lebt sie seit über 30 Jahren. Damals war er in der Fasnachtsgesellschaft aktiv, wollte aber nicht nur die Tradition des Larventragens, sondern auch die des Herstellens stärken. 1991 gründete er mit ein paar anderen Flumser Schnitzern die Schnitzerfreunde Flums, wo er seither das Amt des Präsidenten innehat.
Brunos Können lässt sich gleich im Museum bestaunen. Die eine oder andere Larve hat es in die Ausstellung geschafft. Unter anderem das Zahnärztli. «Mein Sohn musste in Chur zur alljährlichen Kontrolle. Im Wartezimmer stand eine kleine rudimentäre Gipsfigur, die einen Zahnarzt darstellen sollte. Ich zeichnete sie ab, weil mir sofort eine Idee für eine Larve kam.» 80 Stunden schnitzt er an dem Gesicht, normal sind 35 bis 40 Stunden. Aus dem Mund des Patienten ragt ein Mini-Zahnarzt hervor, der an einem Eckzahn herumdoktert. «Die Zähne sind von einer Kuh, der Rest ist komplett aus einem Stück Lindenholz geschnitzt.»
Schnitzen, wo früher Fussball gespielt wurde
Der Weg von der Theorie zur Praxis führt einmal quer durchs verschlafene Dorf. Vor 25 Jahren haben die Schnitzerfreunde das alte Clubhaus des FC Flums bezogen und nach rund 3500 Stunden Fronarbeit ihre Werkstatt dort eingerichtet. Draussen, links neben der Eingangstüre, lächeln Gesichter aus dem Stamm einer alten Linde herunter, die schon so einiges erlebt haben müssen. Darauf lassen zumindest die tiefen Furchen schliessen, die sich von der Stirn bis hin zu den Wangen ziehen. «Der Baum wurde gefällt und uns gratis angeboten. So viel Holz kostet sonst ein kleines Vermögen. Nur leider war die Linde von innen komplett morsch, nur der Stamm ist geblieben. Also habe ich immerhin daraus etwas gemacht», erzählt Bruno.
Neben solchen Hobbyarbeiten geben die zehn Mitglieder auch regelmässig Schnitzkurse für Laien. Am Ende soll jede Teilnehmerin eine schöne, fixfertige Traglarve mit nach Hause nehmen können. «Das heisst, dass wir oft knapp die Hälfte der Arbeit durch angebotene Mithilfe übernehmen», sagt Romy. Sie ist seit fünf Jahren dabei und damit das jüngste Mitglied des Vereins – und die einzige Frau. «Ich bin immer auf der Suche nach weiblicher Unterstützung, aber keine meiner Freundinnen hat Lust.»
Am Anfang steht der Bleistift
Schritt für Schritt erklärt sie mir, wie eine Larve entsteht. Sie steht an ihrem Platz – jedes Mitglied hat einen eigenen – und blättert zig Seiten einer bebilderten Anleitung durch, an der sich alle Anfänger orientieren. Als erstes wird markiert. Mit dem Bleistift werden die Gesichtszüge anatomisch korrekt eingezeichnet. «Die Augen werden oft zu hoch angesetzt, da der Haaransatz gerne vergessen wird», wirft Bruno ein. Erst dann kommt das Schnitzwerkzeug zum Einsatz. Mit dem flachen Schnitzeisen wird die Nase angegangen. «Sie markiert den höchsten Punkt des Gesichts, deshalb muss sie zuerst herausgearbeitet werden.» Nach der Nase kommen die Augen, dann die Lachfalten und der Mund. Wenn alles passt, wird ausgehöhlt, damit die Larve auch übers Gesicht passt. «In Schnitzerkreisen pflegt man zu sagen, dass jede Maske mindestens einmal getragen werden sollte», sagt Bruno.
«Beim Schnitzen kann ich alles andere ausblenden und mich nur auf die einzelnen Schnitte konzentrieren», sagt Heiri, der seit 20 Jahren dabei ist und gerade seine Werkzeuge schleift. «Beruflich bin ich Polymechaniker. Das weiche Holz ist ein schöner Ausgleich zum harten Metall.» Das scheinen auch viele andere Mitglieder so zu sehen: Konstruktionsschlosser, Metallschlosser, Feinmechanikerin und Mechaniker sind darunter. Aber nicht nur das einsame Schnitzen, sondern auch die Gesellschaft zieht die Mitglieder jeden Dienstag ins Vereinshaus.
Sie erzählen Anekdoten, reissen Witze übereinander und offerieren mir gleich ein Gläschen hauseigenen Schnitzerfreunde-Schnaps. «Der ist selbstgemischt und die Etikette mit unserem Logo gestaltet», klärt mich Romy auf, bevor in fast kompletter Runde angestossen wird. Nur Beat arbeitet konzentriert an seinem Platz. «Er muss wahrscheinlich Auftragsarbeiten fertig bekommen», meint Bruno.
Die Larven der Schnitzerfreunde sind gefragt. Ihre Werke waren unter anderem schon an der Schweizer Skimeisterschaft der Herren, an Schwingeranlässen und an der internationalen Maskenausstellung in New Delhi. «Unterdessen sind meine Larven mindestens einmal auf jedem Kontinent vertreten», erzählt Bruno fast schon nebensächlich.
Die Frau des Pöstlers wird zur Flumser Larven-Ikone
Am meisten verlangt wird bei solchen Arbeiten die «Chrottni», die bekannteste Flumser Larve. «Vor etwa 100 Jahren gab es hier im Dorf eine Frau, die mehr wusste als alle anderen. All das Wissen konnte sie nicht für sich behalten und hat es auf dem Dorfplatz unter die Leute gebracht. Bald wurde klar, woher sie all den Tratsch hatte: Als Frau des Posthalters hat sie einfach alle Briefe geöffnet.» Ein gefundenes Fressen für die Fasnachtsgesellschaften und Schnitzer, die gerne Dorforiginale karikierten. «Wer eine spezielle Geschichte oder ein auffälliges körperliches Merkmal hatte, kam fast mit Sicherheit an der Fasnacht dran.»
Die Fasnacht – oder im Sarganserländer Dialekt auch Butzne – ist traditionell katholisch geprägt, um vor der Fastenzeit noch einmal auf den Putz zu hauen. Man schlüpft in eine andere Rolle und kann dadurch Hemmungen ablegen. «So trauten sich die Leute, auch einmal dem Chef den Kopf zu waschen», sagt Bruno. Heute habe die Butzne etwas an Strahlkraft verloren, was an der Dorfdurchmischung läge. «Viele neue Leute sind in den letzten Jahren zugezogen, was erfreulich ist. Aber sie haben eben auch noch keine Verbundenheit zum Dorf und seinen Traditionen.»
Anders die zehn Schnitzerfreunde. Jede Woche halten sie die Tradition am Leben. An der Wand hinter jedem Schnitzplatz hängen die jeweiligen Larven. Jedes Mitglied hat seinen eigenen Stil, der teilweise gar als Laie ins Auge fällt. Bei Romy sind es oft Gesichter mit floralen Elementen «und immer mit Ohren. Ohne gefällt mir weniger gut.» Bruno dagegen schnitzt, ohne Spuren des Messer zu hinterlassen. So als würde er heimlich noch drüberschleifen. Marcus, Nachbar von Bruno und einziger Aktiver in einer Fasnachtsgruppe (zumindest noch dieses Jahr, danach sei Schluss), schnitzt oft Karikaturen und Krampusse.
Der Anfang aber ist bei allen gleich: Ein 13 Zentimeter hoher Holzblock. Manchmal Weymouthsföhre, manchmal kanadische Zeder, zu 90 Prozent aber Linde. «Das Holz muss mindestens vier Jahre trocknen, damit es schnitzbar ist. Erst kommt die Rinde weg, damit das Holz nicht von Würmern zerfressen wird, danach wird es vor Witterung geschützt gestapelt», erklärt Marcus.
Die Zeit existiert nicht mehr
Mit einem Schnaps intus wage auch ich mich an eine Larve. Ich solle erst einmal die Augen auf dem Holz einzeichnen. Schon das überfordert mich. Nur zaghaft bewege ich den Bleistift, doch am Ende gibt’s Lob. «Du hast gar keinen Radiergummi gebraucht, bravo!» Beflügelt von Brunos Worten, wage ich mich mit mehr Selbstvertrauen ans Schnitzen. Kaum bewege ich das Flacheisen mehr als fünf Millimeter, ist schon alles falsch. «Du musst das Messer laufen lassen», sagt Marcus, der mir ebenfalls zuschaut und mir gleich zeigt, was er damit meint. Er drückt das Werkzeug nicht wie ich mit Kraft in das Holz, sondern lässt es darüber gleiten. «Das Holz gibt den Weg vor, die Hand fungiert bloss als Leitplanke.» Ich versuch’s, aber es will nicht so richtig klappen. Noch einmal setze ich das Eisen an. Dann nochmal. Höchstens minimale Fortschritte sind zu erkennen.
Während ich das Schnitzmesser mit der rechten Hand langsam über das Lindenholz schiebe und mit der linken Stabilität gebe, verschwimmt alles ausserhalb des Durchmessers dieses unfertigen Gesichts. Jeder Schnitt mit dem Messer hält die Sarganserländer Maskentradition am Leben. Jeder Schnitt sorgt dafür, dass die Geschichte der «Chrottni» auch nach weiteren 100 Jahren noch immer erzählt wird. Langsam verstehe ich, wie man sich vollends dem Handwerk hingeben kann.
«Wann fährt eigentlich dein Zug?» Brunos Worte reissen mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt merke ich, wie spät es schon ist. Ich muss mich nach dem Takt der SBB richten. Und der schlägt nicht gerade regelmässig um diese Uhrzeit. So kurz wie das «Hallo» am Anfang fällt auch das «Tschüss» am Ende aus. Ich lasse die Schnitzerfreunde in der warmen Stube zurück und gehe hinaus in die leergefegten Strassen, in denen 70er-Jahre-Bauten und alte Arbeitersiedlungen nahtlos ineinander übergehen. Vorbei an trostlosen Wiesen und geschlossenen Coiffeursalons.
Der Bahnhof ohne Anzeigetafeln ruft.
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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.