Mental Health: «Psychische Gesundheit ist nicht einfach gegeben»
Mental Health ist so wichtig wie körperliche Fitness. Aktuelle Umfragen zeigen allerdings, dass es den Menschen in der Schweiz psychisch seit der Pandemie tendenziell schlechter geht. Besonders junge Menschen sind betroffen. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Gute Stimmung, heile Psyche: Das grosse Comeback nach Covid? Weit gefehlt: Der aktuelle Obsan-Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigt: «Die psychische Gesundheit der Bevölkerung hat sich im Vergleich zur Situation vor der Pandemie eher verschlechtert und nicht erholt. Es gibt weniger sehr glückliche oder sehr zufriedene Personen, mittelschwere bis schwere Depressionssymptome (12 Prozent) sind häufiger als 2017 (9Prozent) und tendenziell häufiger als noch 2020 und 2021.»
Sehr stark angestiegen sind Einsamkeitsgefühle (14 Prozent vs. 5 Prozent im Jahr 2017), insbesondere bei den jüngeren Personen: Bei den 15- bis 24-jährigen Frauen gaben 32 Prozent der Befragten an, sich einsam zu fühlen. Bei den gleichaltrigen Männern 22 Prozent. Insgesamt berichtet nur eine knappe Mehrheit (ca. 52 Prozent), keine Symptome der abgefragten psychischen Erkrankungen zu haben. Alarmierend: Nur ein Drittel holt sich wegen Suizidgedanken professionelle Hilfe – das bedeutet, viele Betroffene werden im Gesundheitssystem erst gar nicht sichtbar.
Generationen Gap: Den Jüngeren geht es schlechter
Generell scheint die junge Bevölkerung weiterhin stärker psychisch belastet als vor der Covid-19-Pandemie. Im Vergleich zum Durchschnitt schneiden die 15- bis 24-Jährigen bei Indikatoren der positiven psychischen Gesundheit wie auch bei fast allen erhobenen Krankheitssymptomen schlechter ab. Insgesamt berichten 36 Prozent der jungen Frauen über schwerere Symptomausprägungen.
Fazit: Es steht nicht gut um die psychische Gesundheit in der Schweiz. Deshalb habe ich mich an «Pro Mente Sana» gewandt, eine unabhängige Organisation für psychische Gesundheit mit mehr als 40-jähriger Geschichte. Sie ist Anlaufstelle «für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, deren Angehörige und Fachleute».
Mental Health: Erkennen, reagieren, helfen
Mit Larissa Speziale (Fachverantwortliche Gesundheitsförderung & Kommunikation) habe ich die richtige Frau für diese Belange gefunden. Sie hat für unser Gespräch das Wissen von «Pro Mente Sana» (darunter: Nadia Pernollet, Fachverantwortung Psychosoziales und Dalit Jäckel, Leiterin Prävention & ensa Schweiz) gebündelt und gibt wichtige Tipps für mehr Resilienz, Belastbarkeit und Handlungsmöglichkeiten im Krisenfall.
Die Fallzahlen für Depressionen und depressive Verstimmungen sind hoch. Was macht unsere Gesellschaft krank?
Larissa Speziale: Die Fachpersonen gehen von verschiedenen Faktoren aus. Wie in der Obsan-Erhebung sichtbar, ist Einsamkeit eines der großen Themen. Aber auch dort stellt sich die Frage nach dem «Warum». Hier einige mögliche Begründungen:
- Ganz allgemein stellen Unsicherheit und Fremdbestimmtheit eine Belastung für die psychische Gesundheit dar: Post-Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel, Teuerung, etc.
- Die Gesellschaft kommt mit gewissen neuen An- und Herausforderungen noch nicht klar und deshalb sind die psychischen Belastungen stark angestiegen. Zum Beispiel haben sich verschiedene Technologien rasant entwickelt. Unser Gehirn konnte sich bis jetzt noch nicht daran gewöhnen und das wird wahrscheinlich auch noch einige Zeit dauern.
- Im Gespräch sind auch immer wieder der Medienkonsum und die sozialen Medien. Die Diskrepanz zwischen virtuellem und realem Leben wird grösser. Das Kommunikationsvolumen ist extrem gestiegen, was die Hirnfunktionen stark herausfordert. Das braucht sehr viel Energie.
- Auch im Alltag gibt es verschiedene Aspekte, wie z. B. die Unterbrechung bei Tätigkeiten. Viele Menschen unterschätzen das. Aus neuen Untersuchungen geht aber hervor, dass solche Unterbrechungen für uns enorm anstrengend sind. Das menschliche Gehirn braucht zwei bis sechsmal so viel Energie, wenn man bei einer Tätigkeit unterbrochen wird.
- Ein weiterer wichtiger Punkt ist der soziale Stress, denn auf ihn reagiert die menschliche Psyche am empfindlichsten.
Welche Unterstützung empfehlen Sie im Alltag oder in herausfordernden Lebensphasen?
Es gibt eine ganze Palette an Möglichkeiten:
- Sport und Bewegung an der frischen Luft
- Soziale Kontakte pflegen
- Über belastende Situationen und Gefühle sprechen
- Unterbrechungen reduzieren
- Pausen machen
- Prioritäten setzen
- Andere Aktivitäten, die das individuelle Wohlbefinden fördern
- Sich wenn nötig frühzeitig professionelle Hilfe holen (bei einer Fachperson oder einer unabhängigen Beratungsstelle)
Warum sind junge Frauen eigentlich besonders betroffen?
Junge Frauen nutzen eher soziale Medien als junge Männer, die eher gamen. Wovon Fachpersonen ausgehen: Der dadurch ständige Vergleich mit anderen beeinflusst die psychische Gesundheit der jungen Frauen negativ. Zudem empfinden diese einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Auch die Einsamkeitsgefühle sind bei ihnen besonders ausgeprägt.
Welche konkreten Angebote gibt es?
Wir bieten seit einigen Jahren Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit an. Diese funktionieren sehr ähnlich wie die bekannten Nothelferkurse. Im «ensa»-Kurs lernen Laien, wie man Erste Hilfe leistet, wenn Personen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld psychische Probleme oder Krisen durchleben. Die Ersthelferinnen und -helfer unterstützen, bis professionelle Hilfe übernimmt. Gleichzeitig leisten sie einen Beitrag, um Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Problemen in unserer Gesellschaft abzubauen. Die Kurse beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihre Wirksamkeit wurde weltweit überprüft und nachgewiesen.
Nehmen wir an, es geht jemandem psychisch schlecht. Welche ersten Schritte sind ratsam?
Der wichtigste Schritt überhaupt ist, auf die betroffene Person zuzugehen und sie aktiv anzusprechen. Es hilft, ihr zu erklären, wo sie professionelle Hilfe erhält und dass es wichtig ist, diese in Anspruch zu nehmen. Psychische Erkrankungen können behandelt und meistens auch geheilt werden. Je früher man reagiert, desto günstiger der Krankheitsverlauf.
Gibt es auch Anzeichen, auf die man bei sich selbst achten sollte?
Wenn man sich über mehrere Wochen verstimmt, niedergeschlagen, nervös oder entmutig fühlt, keinen Antrieb hat, schnell gereizt ist oder schlecht schläft, können das Warnsignale sein. Die Kampagne «Wie geht’s dir» bietet einen Selbstcheck, der einordnet und weiterführende Tipps gibt: Es ist wichtig, mit jemandem darüber zu sprechen und/oder professionelle Hilfe zu holen. Psychische Krankheiten können jeden treffen und sind kein Grund für Scham- oder Schuldgefühle.
Und wie kann man als Angehöriger unterstützen und dabei auch selbst psychisch stabil bleiben?
Der allererste Schritt ist, wahrzunehmen, dass etwas nicht gut ist. Es hilft, wenn man ein Grundwissen zu psychischen Erkrankungen hat. Nach dem Erkennen dieser Warnzeichen ist Reagieren angesagt. Das bedeutet konkret, die Person in einem ruhigen Moment und an einem vertraulichen Ort auf ihr Befinden anzusprechen. Kommunizieren und hören Sie offen und unvoreingenommen zu. Ratschläge wie «Reiss‘ dich mal zusammen» sind hier nicht zielführend, da dies für Menschen mit psychischen Belastungen unmöglich ist. Es ist außerdem wichtig, für sich selbst Sorge zu tragen, wenn man jemandem beigestanden ist. Es kann guttun, über das Geschehene zu reden, ohne die Privatsphäre der betroffenen Person zu verletzen. Vielleicht ist es auch hilfreich, Dinge zu unternehmen, die die eigene Stimmung und das Wohlbefinden verbessern. Das kann je nach Person Bewegung, Entspannung, kreatives Betätigen etc. sein.
Wann machen Psychopharmaka Sinn?
In akuten Krisensituationen, in denen der Leidensdruck sehr hoch ist. So können zum Beispiel angstlösende Medikamente eine Beruhigung in eine belastende Gesamtsituation bringen (z.B. bei akuter Psychose mit paranoiden Anteilen). Ebenfalls sinnvoll ist der Einsatz von Psychopharmaka, wenn zum Beispiel der Schlaf schwer gestört ist. Schlafmangel führt zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes, weshalb es wichtig ist, dass dieses menschliche Grundbedürfnis, wenn nötig auch medikamentös angegangen wird. Hier, aber auch sonst beim Einsatz von Psychopharmaka, ist es wichtig darauf zu achten, nicht nur Medikamente zu verabreichen. Gleichzeitig sollten Alternativen und ergänzende Maßnahmen zur Symptomlinderung aufgezeigt werden und Gespräche stattfinden. Ebenso wichtig ist die Aufklärung zu den verabreichten Medikamenten: Art des Medikamentes, Wirkungen und Nebenwirkungen, Abhängigkeitsrisiko etc.
Manch betroffene Person erwartet womöglich zu viel von einer «Wunderpille» oder hat Angst vor Medikation...
Deshalb gehört genauso die transparente Aufklärung über die Erwartungen an ein Medikament dazu: Was kann das Medikament bewirken, was kann es nicht bewirken. Eine leichte Depression kann zum Beispiel gut ohne Psychopharmaka behandelt werden. Selbstverständlich sollte die betroffene Person auch bereit und gewillt sein, Medikamente einzunehmen.Eine Medikation gegen den Willen darf nur in einer gesundheitsbedrohenden Notfallsituationen erfolgen. Psychopharmaka sind keine «Heilmittel», doch können sie den Genesungsprozess unterstützen und Betroffene insofern stabilisieren, als dass sie in einen Zustand kommen, in dem sie auch in der Lage sind, sich aktiv an ihrer Genesung zu beteiligen. Es gibt also keine «Wunderpillen». Die Arbeit bleibt bei den Betroffenen selbst und sollte immer begleitend in einem therapeutischen Setting angegangen werden.
Wie sieht eine gute Strategie aus, um psychische Erkrankungen vorzubeugen?
Psychische Gesundheit ist nicht einfach gegeben. Sie lässt sich aber pflegen, wie die körperliche Gesundheit auch. Wichtig sind soziale Kontakte, regelmäßige Bewegung und Entspannung, sich selbst anzunehmen und an sich zu glauben. Auch Nues zu lernen, Kreativsein oder sich an etwas zu beteiligen, kann eine stärkende Wirkung haben. Wie erkennt man, was einem wann guttut? Es hilft zu üben, die eigenen Gefühle bewusst wahrzunehmen und sie auch zu benennen. Es ist okay, auch mal nicht okay zu sein. Wenn man Handlungsspielraum in schwierigen Situationen erfährt und wenn die Fähigkeit, Emotionen zu äußern, gefördert wird, hilft das, Krisen zu überwinden und Herausforderungen besser zu meistern. Durch aktives Wahrnehmen der eigenen Gefühle kann ein problematischer Verlauf frühzeitig erkannt und gezielt mit fachlicher Unterstützung begleitet werden.
An wen wendet man sich als erstes bei Fragen zur mentalen Gesundheit?
Anlaufstellen sind Hausärztinnen und -ärzte, Psychologinnen, Psychiater, Beratungsstellen oder Expertinnen oder Experten aus Erfahrung (Peers). Viele konkrete Tipps hat unser Verein aufgelistet.
Und welche Tipps helfen bei nur leichten Verstimmungen?
Auch hier geht es darum, das wahrzunehmen, darüber zu sprechen und sich zu fragen, was das eigene Wohlbefinden fördert. Die Kampagne «Wie geht’s dir?» begleitet durch alltägliche Ups und Downs und gibt Tipps zu den verschiedenen Gefühlslagen.
Gerade in der dunklen Jahreszeit ist die seelische Gesundheit vieler Menschen zusätzlich belastet. Wie blicken Sie als Expertinnen darauf?
Durch das Fehlen von Licht und Wärme kann es im Winter tatsächlich zu einer sogenannten saisonalen Depression kommen. Hier spielt das Hormon Melatonin eine große Rolle. Durch das wenige Tageslicht produzieren wir mehr von diesem Schlafhormon als im Sommer. Melatonin wird aus dem «Glückshormon» Serotonin gebildet, für die Produktion von Serotonin wiederum benötigen wir Vitamin D, das durch Sonneneinstrahlung produziert wird. Da diese fehlt, werden wir müde, träge und schwermütig, erleben einen Winterblues. Das hat aber auch seinen Sinn: Unsere Vorfahren konnten so Energie sparen, wenn es dunkel und kalt war und es wenig Nahrung gab. Bei Menschen mit Winterdepression ist der Effekt deutlich verstärkt. Bewegung an der frischen Luft, genügend Schlaf und eine Lichttherapie können bei einer Winterdepression hilfreich sein.
Ist das Thema Mental Health bereits in der gesellschaftlichen Mitte angekommen?
Es wird vermehrt über psychische Gesundheit gesprochen, das ist positiv. Psychische Störungen werden jedoch immer noch stark tabuisiert und stigmatisiert. Hier ist Aufklärungsarbeit extrem wichtig. Die Versorgungslage in der Schweiz stößt bereits jetzt an ihre Grenzen. Das unterstreicht die Wichtigkeit vermehrter Bemühungen und Investitionen im Bereich der Prävention, um das Problem auf gesellschaftlicher Ebene angehen zu können.
Titelfoto: shutterstockLebe lieber ungewöhnlich: Ob Gesundheit, Sexualität, Sport oder Nachhaltigkeit, jedes Thema will entspannt, aber aufmerksam entdeckt werden. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie und niemals ohne Augenzwinkern.