Ozempic: Warum das Diabetes-Medikament keine Abnehmspritze für alle ist
Ein Diabetes-Medikament sorgt derzeit für Aufsehen in den sozialen Medien. Denn eine «Nebenwirkung» der Spritzen ist bei vielen Patientinnen und Patienten ein deutlicher Gewichtsverlust. Für viele Menschen mit Adipositas ein Segen. Doch auch Normalgewichtige nutzen Ozempic oder das noch höher dosierte Wegovy zum Abnehmen. Fachleute warnen eindringlich.
Ozempic hat geschafft, wovon viele Influencerinnen und Influencer träumen. Innerhalb kürzester Zeit brachten es TikTok-Videos, in denen die Spritze als Abnehmwunder gepriesen wurde, auf mehr als eine Milliarde Views. Auch dank prominenter Verwenderinnen und Verwender wie Tesla-Gründer Elon Musk, die von einer mühelosen Gewichtsreduktion schwärmten.
Nur: Ozempic ist kein Lifestyle-Produkt, sondern ein Medikament für Menschen mit Diabetes-Typ-2. Wie konnte es also zu einem gehypten Diät-Wundermittel werden, dem auch immer mehr Normalgewichtige verfallen, um schnell ein paar Kilos loszuwerden? Prof. Dr. Florian Kiefer, Leiter der Endokrinologischen Ambulanz am Wiener AKH und Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Endokrinologie und Stoffwechsel, gibt Antworten.
Herr Prof. Dr. Kiefer, ursprünglich wurde Ozempic mit dem Wirkstoff Semaglutid als Medikament bei Typ-2-Diabetes entwickelt. Wie wirkt er?
Prof. Dr. Kiefer: Der in Ozempic enthaltene Wirkstoffe Semaglutid ist ein sogenannter GLP-1 Rezeptor-Agonist. GLP-1 ist ein menschliches Darmhormon, das nach der Nahrungsaufnahme ausgeschüttet wird, insbesondere nach dem Konsum von Kohlenhydraten. Es reguliert die Insulinausschüttung und damit den Blutzuckerspiegel. Der Wirkstoff Semaglutid bindet an den gleichen Rezeptor wie das natürliche Hormon GLP-1, aber aktiviert diesen noch stärker und länger. Der Blutzucker wird gesenkt, weshalb dieser Wirkstoff ein wirksames Diabetesmedikament ist. Zusätzlich aber stimuliert Semaglutid auch ein Sättigungsgefühl im Gehirn, was zu einer geringeren Kalorienaufnahme führt. Und: Es verzögert – vor allem zu Beginn der Therapie – auch die Magenentleerung, man fühlt sich länger satt. Bei vielen Verwenderinnen und Verwendern kommt es deshalb auch zu einer deutlichen Gewichtsreduktion. Das wirkt sich dann wiederum positiv auf den Diabetes aus, weil sich durch die Gewichtsabnahme auch der Zuckerstoffwechsel und die Insulinempfindlichkeit des Körpers verbessern und andere blutzuckersenkende Medikamente wieder besser wirken.
Im Zusammenhang mit Ozempic hört man derzeit aber wenig von Diabetes. Vielmehr wird es unabhängig davon als Abnehmwunder gepriesen. Wie kommt das?
Die «Abnehm-Begleiterscheinung» ist auch bei Menschen mit Übergewicht ohne Diabetes in Studien wie dieser der University of Leicester und im klinischen Alltag bzw. In Anwendungsbeobachtungen gut dokumentiert. Durchschnittlich verlieren Verwenderinnen und Verwender unter Semaglutid plus Lebensstilintervention rund 15 Prozent Gewicht innerhalb eines Jahres. Diese Ergebnisse kommen jenen nahe, die sich sonst etwa durch ein Magenband erzielen lassen. Deshalb ist der Wirkstoff auch zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Das Präparat Ozempic ist jedoch für Patientinnen und Patienten mit Diabetes-Typ-2 gedacht. Streng genommen handelt es sich daher um einen Off-Label-Use, wenn wir Ozempic bei Menschen mit Adipositas einsetzen, die kein Diabetes-Typ-2 haben. Das höher dosierte Medikament «Wegovy» mit dem gleichen Wirkstoff, das speziell auf die Behandlung von Übergewicht und Adipositas zugeschnitten ist, ist in den USA und einigen anderen Ländern schon erhältlich, bei uns in Österreich aber (noch) nicht am Markt (Anmerkung der Redaktion: In der Schweiz (und Europa) ist es wegen Lieferkettenproblemen noch nicht erhältlich). Alternativ kann das Medikament Saxenda mit den Wirkstoff Liraglutid eingesetzt werden, das bei uns bereits am Markt ist und ähnliche Effekte erzielt.
Sind die erwähnten Medikamente bei starkem Übergewicht also eine nicht-invasive Therapiealternative im Gegensatz zu z.B. Magenverkleinerungen?
Mit OPs lassen sich natürlich größere Gewichtsreduktionen erreichen als mit Medikamenten. Doch gerade als Vorbereitung auf solche OPs kann der Einsatz sinnvoll sein, um durch eine Gewichtsreduktion das Operationsrisiko zu senken. Hier zahlt in manchen Fällen sogar die Krankenkasse. Ansonsten muss in Österreich (Anm. d. Redaktion: ebenso in der Schweiz) das verschreibungspflichtige Medikament selbst bezahlt werden, wennkein Diabetes-Typ-2 vorliegt. Eine Ozempic-Spritzenpackung für vier Wochen kommt in Österreich auf etwa 145 Euro (rund 130 Franken). Ob sich das «lohnt», sollte im Vorfeld im Rahmen einer genauen Anamnese durch Stoffwechselexpertinnen oder –experten abgeklärt werden. Denn nicht alle Patientinnen und Patienten sprechen gleich gut auf die Therapie an. Gute Erfolge erzielen vor allem jene, die Schwierigkeiten mit der Kontrolle über die Nahrungszufuhr haben, da die Mittel vor allem das Sättigungsgefühl stimulieren. Sie erhöhen aber nicht den Grundumsatz, weshalb unter der Therapie zusätzlich auf ein ausreichendes Bewegungspensum zu achten ist.
Ab welchem BMI ist der Einsatz der Medikamente indiziert?
Eine medikamentöse Abnehmtherapie kann in Erwägung gezogen werden, wenn der Body Mass Index mehr als 30 kg/m2 beträgt oder wenn dieser über 27 kg/m2 liegt und gleichzeitig übergewichtassoziierte Begleiterkrankungen wie etwa Bluthochdruck, Prädiabetes oder erhöhte Blutfette vorliegen.
Mühelos abnehmen klingt fast zu gut, um wahr zu sein …
Die medikamentöse Therapie ersetzt keinesfalls einen gesunden Lebensstil. Ganz wesentlich für das Gewichtsmanagement ist die Erstellung eines multimodalen Therapiekonzepts. Neben der medikamentösen Therapie sollte es auch Ernährungscoachings und Bewegungsprogramme – mindestens 150 Minuten leichtes Kraft- und Ausdauertraining pro Woche – beinhalten. Falls erforderlich ist auch psychologische Unterstützung wichtig, Adipositas geht oft mit Depressionen einher.
Welche Nebenwirkungen wären das?
Etwa ein Viertel der Patientinnen und Patienten berichtet vor allem zu Beginn der Therapie von Übelkeit, was sich jedoch meist mit Fortdauer der Einnahme wieder bessert. Auch Erbrechen, Durchfall und Verstopfung können auftreten. Seltener sind Reaktionen an der Einstichstelle, Schwindel und erhöhter Puls. Sehr vorsichtig sollte man sein bei Vorerkrankungen wie Gallensteinen und -koliken, starkem Reflux oder Bauchspeicheldrüsenentzündungen, das können gegebenenfalls auch Kontraindikationen sein. Manche Patientinnen und Patienten berichten zudem über eine starke Appetitlosigkeit, dies ist aber meist nur der Fall, wenn die Dosierung zu hoch ist oder zu rasch gesteigert wurde. Deshalb ist es wichtig, dass die Betroffenen im Vorfeld umfassend aufgeklärt und im Umgang mit dem Medikament und über die korrekten Dosissteigerungen geschult werden. Dazu gehört auch, auf das Essverhalten zu achten und gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem Arzt oder der Ärztin die Dosierung anzupassen.
Wie sieht der Therapieverlauf üblicherweise aus?
Es gibt keine strengen Vorgaben, sondern der Therapieverlauf wird individuell abgestimmt. Es sollte jedoch im Vorfeld ein Therapieziel vereinbart werden. Das Minimalziel ist eine Gewichtsreduktion von 5 Prozent gegenüber dem Ausgangsgewicht etwa 12 Wochen nach Therapiebeginn, in denen das Medikament selbst per Pen gespritzt wird. Liraglutid wird einmal täglich verabreicht, wohingegen Semaglutid einmal wöchentlich gespritzt wird.
Wichtig ist, dass die Patientinnen oder Patienten gleichzeitig ihre Ernährungsgewohnheiten anpassen und sich regelmäßig bewegen. Ist die Therapie erfolgreich, liegt es im Ermessen der Beteiligten, wie lange sie fortgesetzt wird. Ziel ist es, mit Hilfe der Therapie die Verhaltensmuster so anzupassen, dass später vielleicht auch ohne medikamentöse Unterstützung das Gewicht gehalten werden kann.
Der Hype um Ozempic hat dazu geführt, dass die Medikamente auch von Normal- oder nur leicht Übergewichtigen als Quick-Fix eingesetzt werden, um rasch mal ein paar Kilos loszuwerden. Was ist davon zu halten?
Der deutsche Endokrinologe Professor Harald Schneider etwa warnte, man wisse gar nicht, ob das Medikament bei Normalgewichtigen vielleicht stärkere (Neben-)Wirkungen zeige als bei Adipösen, auf deren höheres Gewicht die Dosierung ja abgestimmt ist. Und der Guardian sprach sogar schon von einer «Essstörung in der Spritze» …
In Österreich (und in der Schweiz, Anm. d. Red.) gibt es ein Laienwerbungsverbot für verschreibungspflichtige Medikamente. Dies verhindert aber natürlich nicht, dass über diverse Medien auch hierzulande Menschen von der sogenannten «Abnehmspritze» erfahren. Ich sehe solche Hypes – es gab sie in der Vergangenheit zum Beispiel auch rund um Wachstumshormone zur Gewichtsreduktion – sehr kritisch, zumal sie durch die sozialen Medien eine nie dagewesene Dimension annehmen. Natürlich ist es positiv, wenn betroffene Menschen von neuen Therapiemöglichkeiten erfahren, aber es kommt eben auch häufiger zu Missbrauch. Etwa, wenn Personen diese Therapeutika anwenden, obwohl sie aus medizinischer Sicht nicht indiziert sind. Diese Medikamente sind nicht dazu da, bei Normalgewicht und gesundem Stoffwechsel ein Schönheitsideal zu erreichen. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass gerade in Ländern wie den USA durch den einfacheren Zugang zu diesen Präparaten auch Menschen mit Essstörungen an die Medikamente gelangen.
Darüber hinaus erlebe ich – und auch Kolleginnen und Kollegen berichten davon –, dass jetzt plötzlich Menschen ohne Übergewicht oder Adipositas, welche die Kriterien für eine Verschreibung nicht erfüllen, in die Sprechstunden kommen und eine Verschreibung fordern. Hier muss von ärztlicher Seite sehr viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Schließlich kommt es durch die hohe Nachfrage bereits zu Lieferengpässen, was die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes-Typ-2 gefährdet.
Mit Tirzepatid steht schon ein weiterer Wirkstoff in den Startlöchern, der noch größere Gewichtsverluste erzielt. Kann man auf ihn ausweichen?
Die EU-Kommission hat den ersten GIP-/GLP-1-Rezeptoragonisten Tirzepatid (Handelsname Mounjaro) zur Therapie von Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes zugelassen. Er ist ein Vertreter einer neuen Substanzklasse. Durch das duale Wirkprinzip wirkt Tirzepatid noch stärker auf den Blutzuckerspiegel und auf das Körpergewicht. In Studien wurde es auch bereits bei Adipositas erfolgreich eingesetzt. Tirzepatid ist aber derzeit erst in den USA und in den Vereinigten Arabischen Emiraten verfügbar. Auch wenn sich in den letzten Jahren im Bereich der Adipositas-Therapie viel getan hat, gibt es noch sehr viel Luft nach oben. So fehlt es etwa an zugelassenen wirksamen Medikamenten, die nicht nur an der Appetitregulation ansetzen, sondern den Grundumsatz bzw. Ruheenergieverbrauch erhöhen. Hier haben wir großen Forschungsbedarf.
Titelfoto: shutterstockGäbe es meinen Job nicht, würde ich ihn erfinden wollen. Schreiben ist die Möglichkeit, ein paar Leben parallel zu führen. Heute stehe ich mit einer Wissenschaftlerin im Labor, morgen gehe ich mit einem Forscher auf Südpolexpedition. Täglich entdecke ich die Welt, erfahre Neues und treffe spannende Menschen. Aber nur kein Neid: Das Gleiche gilt fürs Lesen!
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