Spoiler Talk: Ist Squid Game Hype oder Kritik?
Blutrausch oder Gesellschaftskritik? Die Netflix-Serie «Squid Game» hat eine Botschaft. Aber welche? Und warum ist die Serie so erfolgreich? Reden wir darüber.
Eines vorweg: Das hier ist ein Spoiler Talk. Du liest also Spoiler über die Netflix-Serie «Squid Game». Schau dir darum bitte zuerst die Serie an, bevor du weiterliest.
«Was haben sehr arme und sehr reiche Menschen gemeinsam», fragt der uralte, im Sterben liegende Mann mit müder Stimme. Sein Gegenüber, der Squid-Game-Sieger, kriegt kein Wort heraus – zu gross der Schock, dass sein totgeglaubter Freund noch lebt und hinter all dem steckt.
Der alte Mann keucht schwer. Vielleicht zum letzten Mal. Aber dann fährt er fort.
«Das Leben macht einfach keinen Spass.»
Squid Game ist nicht irgendein Spiel. Es ist ein Experiment, organisiert von den Reichen. Die sind vor lauter Überfluss derart gelangweilt, dass sie jene verzweifelten Armen zum Spiel einladen, die nicht wissen, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Wer eine Spielrunde nicht besteht, wird «disqualifiziert». Hingerichtet. Wer zwischen den Spielen andere tötet, der hat beim nächsten Spiel weniger Konkurrenz. Und wer zum Schluss noch lebt, dem winken viele Millionen als Preisgeld.
Ein Ausweg aus ihrer Misere.
Was vage an «Battle Royale» oder «Hunger Games» erinnert, bekommt noch einen besonders niederträchtigen Kniff: Die Spiele sind Kinderspiele. Rote Ampel, grüne Ampel. Murmeln werfen. Solche Spiele. Ausser beim Tauziehen. Da versuchen zwei Teams, sich gegenseitig in den zwischen ihnen liegenden Abgrund zu ziehen. In den Tod.
Das ist nicht nur grausam. Das ist verstörend.
Wer sich sowas ausdenkt? Der südkoreanische Regisseur und Drehbuchautor Hwang Dong-hyuk. Seit 2008 habe er mit der Idee «Squid Game» Klinken geputzt, sagte er zum Wall Street Journal. Aber kein Investor stieg ein, und keine Schauspieler wollten mitmachen. Zu blutig. Zu brutal. Zu unrealistisch. Zu grotesk. Niemand wolle sehen, wie aus unschuldigen Kinderspielen arglistige Todesfallen werden, habe man ihm gesagt.
Aber seine morbiden Einfälle kamen nicht von ungefähr.
Südkorea – Kriegsschauplatz der Industriegeschichte
Südkorea, 1961. General Park Chung Hee hat sich soeben an die Macht geputscht. Er gilt nicht nur als Chef der Militärdiktatur, sondern auch als Modernisierer.
Zunächst setzt er eine strikt antikommunistische Diktatur durch. Opposition wird verboten. Andere Parteien auch. Dann konzentriert sich Chung Hee auf den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes.
Reformen führen zum Niedergang der Landwirtschaft. Dafür boomt die Industrialisierung. Wo Familien einst hunderte Hektare Land mit Reis bewirtschafteten, schliessen sie sich zu modernen Mischkonzernen zusammen und werden zur bestimmenden wirtschaftlichen Kraft im Land – Chaebols. LG zum Beispiel. Samsung. Oder Hyundai. Die südkoreanische Wirtschaft blüht auf und entdeckt ein neues Wort für sich: Export.
Die rasante Industrialisierung hat ihren Preis. Müll- und Abwasserentsorgung sind weitgehend unbekannt. Die Luftverschmutzung und die Belastung der Flüsse mit Giften aller Art gefährden die Gesundheit der Bevölkerung. Umweltschützer:innen sprechen vom «Kriegsschauplatz der Industriegeschichte». Und bürgerliche Freiheiten müssen von Arbeiter:innen, Student:innen und Gewerkschafter:innen in jahrzehntelangen Aufständen blutig erkämpft werden. Tausende Menschen sterben. Erst dank einer Verfassungsänderung mitte 1987 wählt die Bevölkerung endlich wieder einen Präsidenten.
Südkorea wird zur Demokratie – und gilt seitdem als das gelungenste planwirtschaftliche Experiment der Welt.
Vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren längst nicht alle. Viele Arbeitsplätze werden wegrationalisiert. Ausländische Arbeitskräfte ausgebeutet oder entrechtet. Dann reisst die Asienkrise 1997 ein klaffendes Loch ins wirtschaftliche Selbstbewusstsein des Landes. Die globale Finanzkrise 2008 setzt nach. Die Armut wächst; es kommt zu Massenentlassungen in den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten. Alte Menschen leiden besonders.
Bis heute sträubt sich die Regierung gegen offizielle Kennzahlen. Die Kluft zwischen arm und reich ist so tief wie nie.
«Squid Game» wird zum Hype – und vielleicht ein wenig Popkultur
Es ist der rasante wirtschaftliche Aufstieg Südkoreas, der «Squid Game»-Schöpfer Hwang Dong-hyuk antreibt. Seine Serie soll kein sensationsheischendes Befriedigen sadistischer Ideen sein, sondern eine Warnung. Ein Aufschrei. Denn «Squid Game» weist nicht nur auf unter dem Teppich gekehrte Missstände Südkoreas hin, sondern wühlt überraschend drastisch darin rum.
Im September 2019 erkennt Netflix das Potenzial und gibt grünes Licht. Dann kommt die Pandemie, die die Welt verändert, und nicht zum Besseren, wie Dong-hyuk befürchtet: Das Bild, das er seit 2008 zeichnet, scheint auf einmal gar nicht mehr so unrealistisch.
Heute ist «Squid Game» in aller Munde. Überall. Gefühlt, zumindest. Denn wer die Serie nicht bereits gesehen hat – und laut Netflix haben das so ziemlich alle –, hat wenigstens von ihr gehört.
Die Serie trifft einen Nerv. Die sozialen Medien sind voller Memes. Das liegt auch daran, dass die Story immer wieder Überraschungen parat hat: Jede Spielrunde erfordert neue Teams. Wer zuvor zusammenhalten musste, wird plötzlich zu Gegnern auf Leben und Tod. Das zerreisst das Herz, weil die Protagonisten gezielt als Verlierer des wirtschaftlichen Aufstiegs Südkoreas gezeichnet sind.
Da ist etwa ein unverbesserlicher Pechvogel, ein wegrationalisierter Arbeiter, ein ausgebeuteter Pakistani, ein ehemaliger Elite-Student, der betrügt, eine Frau, die aus Nordkorea geflüchtet ist, ein Arzt, der einen Kunstfehler begangen hat, ein von Altersarmut betroffener, krebskranker Mann – und natürlich ein Gangster.
Sie alle sind Menschen, die ohne jede soziale Absicherung durchs Raster gefallen sind. Sie alle haben beträchtliche Schulden. Darum erscheint das Geld, das in einer gläsernen Kugel hoch über ihren Köpfen schwebt, umso verlockender.
Hwang Dong-hyuk kann ein Lied davon singen. Einst musste er seinen Laptop verkaufen, um Essen zu können. Und während er an der Netflix-Serie gearbeitet hat, soll er sechs Zähne verloren haben – Langzeitfolgen früherer Gesundheitsprobleme.
Auch er ist einst durchs Raster gefallen.
Dazu kommt die Publikumswirksamkeit: Wir alle können uns in die Teilnehmenden hineinversetzen. Wir alle kennen die tödlichen Kinderspiele. Unweigerlich stellen wir uns die Frage: Hätte ich beim Sprung über die Glasbrücke meine Kontrahenten ebenfalls in den Tod geschubst?
Der Gedanke alleine verstört. Eines der effektivsten Horrorgefühle. Sich dem zu entziehen, ist schwierig.
Die wahren Bösen in «Squid Game»
Das Perfideste am Gedankenspiel «Squid Game» ist, dass die Teilnehmer:innen jederzeit aufhören könnten, wenn sich die Mehrheit dazu entschliesst. Tut sie aber nicht. Das goldene Preisgeld wächst mit jeder Leiche. Ein Scoreboard zählt Dahingeschiedene. Eine Milliarde Won pro Sarg im Krematorium. Begräbnisse gibt es nicht.
Gier?
Regisseur und Schöpfer Dong-hyuk gibt keine definitive Antwort. Es gibt aber eine Aussage, die zum Nachdenken anregt. Denn – so heisst es an einer Stelle in der Serie:
«Es gibt zwei Höllen. Und die schlimmere ist die Realität.»
Für Dong-hyuk ist es wohl nicht Gier, die die Menschen in «Squid Game» antreibt. Vielmehr Verzweiflung. Denn «da draussen» überleben sie sowieso nicht. In «Squid Game» haben sie wenigstens eine faire Chance. Das könnte als Kritik an die Welt, die der Kapitalismus erschaffen hat, gewertet werden, nicht als Kritik an die Natur des Menschen selbst.
Ironischerweise baut der Mikrokosmos «Squid Game» aber auf genau diese vom Kapitalismus geschaffene Welt auf – auch wenn sich die Teilnehmenden dessen nicht bewusst sind:
Die Arbeiter in ihren Dreieck-, Kreis- und Quadrat-Masken sind letztendlich nur anonyme Opfer des kapitalistischen Systems. Fressen oder gefressen werden. Gesichtslos. Der Frontman, ein ehemaliger Squid-Game-Gewinner, hat das System hingegen genutzt, um aus der Anonymität heraus Karriere zu machen – auf Kosten seiner Menschlichkeit. Aber die Fäden halten andere in der Hand: die reichen VIPs, die wohl nicht zufällig englisch sprechen und sich ständig hinter einer buchstäblichen Maske verstecken.
Und der alte Mann – der Host? In den Augen Dong-hyuks wohl das «wahre» Gesicht des Kapitalismus. Die Personifizierung dessen, dass einfach jeder Dreck am Stecken hat, egal wie sehr wir uns wünschen, dass einer vom System doch mal sauber ist.
Vorne durch der Umwelt helfen, aber hinten durch ist ja doch nur alles Greenwashing. Eine Hand proklamiert Inklusivität, die andere wehrt Sex- und #MeToo-Skandale ab. Der Humanität Willen eine Fussball-WM in einem nahöstlichen Land veranstalten, aber vertuschen, wie Tausende Sklaven beim Bau der Fussballstadien ums Leben kommen.
So in etwa.
In «Squid Game» hat der Host auf Geld basierende Machtstrukturen erschaffen, irgendwo auf einer fernen Insel, abseits vom ohnehin nicht allzu langen Arm des Gesetzes. Aus Langeweile denkt er sich ein Spiel aus, wie es sich nur Sadisten ausdenken können. Für ihn steht die Frage im Raum, welche Grenzen Käuflichkeit besitzt. Für die Teilnehmenden hingegen, worin Humanität besteht. Und was sie zum Überleben taugt.
Damit können wir uns identifizieren. Davon lassen wir uns in den Bann ziehen.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»