Superorgan Darm: Wie das Mikrobiom deine Gesundheit beeinflusst
In deinem Darm wohnen nicht nur Billionen von Bakterien, die deine Verdauung und dein Immunsystem regeln. In deinen Eingeweiden steckt auch Hoffnung: Denn das Mikrobiom hat das Potenzial, Krankheiten zu heilen – von Depressionen bis Krebs. Mikrobiom-Selbsttests für den Darm sind allerdings (noch) nicht die Lösung.
Sie bevölkern zu Billionen deinen Darm und stehen derzeit im Fokus der Forschung: Bakterien, Pilze, Viren und Einzeller. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezeichnen diese diverse Gemeinschaft von Mikroorganismen auch als Mikrobiota oder Mikrobiom. Neue Technologien, wie etwa die Hochdurchsatzsequenzierung, machen es seit den Nullerjahren erstmals möglich, die ungeheure Vielfalt der Darmflora schnell und präzise zu analysieren – zumindest, was die Darmbakterien betrifft. Mehrere Tausend Bakterienarten sind schon identifiziert.
Rund 300 davon finden sich bei jedem Menschen. Doch vieles hat Einfluss auf die Darmflora: Genetik, Lebensstil, Ernährung, Medikamente wie Antibiotika, Schadstoffe, Umwelteinflüsse, Hygiene oder auch der Umstand, ob man Kontakt zu Haustieren hat(te) oder nicht – daher setzen sich die winzigen Untermieter im Detail von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich zusammen. «Sogar so individuell, dass man auch von einem mikrobiellen Fingerabdruck sprechen kann», sagt Prof. Michael Scharl, Arzt an der Klinik für Gastroenterologie am Universitätsspital Zürich (USZ) und Leiter des Translationalen Mikrobiom-Forschungszentrums. Er leitet am USZ die erste Mikrobiom-Sprechstunde der Schweiz.
Dein Darm, ein Superorgan: Per «Schnellstraße» mit dem Hirn verbunden
Eines gilt aber immer: Je vielfältiger das Mikrobiom zusammengesetzt ist, desto widerstandsfähiger ist es – und damit fitter für die vielfältigen Aufgaben. «Schon lange ist bekannt, dass Darmbakterien bei der Verdauung helfen», sagt Prof. Scharl. «Inzwischen steht aber auch fest: Die Mikroben stärken die Darmbarriere, sodass Krankheitserreger aus dem Verdauungsorgan nicht ins Körperinnere gelangen können und umgekehrt. Sie fungieren zudem als Trainingspartner für das Immunsystem und sind an der Bildung von Hormonen, Vitaminen und anderen Botenstoffen beteiligt.»
Auf diese Weise beeinflussen die Darmbewohner unseren ganzen Stoffwechsel, unsere Organe und sogar unser Gehirn. Diese Verbindung bezeichnet die Wissenschaft auch als Darm-Hirn-Achse. Auf dieser Schnellstraße, die die beiden Organe vernetzt, kommunizieren Darm und Hirn mithilfe verschiedener Botenstoffe.
Unter anderem gelangen von den Bakterien produzierte Substanzen über die Darmwand in den Blutkreislauf. Darunter auch solche, die zur Produktion von neurologisch aktiven Substanzen wie den Nervenbotenstoffen Serotonin und Dopamin beitragen. Kein Wunder also, dass das Mikrobiom auch «Superorgan» genannt wird, wenn es sogar Denken, Verhalten und Gemütslage beeinflussen kann.
Darmflora: Gesunde Vielfalt, gesunder Mensch
Wie das komplexe Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Darmflora genau funktioniert, beginnen die Forschenden gerade erst zu verstehen. Für deine persönliche «Beziehung» zu den kleinen Untermietern ist vor allem folgender Fakt wichtig: In deinem Darm hausen Bakterien, die sich günstig oder ungünstig auf deine Gesundheit auswirken können. Dabei kommt es einerseits auf die Art der Bakterien an, vor allem aber darauf, wo und in welchem Verhältnis zueinander sie vorkommen. Je nachdem macht sich das dann auch mal unangenehm bemerkbar – etwa in Form von Magen-Darm-Beschwerden.
Betroffene mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, bei denen die Vielfalt der mikrobiellen Mitbewohner eingeschränkt ist, wissen das aus leidvoller Erfahrung. Aber auch alle, die nach der Einnahme von Antibiotika schon einmal Durchfall hatten, haben es schon am eigenen Leib gespürt. Da meist sogenannte Breitbandantibiotika eingesetzt werden, die bei Darmbakterien keinen Unterschied zwischen Freund und Feind machen,.
Tipp von Prof. Scharl: Lass dir das nächste Mal zum Antibiotikum auch ein Probiotikum verschreiben, wie zum Beispiel Saccharomyces Boulardii. Es stabilisiert das Mikrobiom und unterstützt die Regeneration der Darmflora.
Futter für den Darm
Doch nicht nur Medikamente machen deinem Mikrobiom zu schaffen. «Es gibt zum Beispiel auch Hinweise, dass unsere westliche Ernährungsweise – wenig Ballaststoffe, viel tierisches Fett und Zucker – in Verbindung mit Stress und Bewegungsmangel die Vielfalt der Darmkeime verringert», sagt Scharl. Blähungen, Verdauungsprobleme und Co. sind dann noch ein vergleichsweise kleines Übel.
Denn gleichzeitig vermehren sich Bakterien, die Trimethylamin herstellen, einen Stoff, der im Verdacht steht, das Risiko für Arteriosklerose und damit für Herzinfarkt und Schlaganfall zu erhöhen. Du solltest also deinem Mikrobiom zuliebe auf eine ausgewogene, ballastoff- und fasereiche Ernährung mit viel frischem Obst und Gemüse achten und einen gesunden, entspannten Lifestyle pflegen.
Probiotika sind dafür leider kein bequemer Ersatz. Sie können nur eine Ergänzung sein. «Wichtig zu wissen ist auch, dass es drei Probiotika-Kategorien gibt», sagt Michael Scharl. «Es gibt rezeptpflichtige Medikamente, sie werden von der Krankenkasse vergütet. Auch probiotische Produkte aus der Apotheke und Drogerie haben oftmals erwiesenermaßen eine Wirkung. Allerdings kann man damit nicht gezielt bestimmte Bakterien füttern. Bei probiotisch angereicherten Lebensmitteln wie Joghurts oder Drinks fehlt jedoch meist ein wissenschaftlicher Wirkungsnachweis. Allerdings gilt: Wem probiotische Produkte guttun, der soll sie nehmen.»
Verändertes Darm-Mikrobiom: Ursache oder Folge vieler Krankheiten?
Mehr Wissen und mehr Tun braucht es eigentlich nicht, damit du in gesundem Einklang mit deinen Mikroben lebst. Dennoch wird ums Biom gerade ein Riesenhype gemacht. Aus wissenschaftlicher Seite verständlich: Fast täglich entdecken Forschende Neues. Weil aber neben Fachartikeln und Studien auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bestseller-Ratgeber wie «Darm mit Charme» aus dem Boden sprießen, ist die Neugier bei den Otto-Normal-Betroffenen natürlich groß. Und viele verfallen dabei den unzähligen Angeboten, sich mittels einer Mikrobiom-Stuhluntersuchung Einblicke in ihren Darm und damit ihren Gesundheitszustand zu erhalten.
«Studien belegen, dass sich bei Patientinnen und Patienten mit bestimmten Krankheiten die Mikrobiota von denen gesunder Menschen unterscheiden», bestätigt Scharl. Und die Liste der Erkrankungen, die mit einem veränderten Mikrobiom in Verbindung gebracht werden, ist lang: Sie reicht von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen über Allergien, Rheuma, Diabetes, Adipositas (krankhaftes Übergewicht), Depressionen, Autismus bis hin zu neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose.
Jedoch es ist längst nicht klar, ob Veränderungen des Mikrobioms diese Krankheiten auslösen oder doch eher eine Folge davon sind, rsp. es kann schlicht beides der Fall sein. «Außerdem sind auch nicht alle Menschen, bei denen sich bestimmte Abweichungen zeigen, an den damit assoziierten Leiden erkrankt oder werden daran erkranken», betont Scharl.
Noch gesund oder doch schon krank?
Michael Scharl ist bei diesen Selbsttests daher eher zurückhaltend. «Ja, sie liefern korrekte Ergebnisse. Aber es mangelt aktuell noch daran, die Befunde daraus richtig einzuordnen und gegebenenfalls eine Therapie abzuleiten», sagt er. Weil das Mikrobiom zudem von Mensch zu Mensch verschieden ist, fehlt es auch noch an einer Definition, welche Bakterienwerte und -zusammensetzungen für einen gesunden Menschen überhaupt als «normal» gelten können und ob und wann genau Veränderungen zuverlässig auf die Entstehung oder das Fortschreiten von Krankheiten hindeuten.
«Wenn Sie zum Arzt gehen und Ihre Leberwerte untersuchen lassen und sie sind zu hoch, liegt eine Leberschädigung vor, nach deren Ursachen man suchen kann. Diese Klassifizierung gibt es beim Mikrobiom, zumindest noch, nicht», sagt Experte Scharl. Verunsicherte Getestete landen dann auch häufig bei ihm in der Mikrobiom-Sprechstunde am USZ, um ihre Ergebnisse zu besprechen.
Mikrobiom im Darm: Hoffnung für die Medizin der Zukunft
Das Gros der Sprechstundenbesucherinnen und -besucher kommt aber, um sich Hilfe bei Magen-Darm-Beschwerden zu holen oder mit Fragen zu Stuhltransplantationen, bei denen der aufbereitete Stuhl einer gesunden Person auf eine kranke übertragen wird. «Das Verfahren wird bei Betroffenen mit antibiotika-refraktärer Clostridioides difficile Kolitis angewandt und ist dort sehr erfolgreich. Dies ist aber die einzige Indikation, bei der wir es durchführen», sagt Michael Scharl.
Für die Zukunft glaubt er: Die Forschungen rund ums Mikrobiom können viele weitere Möglichkeiten für noch weit gezieltere therapeutische Eingriffe liefern. Er traut den Mikroorganismen im Verdauungstrakt künftig eine große Rolle in der Medizin zu: als Therapeutikum.
Krankheiten, so Scharls Hoffnung, sollen sich heilen lassen, indem man die Zusammensetzung der Darmflora verändert, beziehungsweise die beim Krankheitsbild reduzierten Bakterien ersetzt. «Die ideale Therapie wäre dann erreicht, wenn den Patientinnen und Patienten nur noch individuell abgestimmte Bakteriencocktails oder isolierte Stoffwechselprodukte per Pille verabreicht werden müssten.»
Im Bereich Dickdarmkrebs könnte es in zwei bis drei Jahren soweit sein. In Versuchen mit krebskranken Mäusen konnten jene T-Zellen aktiviert werden, die den Tumor abtöten, indem man ihnen jene Bakterien oral verabreichte, die im Darm von Krebspatientinnen und -patienten reduziert sind.
Titelbild: shutterstockGäbe es meinen Job nicht, würde ich ihn erfinden wollen. Schreiben ist die Möglichkeit, ein paar Leben parallel zu führen. Heute stehe ich mit einer Wissenschaftlerin im Labor, morgen gehe ich mit einem Forscher auf Südpolexpedition. Täglich entdecke ich die Welt, erfahre Neues und treffe spannende Menschen. Aber nur kein Neid: Das Gleiche gilt fürs Lesen!
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