«There is no exercise pill» – oder doch?
7.3.2023
Sport ist Medizin. Die positiven Effekte auf unsere Gesundheit sind hinlänglich bekannt. Gäbe es eine Sport-Pille wäre es ziemlich sicher das meistverkaufte und -konsumierte Medikament weltweit. Bis heute existiert jedoch keine solche Pille, die Sporteffekte nachahmt. Einem japanischen Forschungsteam ist jetzt allerdings ein vielversprechender Durchbruch gelungen.
Der moderne Lebensstil und der technologische Fortschritt haben uns von schwerer körperlicher Arbeit befreit. Bewegung ist für unsere (muskuloskelettale) Gesundheit jedoch von zentraler Bedeutung. Bewegungsmangel führt zum Verlust an Muskelmasse und Kraft. Gleichzeitig nimmt die Knochendichte ab, was zu Osteoporose führen kann. Zusätzlich ist Bewegungsmangel mit Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einem erhöhten Schlaganfallrisiko und Diabetes assoziiert. Das macht Bewegungsmangel zu einem bedeutenden Risikofaktor für einen frühzeitigen Tod. Die sozioökonomischen Belastungen der Behandlungen dieser Krankheiten auf unser Gesundheitssystem sind enorm. Die WHO schätzt in ihrem letztjährigen Status-Report über die körperliche Aktivität, dass Bewegungsmangel weltweit jährlich USD 27 Milliarden kostet. Für 2030 sind weltweite Kosten von USD 300 Milliarden prognostiziert [5]. Diabetes alleine hat in der Schweiz 2021 Kosten in Höhe von USD 4.9 Milliarden verursacht [6]. Sport ist also eine effektive und sehr kostengünstige Therapie, sowohl für die persönliche Gesundheit als auch für das staatliche Gesundheitswesen. Leider kann Sport nicht allen verschrieben werden. Bei Patienten mit Demenz oder bei Personen, die bereits bettlägerig geworden sind, wäre eine medikamentöse Therapie wünschenswert. Diese Motivation hat ein japanisches Forschungsteam dazu bewogen, nach einer Methode zu suchen, die die Effekte von Sport nachahmt [7].
Die Suche nach einer geeigneten therapeutischen Intervention
Sport stärkt die Muskulatur und die Knochen. Muskel- und Knochenzellen vermehren sich. Um einen therapeutischen Ansatz zu finden, haben die Forscher ein System entwickelt, bei dem die Veränderungen von Zellen in Muskeln und Knochen untersucht wurden. Diese Veränderungen wurden dann quantifiziert. Zuerst haben sie die Muskelzellen untersucht und unter 296 chemischen Verbindungen haben sie acht gefunden, die das Wachstum von Muskelzellen fördern. Eine dieser Verbindungen, Verbindung 17b, ein Aminoindazol-Derivat, hat besonders gut funktioniert und hat dazu beigetragen, dass bestimmte Proteine, die für das Wachstum von Muskeln wichtig sind, in grösseren Mengen produziert wurden. Dann wurden diese acht Verbindungen auf deren Effekte in Knochenzellen untersucht. Wiederum wies Verbindung 17b das stärkste Potential auf, die Bildung von Knochenzellen zu fördern. Im nächsten Schritt testeten die Forschenden die acht Kandidaten auf ihre Auswirkungen auf den Knochenabbau. 17b hat den Knochenabbau am effektivsten unterdrückt. Verbindung 17b fördert also das Wachstum von Muskel- und Knochenzellen und hemmt gleichzeitig den Knochenabbau. Die Forscher tauften diese Verbindung nun Locamidazol. Dieser Name setzt sich aus den Worten «Lokomotor» (Bewegung) und «Aminoindazol» (chemischer Bestandteil) zusammen und wird kurz LAMZ genannt.
Von in vitro zu in vivo
Die gute Wirksamkeit von LAMZ in der Petrischale wollten die Forscher anschliessend im lebenden Organismus testen. Sie verabreichten Mäusen einmal täglich für 14 Tage LAMZ. Diese Verabreichung von LAMZ hatte keinerlei Auswirkungen auf das Körpergewicht der Mäuse. Weiter wurden keine Nebenwirkungen festgestellt. Das Medikament wurde am Ende des Experiments im Blut, den Muskeln und Knochen nachgewiesen. Die Muskeln der mit LAMZ behandelten Mäusen waren grösser als bei der Kontrollgruppe. Es wurden keine Anzeichen von Sehnen- oder Muskelschädigungen festgestellt. Auch Knorpelschäden wurden keine beobachtet. Die LAMZ-Mäuse zeigten auf dem Laufband weniger Ermüdungserscheinungen im Vergleich zu den Kontrolltieren. Die Forscher wollten dann wissen, ob sich LAMZ auch für einen therapeutischen Ansatz bei eingeschränkter Mobilität eignet. Dies wurde wiederum im Tiermodell an Mäusen getestet, die mit ihren Hinterbeinen leicht in der Luft schwebten und somit diese Muskeln über einen längeren Zeitraum nicht gebrauchen konnten, was zum Muskelschwund und Knochenabbau führt. Auch bei diesen Mäusen zeigte die LAMZ-Behandlung Wirkung.
Wie funktioniert das biologisch?
Die Wissenschaftler untersuchten, welche Gene in Zellen, die mit LAMZ behandelt wurden, am häufigsten aktiv waren, um die Wirkungsweise von LAMZ zu verstehen. In den mit LAMZ behandelten Zellen waren besonders die Gene aktiv, die für die Mitochondrien wichtig sind. Tatsächlich erhöhte LAMZ die Anzahl der Mitochondrien in Muskel- und Knochenzellen. Sport, und vor allem Ausdauersport, fördert die Aktivierung eines Proteins mit dem Namen PGC-1α (engl. peroxisome-proliferator-activated receptor gamma, coactivator 1). Dieses Protein gilt als Schlüsselelement für zellinterne Signalkaskaden, die durch Ausdauertraining im Muskel aktiviert werden [8] und die Mitochondrienbildung fördern. Um herauszufinden, ob LAMZ effektiv PGC-1α aktiviert, hemmten sie in Muskel- und Knochenzellen PGC-1α. Dabei stellten sie fest, dass jetzt LAMZ nahezu wirkungslos blieb. Dies sowohl in vitro als auch in vivo. Sport und besonders Ausdauersport aktiviert PGC-1α. Da LAMZ ebenfalls PGC-1α aktiviert, imitiert es also Sport. LAMZ wurde im Tiermodell und in vitro mit menschlichen Zellen erfolgreich getestet. Da es auch bei menschlichen Zellen funktioniert, stellt es einen vielversprechenden therapeutischen Ansatz dar, die Muskulatur und Knochen zu stärken. Bis LAMZ oder ein Derivat auf den Markt kommt, bedarf es jedoch noch klinischer Studien, um mögliche Nebeneffekte und Langzeitfolgen beim Menschen zu untersuchen.
Bis dahin ermutige ich alle, Sport zu treiben. Denn Sport, vernünftig betrieben, ist die beste Medizin.
Referenzen
- Westcott WL. Resistance training is medicine: Effects of strength training on health. Curr Sports Med Rep. 2012;11: 209–216. doi:10.1249/JSR.0b013e31825dabb8
- Pedersen BK, Saltin B. Exercise as medicine - Evidence for prescribing exercise as therapy in 26 different chronic diseases. Scand J Med Sci Sport. 2015;25: 1–72. doi:10.1111/sms.12581
- Warburton DER, Nicol CW, Bredin SSD. Health benefits of physical activity: the evidence. C Can Med Assoc J. Canadian Medical Association; 2006;174: 801. doi:10.1503/CMAJ.051351
- Abou Sawan S, Nunes EA, Lim C, McKendry J, Phillips SM. The Health Benefits of Resistance Exercise: Beyond Hypertrophy and Big Weights. Exerc Sport Mov. 2023;1. doi:10.1249/ESM.0000000000000001
- World Health Organization. Global status report on physical activity 2022 [Internet]. WHO Press, World Health Organization. 2022. Available: https://www.who.int/teams/health-promotion/physical-activity/global-status-report-on-physical-activity-2022
- Switzerland diabetes report 2000 — 2045 [Internet]. [cited 8 Jan 2023]. Available: https://diabetesatlas.org/data/en/country/192/ch.html
- Ono T, Denda R, Tsukahara Y, Nakamura T, Okamoto K, Takayanagi H, et al. Simultaneous augmentation of muscle and bone by locomomimetism through calcium-PGC-1α signaling. Bone Res 2022 101. Nature Publishing Group; 2022;10: 1–14. doi:10.1038/s41413-022-00225-w
- Chan MC, Arany Z. The many roles of PGC-1α in muscle - Recent developments. Metabolism: Clinical and Experimental. W.B. Saunders; 2014. pp. 441–451. doi:10.1016/j.metabol.2014.01.006
Claudio Viecelli
Biologe
Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.