Wenn Kiefer und Zähne für körperliche Beschwerden sorgen
Knirschst du mit den Zähnen? Dann läufst du Gefahr, am gesamten Körper Beschwerden zu entwickeln. Besser, du kennst die Diagnose CMD. Was sich hinter dem Kürzel verbirgt, liest du hier.
Meine Freundin Anja hat eine Ärzte-Odyssee hinter sich. Acht Jahre plagten Anja Schwindel, lähmende Nackenverspannungen und ziehende Schmerzen im Gesicht. Ähnlich lange Leidenswege kennen Betroffene von Endometriose oder chronischen Schmerzen, ausgelöst von Triggerpunkten.
Ihr Alltag mit Vollzeitjob und Kind war kaum zu stemmen. Doch weder Hals-Nasen-Ohrenärzte noch Orthopädinnen, Osteopathen oder Neurologen wussten Rat: Cortisonspritzen, Einlagen, Physiotherapie, Massagen – alles half nicht oder nur vorübergehend. Als ein Tinnitus dazukam, war Anja mit ihren Nerven am Ende und suchte Rat bei einer Psychologin.
Deren Tipps zum Stressabbau halfen. Zumindest für ein paar Monate. Dann kamen die Symptome zurück. Doch Anja hatte Glück im Unglück: Eine alte Plombe wurde locker und sie suchte eine neue Zahnärztin auf. Zunächst war Anja verwundert, als diese sich nicht zuerst der Füllung widmete, sondern ihren Kiefer abtastete und zig Fragen stellte. Unter anderem die, ob sie unter jenen Symptomen leide, die sie schon so lange plagten.
Fazit: Nach einer Stunde hatte Anja nicht nur eine neue Plombe, sondern auch eine erhellende Diagnose, die ihre langjährigen Beschwerden erklärte. Craniomandibuläre Dysfunktion, kurz CMD. Andere Ursachen für diffuse Zahn- oder Gesichtsschmerzen findest du in diesem Artikel.
Was ist Craniomandibuläre Dysfunktion?
Craniomandibuläre Dysfunktion: Unter diesem Sammelbegriff fassen Zahnmedizinerinnen und -ärzte verschiedene Störungen des Kauapparates zusammen. Er leitet sich von Cranium (für Schädel) und Mandibula (für Kiefer) ab. «Die Fehlfunktionen liegen im Bereich zwischen dem Schädel und Ober- und Unterkiefer. Beteiligt daran sind auch die Kiefergelenke sowie die Kau- und Nackenmuskulatur», ist auf der Webseite des Universitätsspital Zürich (USZ) nachzulesen.
Dr. Theobald Saxer, CMD-Experte und ehemaliger Zahnarzt aus Innsbruck, erklärt das näher: «Der obere Kiefer ist fest mit dem Schädel verbunden. Der Unterkiefer hängt hingegen vergleichsweise lose am Schädel, wie eine Schaukel, gehalten nur von filigraner Muskulatur und einem Scharniergelenk. Im Idealzustand ist diese Schaukel völlig entspannt, man spricht von einer Ruheschwebe. Beißt man auf etwas, so nennt man das den Schlussbiss. Bei gesunder Funktion geschieht das alles völlig unverbissen. Doch fehlende Zähne, schlechtsitzender Zahnersatz, zu hohe oder niedrige Füllungen, fehlerhafte kieferorthopädische Behandlungen oder durch nächtliches Knirschen abradierte Zähne können dieses Gleichgewicht stören.»
Manchmal gibt es auch genetische Ursachen, die dafür sorgen, dass das Gebiss nicht normal ausgebildet ist. Und auch funktionelle Störungen des Beckens oder der Wirbelsäule können sich auf die Zahn- und Kiefergelenksstellung auswirken. Je nach Ursache der CMD lässt sich das Syndrom auch noch weiter unterteilen. Dabei können die folgenden Störungen auch in Kombination auftreten und sich noch gegenseitig verstärken:
- Störungen in der Kau- und Nackenmuskulatur, die beim Kauen oder auch dauerhaft Schmerzen verursachen.
- Gelenkveränderungen, die durch Verschleiß oder Krankheiten wie etwa Arthrose, entstehen.
- Beschwerden, die ausgelöst werden, weil die Knorpelscheibe im Kiefergelenk falsch liegt oder in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt ist.
Das Ergebnis ist aber immer das gleiche: «Der Biss ist verändert, Verspannungen der Muskulatur sind die Folge», so Saxer. Denn um die Zahnfehlstellungen auszugleichen, verkrampft sich die Muskulatur von Kauapparat, Gesicht und Kopf. Und dies kann in eine CMD münden.
Betroffene erleben dann oft sehr unangenehme Symptome – von knackenden Geräuschen im Kiefergelenk über Probleme beim Mundöffnen bis hin zu Schmerzen in vielen Regionen des Körpers.
Wenn die Zähne krank machen
Vereinfacht gesagt: Anjas Zähne hatten sie krank gemacht. Sie knirscht, wie rund ein Drittel der Menschen, im Schlaf mit den Zähnen. Fachleute nennen das Phänomen Bruxismus. Besonders heftig tut Anja dies in Phasen mit erhöhtem Stress. Insgesamt blieb dieser nächtliche Kraftaufwand über die Jahre nicht ohne Folgen. Anjas Beißer hatten sich derart abgerieben, dass Ober- und Unterkiefer beim Kauen nicht mehr richtig aufeinandertrafen. Diese Fehlstellung glich ihr Körper reflexartig aus, was zuerst ihre Spannungsschmerzen im Gesicht und Nacken auslöste und schließlich für Schwindel, Tinnitus und Co. sorgte.
Mindestens 20 Prozent der Bevölkerung sind von CMD betroffen
Auch wenn CMD vielen als Krankheitsbild noch nicht oder kaum bekannt ist, ist das Syndrom weit verbreitet. So schätzt etwa die Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik (GZFA): Rund 20 Prozent der Bevölkerung leiden unter einer behandlungsbedürftigen CMD. «In der Literatur wird die Häufigkeit der CMD sogar mit rund 40 Prozent oder höher angegeben», schreibt das Universitätsspital Zürich (USZ) zum Thema.
Nicht alle Menschen mit unharmonischem Gleichgewicht zwischen Zähnen und Kiefergelenken haben Beschwerden. So sind rund 20 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer beschwerdefrei – trotz abradierter Zähne. Doch jene, die leiden – Frauen sind häufiger und stärker betroffen als Männer, Jüngere eher als Ältere –, haben oft gravierende, schmerzhafte Symptome wie Kopf-, Rücken- und Schulterschmerzen, Migräne, Muskelverspannungen oder Schluckbeschwerden.
Andere häufige Krankheitsbilder bei CMD sind Kaugeräusche, Entzündungen im Kiefergelenk, Parodontose, Gesichtsschmerzen und Neuralgien (Nervenschmerzen), Halsschmerzen mit Heiserkeit und Engegefühl, Augenflimmern und Lichtempfindlichkeit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Ohrgeräusche bis hin zum Tinnitus und Hörminderung. Und auch bleierne Müdigkeit und depressive Verstimmungen können auf eine CMD zurückgehen.
Mühsame Ursachenforschung
Weil die Symptome äußerst vielfältig und vielschichtig sind und sich die Schmerzen oft gar nicht im Bereich des Kiefers zeigen, sondern an ganz unterschiedlichen Stellen im Körper, ist es auch für Zahnärztinnen und -ärzte nicht einfach, eine CMD zu diagnostizieren. Für HNO-Mediziner erst recht nicht. «Dabei kann man davon ausgehen, dass circa ein Drittel aller vermeintlichen HNO-Symptome eigentlich von der Halswirbelsäule ausgehen und die Hälfte dieser Patienten auch an einer CMD leiden», so Prof. Dr. Manfred Hülse, der langjährig am Universitätsklinikum Mannheim mit dieser Problematik befasst war.
Erschwerend kommt hinzu: Viele der Symptome, wie etwa Rücken- oder Kopfschmerzen, lassen zunächst nicht an einen falschen Biss denken, sondern an eine Reihe anderer Erkrankungen.
Auf die Spur kommen die Mediziner der CMD zunächst im Rahmen einer ausführlichen Anamnese. «Du wirst nach deiner Krankengeschichte befragt, deinen Symptomen und deren Ausprägung, der Situation, in der sie besonders stark auftreten, ob du mit den Zähnen knirschst und viel Stress hast …», erzählt Anja von ihren Erfahrungen. Darauf folgt dann in der Regel eine Funktionsanalyse von Zähnen, Kiefergelenken und Kaumuskulatur. Der Mediziner oder die Medizinerin tastet mit den Fingerspitzen die Kau- und Kopfmuskeln ab. Dabei wird auch untersucht, ob sich der Mund ohne Probleme weit genug öffnen lässt – in der Regel drei Finger breit.
Außerdem stehen den Fachleuten verschiedene technische Diagnoseverfahren zur Verfügung. Im USZ gehören dazu: Röntgen, MRT und Computertomographie, die Anomalien, Funktionsstörungen, Entzündungen oder Verschleiß aufdecken können, sowie der Kausimulator, auch Artikulator genannt. «Das Gerät simuliert die individuellen Zahnkontakte (Okklusion) und Bewegungen der Kiefergelenke. Eingesetzt werden Gipsmodelle des Unter- und Oberkiefers, die zuvor passgenau angefertigt wurden. So schließen wir aus, dass Muskelanspannungen und Reflexe von Patienten und Patientinnen ein falsches Bild ergeben», so das USZ.
Rainer Schöttl, Autor des Ratgebers «CMD: Kein Schicksal!» ergänzt: «Eine ganzkörperliche Statikuntersuchung hilft zudem, Haltungsprobleme zu erkennen. Denn Störungen im Bereich des Bisses dehnen sich wie Vibrationen aus. Diese «Bad Vibrations» prallen auf unsere Wirbelsäule und können die gesamte Körperhaltung beeinträchtigen.»
Gute Behandlungschancen bei CMD
Bis zur Diagnose ist es für viele Betroffene oft ein weiter und langer Weg. Und einer, der sie in viele verschiedene Praxen führt. Steht die Diagnose jedoch einmal fest, dann lässt sich CMD gut behandeln. Wenn man etwas Geduld und Ausdauer mitbringt, kann man die Beschwerden oft ganz und dauerhaft wieder loszuwerden. Meist ohne Operation.
Inzwischen gibt es in Deutschland zahlreiche Zahnmediziner, die sich auf CMD spezialisiert haben. Für die Schweiz fehlt leider ein Übersichtsverzeichnis. Hier rät CMD-Experte Rainer Schöttl: «Am besten erkundigt man sich telefonisch über die Arbeitsweise. Man ist richtig, wenn andere Heilberufe mit in die Behandlung einbezogen werden, wenn auf Zusammenhänge zwischen Kiefer-, Kopf- und Körperhaltung geachtet wird und wenn die Bisslage bei aufrechter Körperhaltung bestimmt wird. Mein Rat: Such einen Arzt, der seine Techniken dem Patienten anpasst, nicht umgekehrt.»
Individuelle Therapie
Wie genau behandelt wird, hängt von den Ursachen ab. Neben dem Zahnmediziner als erstem Ansprechpartner kann es nötig sein, weitere Spezialistinnen und Spezialisten verschiedener Fachgebiete mit einzubinden – vom Physiotherapeuten bis zur Hals-Nasen-Ohren-Ärztin. Anja zum Beispiel hat neben einer Schienentherapie – sie trägt nachts eine Aufbissschiene, die das Zähneknirschen verhindert –, auch mit einer Physiotherapie begonnen. Eine Injektion von Botulinum in die Kaumuskulatur hat zusätzlich ihren Bruxismus verbessert, «ein Segen, auch wenn das meine Versicherung nicht übernimmt.» Tagsüber massiert sie sich außerdem regelmäßig selbst und macht mit Hilfe von Videos Übungen, um Verspannungen im Kiefer zu lösen.
Und weil bei ihr – neben der Zahnfehlstellung – auch die Psyche eine entscheidende Rolle fürs Knirschen spielt, geht sie zur Psychotherapie und meditiert regelmäßig, um Stress abzubauen.
Wer im Alltag, Beruf, Familienleben oder der Partnerschaft unter Druck steht, reagiert sich oft nachts im Schlaf beim Zähneknirschen ab. Laut USZ tun dies manche Betroffenen sogar tagsüber, weil ihnen das sprichwörtliche Zähne-Zusammenpressen hilft, angespannte Situationen durchzustehen und negative Gefühle auszuhalten. Dadurch kann die CMD nicht nur entstehen, die Symptome können sich – so schon vorhanden – noch weiter verstärken und schließlich chronisch werden.
Sprich CMD an, wenn du Schmerzen hast
Ein Tipp von Anja: «Wenn du irgendwo in deinem Körper Schmerzen oder Beschwerden hast, denk auch an deine Zähne als mögliche Ursache und sprich den Arzt auf CMD an.» Inzwischen, so Experte Rainer Schlöttl, wird man dafür in der Regel nicht mehr belächelt. «Die CMD kommt mehr und mehr ins Bewusstsein – nicht nur in der Zahnmedizin, auch in anderen Disziplinen. Heute erkennen viele Menschen die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Systemen unseres Körpers.»
Titelfoto: shutterstockGäbe es meinen Job nicht, würde ich ihn erfinden wollen. Schreiben ist die Möglichkeit, ein paar Leben parallel zu führen. Heute stehe ich mit einer Wissenschaftlerin im Labor, morgen gehe ich mit einem Forscher auf Südpolexpedition. Täglich entdecke ich die Welt, erfahre Neues und treffe spannende Menschen. Aber nur kein Neid: Das Gleiche gilt fürs Lesen!
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