Zugfahren in Europa: Gar nicht so einfach
Ich habe mir zum ersten Mal einen Interrail-Pass gekauft. Mit 31 Jahren. Dadurch habe ich nicht nur einen Teil Europas, sondern auch die Tücken der verschiedenen Bahngesellschaften kennengelernt. Ein Erfahrungsbericht.
Ich wollte nicht mit dem Flugzeug nach London. Ich habe dieses Jahr bereits zwei Langstreckenflüge zu verantworten, was sich in meiner Nachhaltigkeitsbilanz nicht sonderlich gut macht. Also habe ich mich dazu entschieden, mit dem Zug an die Royal Military Academy Sandhurst zu reisen. Die Schwester eines Freundes hat dort gerade ihre Ausbildung als «Second lieutenant» abgeschlossen, was mit einer Militärparade und einem anschliessendem Ball gefeiert wurde, zu dem ich eingeladen war. Für alle Fans der britischen Royals: Auch Prinz William und Harry haben die Akademie einst erfolgreich abgeschlossen.
Ein Interrail-Pass stellte sich als das günstigste Angebot heraus. Und das, obwohl für den TGV und Eurostar noch einmal Reservationsgebühren fällig wurden. Die App dazu war wunderbar einfach zu bedienen. Jederzeit konnte ich Zugfahrten hinzufügen und entfernen, alle waren in einem einzigen QR-Ticket zusammengefasst.
Etwas komplizierter aber stellte sich das Zugfahren selbst heraus.
Fahrtag 1: Zürich – Paris – London – Reading
Der TGV von Zürich nach Paris häuft ohne erkennbaren Grund immer mehr Verspätung an, sodass ich beinahe den Eurostar, der an einem anderen Pariser Bahnhof losfährt, verpasse. Immerhin darf ich mich dank nettem Personal bei der Pass- und Gepäckkontrolle vordrängeln und den Zug am Ende sogar mit sechs Minuten Spatzig besteigen. Durch den Channel Tunnel erreiche ich London St. Pancras in 2,5 Stunden. Jetzt nur noch mit der Metro an den Bahnhof Paddington und von dort nach Reading.
Wäre eigentlich kein Problem, würde nicht gerade das englische Bahnpersonal streiken, sodass ein Teil der Züge einfach gestrichen wird. Immerhin bleibt so Zeit für eine kalte Cola. Auch der Zug der Great Western Railway kann mich mit moderner Ausstattung und gekühlten Waggons besänftigen.
Dort beginne ich, über das englische Bahnsystem zu recherchieren. Eine British Railway nach dem Pendant der SBB gibt’s seit 1994, als der «Railways Act 1993» in Kraft trat, nicht mehr. Dank Margaret Thatcher und ihren konservativen Tories wurde die damalige «British Rail» zu Zwecken der Gewinnmaximierung in 100 verschiedene Unternehmen aufgeteilt.
Dadurch wurde das Zugfahren in England zwar nicht günstiger, aber dafür attraktiver. Das zumindest sagen die Zahlen – in den Jahren nach der Privatisierung verdoppelte sich die Passagierzahl.
Und das sagt auch Mark Smith, der Autor der besten Website für Ferrophile: The Man in Seat 61. «Das Rollmaterial und der Gleiszugang blieben in öffentlicher Hand, weshalb die privaten Franchise dort keine Kosten sparen konnten.» Auch Fahrplan und Haupttarife blieben laut dem ehemaligen Mitarbeiter des englischen Transport-Departements weiter reguliert. «Was also können die privaten Betreiber tun, um Geld zu verdienen? Durch Modernisierung und höhere Frequenz mehr Fahrgäste anlocken!»
Und die wurden definitiv angelockt. Zumindest sind die Londoner Bahnhöfe wie auch die Züge voll. Trotzdem komme ich am Ende relativ komfortabel in Reading an. Ich habe aber auch fast nur Hochgeschwindigkeitszüge genommen.
Fahrtag 2: London – Dover– Calais – Lille – Brüssel – Antwerpen
Das ändert sich am zweiten Tag, an dem ich meinen Interrail-Pass aktiviere. Ich bin nach einer durchtanzten Nacht mit jungen Mitgliedern der englischen Army unterdessen wieder in London angekommen. Aus einem schönen Hotel mit direktem Blick auf den hölzernen Jesus der benachbarten Kirche geht’s für mich los in Richtung Antwerpen. Da das Eurostar-Sitzplatzreservierungs-Kontingent für Interrailer längst aufgebraucht ist, entscheide ich mich für eine Fahrt mit der Fähre über den Ärmelkanal.
Zuerst muss ich aber von London nach Dover kommen. Zehn Minuten vor geplanter Abfahrt des Zuges werde ich am proppenvollen Bahnhof St. Pancras langsam nervös. Das Gleis wird noch immer nicht angezeigt. Mit Dutzenden anderen Passagieren glotze ich ununterbrochen auf die grosse Anzeigetafel, bis drei Minuten vor Abfahrt endlich was passiert: Der Zug nach Dover fährt auf Gleis 3. Im hinteren Teil ab Sektor C. Wie von der Tarantel gestochen, rennt die gesamte Meute los, um den Zug noch zu erwischen. Ein gewöhnungsbedürftiges System. Da lobe ich mir die SBB und ihren Hang zur Routine. Der Interregio von Zürich Hauptbahnhof in meine Heimatstadt Lenzburg fährt fast immer entweder auf Gleis 15 oder 16. Wenn nicht, dann wird mir das früh genug auf der App und am Bahnhof angezeigt.
Da ich ohne Kinderwagen und Koffer unterwegs bin, kann ich sogar noch einen Sitzplatz nach Dover ergattern, wo ich schliesslich mit 20-minütiger Verspätung ankomme. Von da an geht’s nur noch bergab.
Die drei Kilometer bis zum Hafen muss ich im Stechschritt zurücklegen. Busverbindungen? Fehlanzeige. Für eine Schweizerin, die es gewohnt ist, dass sogar ins abgelegenste Bergdorf noch regelmässig ein Postauto fährt, ist es doch etwas irritierend, dass Bahnhof und Hafen nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr erschlossen sind. Mit 5317 Kilometern (auf einer Fläche von 41285 Quadratkilometern) ist das Schweizer Eisenbahnnetz eines der dichtesten der Welt und lässt mich manchmal vergessen, warum Menschen überhaupt noch Autos besitzen. Die Situation in Dover ruft mir das anschaulich in Erinnerung.
Trotzdem schaffe ich es drei Minuten vor Schliessung des Check-in-Schalters (die Zeit ist eventuell von Anfang an schon meinerseits etwas knapp berechnet) zur Fähre. Im Bus, der uns Fussgänger:innen von der Pass- zur Gepäckkontrolle und dann zum Schiff fährt, wird mir auch klar, weshalb hier kaum jemand eine Linienbusverbindung zwischen Bahnhof und Hafen vermisst. Nur Rucksacktourist:innen und ein paar Musiker nehmen die Überfahrt ohne Auto in Angriff. Letztere spielen irgendwann im Raucherbereich des Decks Ständchen um Ständchen und machen die Reise so immerhin recht kurzweilig.
In Calais angekommen, zeigt sich das gleiche Bild wie in Dover: kein Bus zum Bahnhof. Nur, dass die Strecke hier noch weiter und entlang der Autobahn verliefe. Dass ich den Konjunktiv verwenden kann, liegt an einem netten Belgier, der sein reserviertes Uber in die Innenstadt mit mir und anderen teilt. Nach einem Besuch im «Carrefour Express», um mich mit Snacks einzudecken, begrüsst mich die Anzeigetafel in der kleinen Bahnhofshalle mit den netten Worten «supprimé» (auf Deutsch: «gestrichen) unter jeder einzelnen Verbindung. Auch in Frankreich wird gestreikt. Immerhin finde ich irgendwann heraus, dass in einer Seitengasse ein Ersatzbus an den TGV-Bahnhof fährt, sodass ich es pünktlich nach Lille schaffe.
Dort google ich ewig nach passenden Verbindungen nach Antwerpen. Gebe ich die gesamte Strecke ein, spucken die französische (SNCF) wie auch die belgische (SNCB) Bahn nur einen Bruchteil der Ergebnisse aus, die ich mit der Verbindungssuche der einzelnen Streckenabschnitte (Lille – Brüssel, Brüssel – Antwerpen) erhalte.
«Die europäische Bahnindustrie ist wahnsinnig zersplittert», sagt Zugprofi Smith dazu und gibt gleich Tipps: «Ich nutze www.bahn.de als universellen Fahrplan. Auch www.thetrainline.com ist nützlich, da es immerhin die Fahrkartensysteme von Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien und den Benelux-Ländern verbindet.» Für die restlichen Länder müsse jedes Billett einzeln auf der Website des jeweiligen Betreibers gekauft werden. Auch die Preise seien keineswegs einheitlich. «Tickets für die Schweiz und Italien können entweder bei der SBB oder bei Trenitalia gekauft werden. Trenitalia aber ist in der Regel günstiger als die SBB. Vor allem, wenn du weiter als Mailand fährst, da die SBB keinen Zugang zu den günstigen Vorverkaufspreisen von Trenitalia für italienische Binnenzüge hat. Wegen solcher Situationen habe ich mit ‹Seat 61› begonnen.»
Ich komme überraschenderweise zwei Stunden früher als erwartet in Antwerpen an. Im Gegensatz zum Online-Interrail-Fahrplan kann ich in Lille am Schalter noch einen Sitzplatz für den TGV nach Brüssel reservieren (sogar mit gratis Upgrade in die 1. Klasse). Die mir online angezeigte Busverbindung über Tournai hingegen gibt es laut Mitarbeiterin gar nicht. Hätte ich nicht nachgefragt, hätte ich die Nacht in Lille verbracht. So aber steige ich nach insgesamt 12 Stunden und 40 Minuten Reisezeit um 22 Uhr aus dem Regionalzug in die wunderschöne Bahnhofshalle in Antwerpen. Mit dem Auto hätte das Ganze 5 Stunden und 19 Minuten gedauert.
Fahrtag 3: Antwerpen – Brüssel – Frankfurt am Main – Zürich
Ich habe keine Lust mehr auf Zusatzkosten durch Sitzplatzreservierungen in Frankreich, weshalb ich mich für die Rückreise über Deutschland entscheide. Zum ersten Mal kann ich Abfahrts- und Zielort in die Interrail-App eintippen und bekomme eine gut durchgetaktete Reise ohne Aufpreis und dutzende Zwischenstopps angezeigt. Nur die Umsteigezeit von fünf Minuten in Brüssel macht mir etwas zu schaffen. Als ich das letzte Mal in Belgien Zug gefahren bin, habe ich aufgrund massiver Verspätungen beinahe meinen Flug verpasst. Dieses Mal aber kann ich gemütlich das Gleis wechseln und bis Frankfurt vorbeiziehende Wohngebiete, Wiesen und sogar den Kölner Dom betrachten.
In Frankfurt staune ich dann mehr über die dürftige Essensauswahl (etwa 14 Stände mit beinahe identischer Sandwichauslage, dafür kaum was anderes) als über die läppischen 15 Minuten Verspätung des ICE. Bis Zürich holt er sogar noch drei Minuten auf. Da habe ich mit der DB also schon ganz andere Dinge erlebt, zum Beispiel eine kleine von einem Bahnhofsschnitzelbrot ausgelöste Lebensmittelvergiftung auf der Rückreise von Berlin.
Zuhause im Bett lasse ich meine «Kurzreise» noch einmal Revue passieren. Ich habe viel erlebt, viel gesehen, viel auf Anzeigetafeln und Online-Fahrpläne gestarrt. Ich musste immer wieder flexibel und geduldig sein und habe dadurch wieder einmal gemerkt, dass die SBB mit ihren paar Minuten Verspätung und einzelnen Gleisverschiebungen eine richtige Luxusausführung einer Bundesbahn ist. Kein Wunder, wurde sie vom «European Railway Performance Index» in Bezug auf Anzahl beförderter Personen, Pünktlichkeit, gefahrene Kilometer pro Fahrgast und Unfälle zur besten in Europa gekürt.
Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.