Ahnungslos glücklich: Wie ich früher Kaufentscheidungen traf
Hintergrund

Ahnungslos glücklich: Wie ich früher Kaufentscheidungen traf

David Lee
14.2.2023

Früher kaufte ich Geräte, ohne etwas darüber zu wissen. Ich wusste nicht einmal, dass das ein Problem sein könnte. Auch wenn heute vieles besser ist, trauere ich den naiven Zeiten ein wenig nach.

Foto-Ausrüstung, Audio-Geräte, Computer: Das alles habe ich schon früher gekauft. Nur sehr, sehr anders. Der Unterschied zwischen damals und heute könnte grösser nicht sein. Denke ich heute daran zurück, kommt mir das surreal vor – wie aus einer anderen Welt.

Es liegt zum grössten Teil daran, wie sich das Internet entwickelt hat, aber auch daran, wie ich mich verändert habe. Und ich habe den Verdacht, dass diese beiden Dinge zusammenhängen.

Am besten lässt sich die Geschichte anhand meiner Erfahrungen mit Musikinstrumenten erzählen. Auch wenn du selbst kein Instrument spielst – im Einkaufsverhalten erkennst du dich bestimmt wieder, wenn du über 40 bist. Und vielleicht auch sonst.

Achtung, fertig, gekauft

Als pickliger Teenager beschloss ich 1992, E-Gitarre zu lernen. Also betrat ich Andy’s Music Shop in Uster und sagte: «Grüezi, ich hätte gern eine E-Gitarre.» Eine Viertelstunde später war ich stolzer Besitzer eines, wie ich fand, supergeilen Instruments.

Keine Sekunde habe ich mich gefragt, warum es verschiedene Gitarren gibt und was ihre Unterschiede sind. Warum auch? Das würde mir ja der Verkäufer erklären. Tat er auch. Nur verstand ich kein Wort von dem, was Andy, der Ladenbesitzer, sagte. Eines dieser unverständlichen Wörter war «Strat». Heute weiss ich: Das ist die Abkürzung für Stratocaster, ein bestimmter Typ von E-Gitarre. Damals wusste ich nicht mal, dass ich gerade eine Strat kaufte. Genau genommen war es eine Strat-Imitation, also nicht vom Original-Hersteller Fender, sondern von einer koreanischen Billigmarke namens Vester. Auch das wusste ich selbstverständlich nicht und es war mir auch vollkommen egal.

Das ist eine Stratocaster. So ungefähr sah meine auch aus.
Das ist eine Stratocaster. So ungefähr sah meine auch aus.
Quelle: Fender

«Kann ich die Gitarre an die Stereoanlage anschliessen?» wollte ich noch wissen. Na ja, geht schon, meinte Andy. Ich solle einfach nicht zu laut aufdrehen. Das fand ich gut. Denn ich hatte von meinem Konfirmationsgeld eine Stereoanlage gekauft und war mehr oder weniger pleite. Auch dieser Kauf war rückblickend schräg: Die Hifi-Ecke im Shopping-Center hatte zwei Stereoanlagen. Ich kaufte die teurere. Die hatte mehr Knöpfe und Beschriftungen, musste also besser sein.

Etwas später tauchte ich erneut im Musikladen auf. «Grüezi, ich hätte gern einen Verstärker.» Irgendwie klang meine Gitarre über die Stereoanlage nicht so gut. Nach sehr kurzer Zeit im Laden kaufte ich einen kleinen und billigen Gitarrenverstärker.

Damit klang es aber immer noch nicht gut. Nicht fetzig. So ganz anders als meine Rock-Vorbilder. Ein Schulkollege, der auch Gitarre spielte, sagte mir, ich bräuchte einen Verzerrer.

«Grüezi, ich hätte gern einen Verzerrer …»

Ich bekam inzwischen Prozente im Musikladen, wobei Andy den Preis nicht ausrechnete, sondern nach Gutdünken festlegte. Ich glaube, er gab prinzipiell jedem Prozente, so wie er prinzipiell jeden duzte.

Der Verzerrer war ein oranges Metallkästchen, das zwischen Gitarre und Verstärker geschaltet wurde. Name: Boss Distortion DS-1. Dieses Ding habe ich immer noch, und es wird bis heute verkauft.

Gut klang es damit immer noch nicht. Nur anders. Das reichte mir aber für den Moment.

Mein erstes WG-Zimmer 1998. Mit dem ersten, winzigen Gitarrenverstärker, dem Verzerrer, meiner zweiten Gitarre. Und meinem ersten Fernseher!
Mein erstes WG-Zimmer 1998. Mit dem ersten, winzigen Gitarrenverstärker, dem Verzerrer, meiner zweiten Gitarre. Und meinem ersten Fernseher!
Quelle: David Lee

Ein Röhrenverstärker, das ist die Lösung! Oder auch nicht.

Jahre später, als ich wieder Geld hatte, war ich davon überzeugt, dass ich einen Röhrenverstärker brauche. Das sagten mir verschiedene Leute: Ein Röhrenverstärker klinge viel besser als ein Transistorverstärker.

«Grüezi, ich hätte gern einen Röhrenverstärker.»

Ich war jetzt in einem anderen Laden, in Zürich. Der war zwar gross, aber ziemlich leer. Sah nach Totalliquidation aus. Innerhalb meines Budgets gab es nur noch einen Röhrenverstärker, gebraucht, 500 Franken. Den zeigte mir der Verkäufer. Ich probierte ihn kurz aus, und da ich nicht wusste, was daran schlecht sein könnte, war ich zufrieden. Ich kaufte ihn. Er war wie alle Röhrenverstärker sauschwer. Ich schleppte ihn zur Tramhaltestelle, in den Zug, in den Bus, nach Hause.

Der Röhrenverstärker hatte zwei Kanäle. Einer davon war verzerrt. Es klang besser als bei der kleinen Box, aber nicht richtig gut. Immerhin war das Ding verdammt laut.

Und so weiter, und so fort

So ging das noch viele Jahre weiter. Ich kaufte eine Gitarre, die so aussah wie die Gitarre meines Lehrers – denn wenn er spielte, klang es gut. Ich kaufte einen Overdrive-Effekt statt einen Verzerrer – noch so eine Metallbox, einfach in Gelb statt Orange. Denn bei der anderen Band in unserem Übungsraum klang das sehr, sehr gut. Bei mir dann weniger.

Der Gitarrist der anderen Band hatte ein Gerät mit einem mehrzeiligen Bildschirm an seinen Verstärker angehängt – ein regelrechter Computer, der minutenlang aufgestartet werden musste. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was dieses Gerät genau tat, aber ich kaufte mir ebenfalls eines. Ein Multi-Effektgerät der Marke Digitech, weil der Verkäufer im Laden gesagt hatte, das sei das einzige, was man ernst nehmen könne. Damit konnte ich ganze Nachmittage verbringen und unendlich viele Sounds programmieren, die alle mehr oder weniger scheisse klangen.

Dank dem Digitech GNX2 eröffneten sich mir völlig neue Möglichkeiten, beschissene Sounds zu kreieren.
Dank dem Digitech GNX2 eröffneten sich mir völlig neue Möglichkeiten, beschissene Sounds zu kreieren.
Quelle: Reverb.com

Mittlerweile war ein neues Jahrtausend angebrochen, ich konnte recht gut Gitarre spielen und war nebenbei erwachsen geworden. Aber ich verstand immer noch nicht, warum etwas gut klang oder eben nicht. Immerhin sah ich ein, dass es nichts bringt, weiterhin nach dem Zufallsprinzip Krempel zu kaufen.

Zuerst zu wenig Information, jetzt zu viel

Heute ist alles anders. Es kann monatelang dauern, bis ich zu einer Kaufentscheidung gelange. Ich schaue viele, unfassbar lange Youtube-Videos, in denen eine Gitarre im Detail vorgestellt wird und höre mir an, wie sie klingt. Danach weiss ich aber noch lange nicht, wie sie wirklich klingt, denn zahlreiche andere Faktoren beeinflussen den Klang: Der Verstärker, allfällige Effektpedale, und wie der Gitarrist spielt. Also schaue ich Videos über Verstärker, Effektgeräte und über diesen Gitarristen.

Zudem gibt es Hunderte ähnlicher Gitarren. Ich muss mich ermahnen, dass mein Hobby Gitarrespielen ist, nicht Gitarrenvideos schauen.

Was ist geschehen?

Das Internet ist geschehen. Das gabs zwar schon 1992, ich hatte allerdings noch nie davon gehört. Und als ich es 1996 kennenlernte, war es nichts weiter als eine lustige Zeitverschwendung. Informieren konnte ich mich dort ebenso wenig wie shoppen. Das blieb lange so.

Hätte es das Web damals schon in der heutigen Form gegeben, hätte ich mir mein Wissen schneller aneignen können. Ich hätte Kaufentscheidungen informierter getroffen und wäre nicht jahrelang im Dunkeln getappt. Wahrscheinlich hätte ich weniger Bullcrap zusammengekauft. Allerdings bin ich mir da nicht so ganz sicher. Denn ohne Internet wusste ich von den meisten unsinnigen Dingen nichts und lief somit auch nicht Gefahr, sie zu kaufen.

Zwanghaftes Recherchieren

Durch die neuen Möglichkeiten habe auch ich mich verändert. Ich bin viel kritischer, hinterfrage alles. Ich bin aber auch viel ängstlicher: bloss nichts kaufen, was falsch oder zu teuer sein könnte! Ich spare also nicht nur Zeit, weil ich mich besser informieren kann. Ich verliere auch Zeit. Weil ich zu viele Videos gucke und zu viel überlege.

Das hat auch mit einem Phänomen namens Choice Overload zu tun. Es gibt so viel Auswahl, dass ich nie an den Punkt komme, wo ich sicher bin, dass es nicht noch etwas Besseres gäbe. Das kann dazu führen, dass ich den Kauf ewig hinausschiebe, obwohl ich unzufrieden mit der jetzigen Situation bin.

Bei grossen und teuren Anschaffungen mag das ja noch einigermassen sinnvoll sein. Aber ich kenne einige Leute, die nicht einmal einen Wasserkocher kaufen können, ohne sich vorher durch zahlreiche Testberichte zu lesen. Sie arbeiten sich wochenlang in die Wasserkochermaterie ein und sind dann überzeugt, besser als jeder andere Mensch auf Erden über Wasserkocher Bescheid zu wissen. Aber wozu? Der beste Wasserkocher der Welt kocht auch nur mit Wasser.

Vergleichst du noch oder lebst du schon?

Der Punkt an der Sache ist: Ich war nicht unzufriedener, als ich früher ohne blassen Schimmer Sachen kaufte. Klar gab es Enttäuschungen, aber ich nahm das nicht weiter tragisch. Heute ärgert mich ein Fehlkauf viel mehr – ich habe schliesslich viel Zeit investiert und dennoch hätte ich es besser wissen können, ja müssen.

Ich bin zwiegespalten. Auf keinen Fall möchte ich wieder so dumm sein wie mit 16 und die gleichen Fehler nochmal machen. Aber ich wünsche mir etwas von der optimistischen Naivität zurück. Diese Haltung: Nicht ständig vergleichen, sondern einfach mal etwas ausprobieren. Eigene Erfahrungen sammeln. Dinge selber tun, statt zuschauen, was andere tun. Mich nicht mit dem beschäftigen, was ich haben könnte, sondern mit dem, was ich habe. Kurz: Leben.

Titelbild: Shutterstock/GTS Productions

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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