Grundwissen: Gitarrenverstärker und ihre digitalen Nachbildungen
Ratgeber

Grundwissen: Gitarrenverstärker und ihre digitalen Nachbildungen

David Lee
30.8.2024

Warum brauchen E-Gitarren spezielle Verstärker mit Technologie aus den 50er-Jahren? Und welche Alternativen gibt es im digitalen Zeitalter? Eine Einführung für Anfänger.

Eine E-Gitarre muss verstärkt werden, weil sie keinen Schallkörper hat und daher sehr leise ist. Theoretisch kannst das Gitarrenkabel direkt in den Audio-Eingang einer Stereo-Anlage, eines Mischpults oder eines Computers stecken. Doch das klingt nicht gut. Im Video unten ein Beispiel.

Ein Hifi-Verstärker gibt das Audiosignal möglichst originalgetreu wieder. Doch bei der E-Gitarre ist das gar nicht erwünscht. Im Gegenteil soll der Ton auf eine bestimmte Art geformt werden. Dafür braucht es einen speziellen Gitarrenverstärker.

Bis heute arbeiten viele Gitarrenverstärker mit Röhren – eine Technologie, die in den 1960er-Jahren durch die Verbreitung der Transistoren weitgehend ausgestorben ist. Bei Gitarrenverstärkern haben sich die Röhren gehalten, weil sie bei Übersteuerung den typischen verzerrten Sound von Rockgitarren erzeugen. Zwar gibt es viele Gitarrenverstärker, die mit Transistoren statt mit Röhren arbeiten. In der Regel wird dann aber der Klang von Röhren imitiert. Die Röhre bleibt damit das Mass der Dinge.

Die Lautsprecherbox (Cabinet)

Es ist nicht nur der Verstärker, der den Klang formt, sondern auch der oder die Lautsprecher. Auch da hat das Gitarren-Equipment seine Eigenheiten. Lautsprecherboxen für Gitarren haben meist einen, zwei oder vier identische Lautsprecher. Üblich sind zehn oder zwölf Zoll Durchmesser. Dadurch bekommt der Klang ein klares Profil, das die Mitten und bei Bedarf auch den oberen Bassbereich betont.

In vielen Gitarrenverstärkern ist die Lautsprecherbox bereits fest mit eingebaut – man spricht dann von einer Combo. In anderen Fällen muss eine externe Lautsprecherbox angeschlossen werden. Typischerweise haben Combos einen oder zwei Lautsprecher, separate Boxen dagegen zwei oder vier.

Der berühmte Vox AC30 von 1958 in einer Neuauflage. Von hinten zu sehen: Der AC30 hat wie viele andere Gitarrencombos zwei 12-Zoll-Lautsprecher eingebaut.
Der berühmte Vox AC30 von 1958 in einer Neuauflage. Von hinten zu sehen: Der AC30 hat wie viele andere Gitarrencombos zwei 12-Zoll-Lautsprecher eingebaut.
Quelle: Vox
Die Marshall-Lautsprecherbox 1960 mit vier 12-Zoll-Lautsprechern. Auch sie ist ein Klassiker.
Die Marshall-Lautsprecherbox 1960 mit vier 12-Zoll-Lautsprechern. Auch sie ist ein Klassiker.
Quelle: Marshall

Die Verzerrung

Ein Gitarrenverstärker erzeugt unterschiedliche Töne, je nachdem, wie er eingestellt ist. Hier spielt der Gain-Regler, also der Eingangspegel, eine wichtige Rolle. Drehst du ihn auf, erhöht sich zuerst die Lautstärke. Aber nur solange der Pegel nicht übersteuert. Drehst du bei Beginn der Übersteuerung noch weiter auf, wird der Sound nicht mehr lauter, sondern verzerrter.

Ursprünglich wurde diese Verzerrung bloss als technischer Mangel gesehen; erst später wurde sie als Stilmittel genutzt. Komplett verzerrungsfreie Verstärker konnten ironischerweise erst dann gebaut werden, als sie nicht mehr erstrebenswert waren.

Heute gehört die Verzerrung als Feature dazu. Wie stark sie sein soll, hängt vom Stil ab. Manche Verstärker verzerren schon auf der niedrigsten Gain-Stufe, manche auf der höchsten immer noch nicht – dazwischen gibt es alles. Viele Verstärker haben zwei oder drei Kanäle, die sich hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass die Verzerrung früher oder später einsetzt. Der stärker verzerrte Kanal ist meist auch lauter und wird per Fussschalter aktiviert, wenn ein Solo beginnt.

Die Nachteile der Röhrenverstärker

Abgesehen von ihrem tollen Sound haben Röhrenverstärker eigentlich fast nur Nachteile. Angefangen beim Gewicht: Schon eine kleine Röhrencombo wiegt deutlich über zehn, eine grosse kann 30 Kilo schwer sein. Röhrenamps sind wesentlich teurer als ihre Transistor-Kollegen. Nach dem Einschalten sind sie nicht sofort bereit, sondern müssen erst aufwärmen. Die Röhren nutzen sich mit der Zeit ab und der Klang wird dumpfer. Sie müssen also ersetzt werden. Bei vielen Modellen ist es zudem nicht möglich, leise und verzerrt zu spielen. Verzerrung gibt’s erst ab einer Lautstärke, die fürs Üben zu Hause viel zu laut ist.

Es erstaunt daher nicht, dass seit Jahrzehnten Produkte auf den Markt kommen, die den Röhrensound ohne Röhren imitieren. Anfangs wurden dafür Transistorschaltungen ausgetüftelt. Auch wenn einige davon ganz ordentlich klangen, war es nie dasselbe wie richtiger Röhrensound.

Modeling Amps

Ein neuerer Ansatz erstellt ein digitales Modell eines realen Verstärkers, meist eines Röhrenverstärkers. Das Verfahren existiert seit über 20 Jahren und hat sich in dieser Zeit stark verbessert.

Die Modeling Amps sehen auf den ersten Blick aus wie klassische Röhrenverstärker. Sie lassen sich auch ähnlich bedienen. Doch abgesehen davon, dass die typischen Nachteile der Röhren entfallen, bietet ein solcher Amp auch mehr Möglichkeiten. Meistens stehen gleich mehrere Verstärkermodelle zur Wahl. Du kannst also mit einem solchen Verstärker den Klang von verschiedenen Verstärkern simulieren.

Hier zum Vergleich ein Modeling Amp und ein Röhren-Amp. Beide haben einen 12-Zoll-Lautsprecher eingebaut, dennoch ist der Modeling Amp nur etwa halb so schwer. Der Boss Katana 50 wiegt 11,6, der Black Cat 21 Kilogramm. Der weitaus teurere Preis des Black Cat hat nicht nur, aber auch mit der Röhrentechnologie zu tun.

Amp Modeling ohne Amp

Die digitale Amp-Simulation kann auch in ein externes Gerät ausgelagert werden. Ein solches Gerät hat meist die Form eines Fussschalters. Es kann nicht nur Verstärker, sondern auch Gitarrenlautsprecher nachbilden. Daher lässt es sich direkt an einen Computer zur Aufnahme anschliessen – aufwendiges Mikrofonieren entfällt. Verbinden lässt es sich auch ans Mischpult für eine Probe, Jam-Session oder einen Live-Auftritt.

Hier spiele ich zum Vergleich dasselbe wie im Video oben, ebenfalls auf der Stereoanlage, aber mit einem kleinen vorgeschalteten Amp Simulator, dem Line 6 Pod Express.

Es ist auch möglich, einen solchen Fussschalter in Kombination mit einem echten Gitarrenverstärker zu nutzen. Die Lautsprechersimulation lässt sich ausschalten, damit sie nicht dem realen Gitarrenlautsprecher in die Quere kommt. Ebenso lässt sich der Vorverstärker des realen Amps umgehen, damit es hier nicht zu seltsamen Mischungen kommt. Voraussetzung dafür ist, dass der Verstärker einen Effekt-Loop hat. Beim Eingang des Effekt-Loops wird das Kabel eingesteckt.

Das Pedal macht einen bestehenden Verstärker vielseitiger. Das ist besonders nützlich, wenn der Verstärker von sich aus eher ein One-Trick-Pony ist. Ich habe zwei Verstärker-Combos, die beide das gleiche Problem haben: Der verzerrte Sound ist nicht das Gelbe vom Ei, weil er auf einer alten Transistorschaltung basiert. Clean klingen dagegen beide sehr gut. Mit dem Amp-Sim-Pedal werden daraus vielseitige und gut klingende Verstärker.

Noch einen Schritt weiter: nur noch Software

Was die Aufnahme am Computer betrifft, kannst du auch das Fusspedal noch weglassen und stattdessen eine Software installieren, die Verstärker und Lautsprecher simuliert. Denn die Modeling-Technologie ist im Kern Software.

Bekannte Produkte in diesem Bereich sind zum Beispiel Guitar Rig von Native Instruments oder AmpliTube von IK Multimedia. Aber auch in Apples GarageBand sind bereits einige Gitarrenverstärker enthalten.

Mit diesem Verfahren kannst du den Sound einer einmal gemachten Aufnahme frei verändern. Mit dem Fusspedal dagegen legst du dich bei der Aufnahme fest, wie der Sound klingen soll.

In Software-Lösungen wie AmpliTube sind die Möglichkeiten teilweise so vielfältig, dass du kaum noch zum Spielen kommst.
In Software-Lösungen wie AmpliTube sind die Möglichkeiten teilweise so vielfältig, dass du kaum noch zum Spielen kommst.
Quelle: IK Multimedia

Warum Gitarrenverstärker noch nicht ausgedient haben

Weniger Schlepperei, weniger Ausgaben, mehr Flexibilität: Amp Modeling hat offensichtlich grosse Vorteile. Es klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Dennoch halten viele Gitarristinnen und Gitarristen bis heute am klassischen Setup fest. Sie schleppen ihre Röhrenverstärker von Auftritt zu Auftritt, allenfalls steigen sie auf einen Modeling Amp um – aber ganz auf einen Amp verzichten wollen die wenigsten.

Dafür gibt es die unterschiedlichsten Gründe. Vielleicht klingt das Original doch noch ein bisschen besser, trotz aller Fortschritte in der Digitaltechnik. Oder das Spielgefühl ist direkter und dynamischer. Beides kann man sich aber auch einbilden.

Meiner Meinung nach sind es vor allem zwei Dinge, die beim Amp Modeling Probleme machen können. Das eine: Du hast endlos viele Möglichkeiten. Das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Schon bei einem simplen, klassischen Verstärker dauert es einige Zeit, bis du herausgefunden hast, wie du ihn einstellen musst, damit er für dich am besten klingt. Beim Line 6 Helix beispielsweise hast du 106 Verstärker, 83 Lautsprecherboxen und 273 virtuelle Effektpedale. Dadurch ergeben sich unzählige Kombinationsmöglichkeiten, die dich leicht überfordern können. Und je mehr du in den Sound reinpackst, desto schwieriger wird es. Live kann es zudem befremdlich wirken, wenn dein Instrument in jedem Stück anders klingt.

Das Pedal Line 6 Helix bietet unzählige virtuelle Verstärker, Boxen und Pedale.
Das Pedal Line 6 Helix bietet unzählige virtuelle Verstärker, Boxen und Pedale.
Quelle: Line 6

Das andere Problem: Nur weil du Presets abspeichern kannst, heisst das noch lange nicht, dass es immer und überall gleich klingt. Ob der Sound passt, hängt von zahlreichen Faktoren ab, die ausserhalb deiner Kontrolle liegen: die Akustik des Raumes, die Einstellung des Mischpults, der Mix mit den anderen Instrumenten, die Positionierung der Boxen. Das bedeutet, dass du vor Ort wieder Anpassungen vornehmen musst. Hast du nur einen Amp, sind diese Anpassungen einfacher, weil du weniger Möglichkeiten, dafür umso mehr Erfahrung hast.

Du kannst dich auch mit der Modeling-Technik auf wenige einfache Sounds beschränken. Das ist ein Lernprozess. Ich denke, es lohnt sich heute auf jeden Fall, sich damit zu beschäftigen. Zumal es mittlerweile Tools gibt, die günstig und dennoch brauchbar sind.

Titelbild: Shutterstock

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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