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And cut! Andy Serkis wühlt im Dreck, um Gollum zu spielen, und hätte dafür einen Oscar verdient

Luca Fontana
17.1.2019

Warum wirkt Gollum aus «Lord of the Rings» so realistisch? Weil er von einem echten Menschen gespielt und erst danach am Computer animiert wurde: Schauspieler Andy Serkis gibt sich am Set der totalen Lächerlichkeit Preis, und hätte dafür einen Oscar verdient.

Peter Jacksons Romanverfilmung der «Lord of the Rings»-Trilogie startete 2001 in den Kinos. Bahnbrechende Computereffekte und riesige Massenschlachten entführten das Publikum in eine bis dato nie dagewesene fantastische Fantasywelt.

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    von Luca Fontana

Ein Charakter ist besonders in Erinnerung geblieben: Gollum. Hinter dem Hobbit mit schizoider Persönlichkeitsstörung – so eine von US-amerikanischen Studenten aufgestellten Diagnose – steckt Andy Serkis. Trotz anfänglicher Skepsis war sich der englische Schauspieler nicht zu schade, sich vor versammelter Crew blosszustellen, um jene Figur zu verkörpern, die Kultstatus erlangt hat.

Serkis Geschichte beginnt im Strampelanzug.

Am Anfang war Gollum… anders

Eigentlich wollte der bis dahin unbekannte Andy Serkis Gollum gar nicht spielen.
Die Vorstellung, einer digitalen Figur bloss die Stimme zu leihen, war ihm nicht geheuer. «Dann traf ich Peter Jackson», erinnert sich der Engländer im Interview mit Movieweb. «Er sagte, dass er für die Rolle einen Schauspieler braucht, der am Set spielt und Entscheidungen für den Charakter trifft.»

Die Dreharbeiten zu «The Fellowship of the Ring», dem ersten Teil der Trilogie, beginnen im Oktober 1999. Andy Serkis ist zwar als Gollums Stimme mit an Bord, zum Dreh in Neuseeland würde er aber erst einige Monate später stossen. Gollums erster grosser Auftritt ist nämlich in «The two Towers», dem zweiten Teil der Trilogie.

Tatsächlich ist Gollum im ersten Film nur einige Sekunden zu sehen: Er wandelt im Schatten und huscht nur in jener Szene kurz durchs Licht, in der Gandalf (Sir Ian McKellen) Frodo (Elijah Wood) erklärt, weshalb Gollum so versessen auf den Ring der Macht ist. Gollums Hautfarbe ist dunkelgrau, in seinen Augen spiegelt sich ein diabolischer Blick.

«Er hasst und liebt den Ring, genauso wie er sich selber hasst und liebt», sagt Gandalf.

Zu sehen ist der ursprüngliche Gollum ab Minute 0:39

Gollum sieht zu diesem Zeitpunkt anders aus, als du ihn kennst. Denn Weta Workshops Art Departmenet hat sein Aussehen während der Vorproduktion bereits festgelegt. Falls du es nicht weisst: Beim Filmemachen dient die Vorproduktion unter anderem dazu, die visuellen Effekte, die während der Nachproduktion des Films erstellt werden, vorauszuplanen.

Gollum in seiner Ursprungsform
Gollum in seiner Ursprungsform
Quelle: Weta Workshop

Erst mit dem Auftauchen Serkis im April 2000 erwacht Gollum vollends zum Leben.

Ein Engländer im weissen Strampelanzug betritt das Set

Andy Serkis macht Ernst. Im Strampelanzug. Der ist da, damit der Engländer später einfacher aus dem Bild retuschiert und durch ein Computermodell ersetzt werden kann. Serkis blendet das aus. Tag für Tag spielt er sich die Seele aus dem Leib, als ob es auf seine Performance ankäme. Kriechend. Schlurfend. Spuckend. Er gibt sich der Lächerlichkeit Preis. Egal. Er will seiner Rolle gerecht werden, und gibt alles.

Serkis spielt Gollum am Set der Stadt Osgiliath
Serkis spielt Gollum am Set der Stadt Osgiliath

Das gelingt ihm. Gollum ist schon in den Büchern eine tragische Figur. In den Filmen verleiht Serkis Gollums Charakter noch mehr Tiefe. Er verkörpert ihn als naiv-sympathische Kreatur, die ihr wahres Selbst sucht, das sie durch die Korrumption durch den einen Ring verloren hat.

Regisseur Peter Jackson wird klar: Serkis spielt Gollum nicht bloss, er ist Gollum. Sein ausdrucksstarkes Spiel, Gollums würgend-krächzende Stimme – beides ist Teil ein und derselben Performance. Genau so muss das in den Film. Mitten in der Filmproduktion trifft Jackson eine Entscheidung: Gollum soll generalüberholt werden. Die Welt der Computeranimation wird nie wieder dieselbe sein.

Aber das weiss zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Der Grundstein für Motion und Performance Capturing

In Rekordzeit entwerfen die Special-Effect-Artisten Weta Digitals ein neues Aussehen für Gollum. Gerade um die Mundwinkel und Nase herum bekommt die Kreatur viel mehr Ähnlichkeit mit dem Schauspieler. Dadurch lässt sich die Mimik Serkis einfacher auf das Computermodell Gollums übertragen.

Serkis Spiel und Gollums neues Aussehen
Serkis Spiel und Gollums neues Aussehen

Das reicht Jackson nicht. Er will noch weiter gehen. Zwei relativ unausgereifte Technologien kommen zum Einsatz: «Motion Capturing» und «Performance Capturing».

Auf einer Greenscreen-Bühne in Wellington, Neuseeland, spielt der Engländer all seine Szenen neu. Marker an seinem Körper – kleine Punkte – übertragen Serkis Bewegungen auf Gollums Computermodell. Motion Capturing. Gleichzeitig werden Dutzende Punkte auf sein Gesicht gezeichnet, um sein Schauspiel zu übernehmen: Wenn Serkis eine Augenbraue hebt, dann tut es Gollum auch. Performance Capturing.

Zweite Runde in der Mo-Cap-Halle
Zweite Runde in der Mo-Cap-Halle

Der Plan ist riskant. Mitten in der Produktion an damals unausgereiften Technologien zu forschen, braucht Zeit. Zeit, die Jackson nicht hat. Der Drehplan sieht vor, dass die gesamte Trilogie in etwas mehr als einem Jahr abgedreht ist – vor Kino-Release des ersten Teils. Aber der neuseeländische Regisseur weiss: Gollum ist wichtig für seine Geschichte. Zu wichtig. «Die zwei Türme», so der deutsche Titel des zweiten Teils, funktioniert nur, wenn das Publikum Gollum als lebendige und atmende Figur akzeptiert.

Dann der ungewürdigte Erfolg

Der Plan geht auf. Den Programmierern gelingt es, Andy Serkis Bewegungen und Schauspiel auf Gollum zu übertragen. Gollum wird über Nacht zu einem der bekanntesten Charaktere der gesamten Lord-of-the-Rings-Saga.

Sméagol vs. Gollum, eine Szene mit Gänsehaut-Garantie

Oben, in der vielleicht berühmtesten und wichtigsten Szene Gollums, streitet sich Sméagol – so der ursprüngliche Name des einstigen Hobbits – mit seiner niederträchtigen und vom Ring verdorbenen zweiten Persönlichkeit Gollum. Gollum will den Ringträger, Frodo, im Schlaf töten, um an den Ring zu gelangen. Sméagol hingegen will sich vom Einfluss des Ringes lossagen. Für immer.

Es sind Szenen wie diese, die Gollum so real wirken lassen. Viele können nicht anders, als nach einem Oscar für die beste schauspielerische Leistung zu verlangen. Für eine computeranimierte Figur, wohlgemerkt. Ein Novum.

Und vielleicht eine kleine Absurdität.

Denn die Anerkennung gebührt eigentlich dem Schauspieler, Andy Serkis, und den talentierten Programmierern Weta Digitals. Letztere werden tatsächlich mit dem Oscar für die besten Spezialeffekte gewürdigt. Serkis hingegen geht leer aus. Die Academy – sie bestimmt, wer für welchen Oscar nominiert wird und wer ihn gewinnt – berücksichtigt keine Motion- und Performance-Capturing-Leistungen von Schauspielern. Trotz Peter Jacksons Versuche, die Academy umzustimmen. Denn technisch gesehen würde nicht der Schauspieler für die Rolle nominiert, sondern der gespielte Charakter. Gollum also, nicht Serkis, so die Academy.

Wie viel von Gollum ist tatsächlich Serkis – und wieviel die Programmierer?
Wie viel von Gollum ist tatsächlich Serkis – und wieviel die Programmierer?

Eigentlich ein schlechter Witz. Denn so gesehen müsste immer die Figur, die von einem Schauspieler gespielt wird, für den Oscar nominiert werden. Aber die Academy führt ein weiteres Argument ins Feld, das sich nicht einfach wegdiskutieren lässt: Wo hört Serkis Performance als Gollum auf, und wo beginnt die Arbeit der Special-Effects-Artisten? Wann hat der Programmierer hier den Mundwinkel etwas weiter verzogen, und dort die Augenbraue ein wenig mehr gehoben?

Das lässt sich unmöglich sagen. Gollum ist kein Mensch, sondern stammt aus dem Computer. Er ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Schauspieler, Regisseur und Programmierer. Ungerecht ist es trotzdem, dass der Schauspieler – die wohl wichtigste Komponente dieses Trios – nie einen Preis gewinnen wird, weil die Academy partout keine Mo-Cap-Performances berücksichtigen oder wenigstens eine separate Kategorie dafür einführen will.

Und was macht Serkis heute?

Serkis lässt sich nicht entmutigen. Im Gegenteil.
2005 spielt er den berühmten Affen in Peter Jacksons «King Kong», ebenfalls mittels Motion und Performance Capturing. Dann ist er 2011 als Kapitän Haddock in Steven Spielbergs «Tim und Struppi» zu sehen. Ein Jahr später nimmt er seine Rolle als Gollum in «The Hobbit» wieder auf. Und 2015 spielt er Supreme Leader Snoke in den neuen «Star Wars»-Filmen.

Andy Serkis spielt Supreme Leader Snoke in «Star Wars: The Last Jedi»
Andy Serkis spielt Supreme Leader Snoke in «Star Wars: The Last Jedi»

Die langersehnte Anerkennung wird ihm nun in seiner Rolle als hochintelligenter Menschenaffe Caesar in der «Planet of the Apes»-Trilogie zuteil, die erst letztes Jahr ihren gefeierten Abschluss gefunden hat. Selten zuvor haben Magazine, YouTube-Filmblogs und vom Studio veröffentlichte Behind-the-scenes darüber berichtet, wie Serkis seine Figuren zum Leben erweckt. Fox, eben jenes Studio hinter der Affen-Trilogie, startet diverse Kampagnen, um die Academy umzustimmen. Erfolglos. Aber immerhin: es geht etwas.

Für Serkis hat die Planet-der-Affen-Trilogie vor allem einen Effekt: Endlich beginnen die Zuschauer, über die technologischen Komponenten des Motion Capturings hinwegzusehen, um sich stattdessen auf die Menschlichkeit der Performance dahinter zu konzentrieren.

«Der Ausdruck, die Emotionen, die Seele des Charakters – das alles sind Entscheidungen, die ein Schauspieler trifft», sagt Serkis zum Vulture-Magazin. «Es ist der Schauspieler, kein Komitee von Animatoren, der am Set mit dem Regisseur von der ersten bis zur letzten Seite des Drehbuchs zusammenarbeitet, die Figur entwickelt und dabei zum emotionalen Anhaltspunkt der Rolle wird.»

Heute ist Serkis gefragter denn je. Und dabei begann alles mit einem Mann im weissen Strampelanzug, der im Dreck wühlend einem Ring nachjagte.

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