Apple iPad Pro 2021: Sag mir, was willst du sein!
Mini-LED ist nicht das beste, was das neue iPad Pro zu bieten hat. Die Stärken des Geräts liegen anderswo. Vor allem aber zeigt Apple das massive Potenzial des Konzepts Tablet.
Das iPad Pro 2021 habe einen Bildschirm, der der Leinwand im Kino Konkurrenz mache, heisst es überall. Aber nach einem Langzeittest des neuen Flaggschiffs der Tablet-Welt lässt sich sagen: Der Bildschirm ist nicht das Beste am Gerät.
Der beste Aspekt des iPad 2021 ist etwas, das du nie sehen wirst. Etwas, von dem kaum jemand redet, auch Apple nicht. Da stellt sich mir die Frage: Apple, warum habt ihr das uns nicht gesagt?
Aber bevor wir zur Lobhudelei und zur harten und dann pingeligen Kritik kommen, einige Eckdaten.
About this Test
Ich habe das iPad 2021 mit 12.9-Zoll Bildschirmdiagonale während sechs Wochen getestet. Ich habe keinen spezifischen Use Case für das Gerät und versuche, all die Marketing-Versprechen und Dinge, die irgendwie seltsam klingen, auf Wahrheitsgehalt zu testen. Daneben drücke ich in meiner Freizeit darauf herum und finde so die Stärken und Schwächen. Und ich versuche, einen Tag lang meinen Job alleine auf dem iPad zu tun. Das heisst Texte schreiben, Bilder bearbeiten, Videos schneiden, Daten abspeichern und in einer Cloud verwalten.
Daher sieht meine iPad'sche Einkaufsliste so aus:
Apple Magic Keyboard
CH, iPad Pro 12.9 2022 (6. Gen), iPad Air 13 2024 (M2), iPad Pro 12.9 2021 (5. Gen), iPad Pro 12.9 2020 (4. Gen), iPad Pro 12.9 2018 (3. Gen)
Als Erstes aber eine Erkenntnis: Nur das iPad alleine nutzt wenig. Also nur das Gerät mit der flachen Kante, den Kameras an der Seite und dem Screen. Sobald du etwas tippen musst, empfehle ich dir dringend die Tastatur. as On-Screen-Keyboard funktioniert zwar, aber darauf auch nur einigermassen effizient zu tippen ist schlicht unmöglich. Es ist schon schwierig, mit zwei Fingern auf dem iPhone zu tippen, vor allem wenn da ein längerer Text hin muss, aber auf dem iPad mit der grösseren Tastatur und daher grösseren Abständen zwischen den virtuellen Tasten? Keine Chance.
Dann empfehle ich dir, einfach nur weil so der Touch Screen gut genutzt wird, den Apple Pencil. Den brauchst du nicht, aber im Verlauf der Arbeit mit dem iPad hat die scharfe Spitze des Pencils gerade bei Präzisionsarbeit viel geholfen.
Damit aber zeigt sich schon eine erste Erkenntnis: Das iPad Pro ist kein Gerät, dass du dir einfach mal so kaufst, weil «vielleicht ist es ja nützlich». Für den Preis ist das iPad Pro eine bewusste Entscheidung. Sprich: Du weisst, wofür du es brauchst und wie du es einsetzen willst, bevor du so viel Geld liegen lässt. Für die «Ach, so bitzli Youtube auf dem WC»-Leute gibt es günstigere Alternativen. Das iPad Air, zum Beispiel.
Zudem ist es ziemlich klar, dass das iPad ein gutes Gerät ist. Das hat die zwei Gründe: Zum einen bringt Apple selten bis nie ein schlechtes Gerät auf den Markt. Zum anderen hat das iPad eigentlich keine Konkurrenz. Android-Tablets sind im öffentlichen Diskurs fast schon tot, selbst wenn die Statistik aussagt, dass 51.9 Prozent des Tablet-Markts nach wie vor auf Android laufen.
Das iPad hat Gewichtsprobleme
Nach dem Zusammensetzen der Hardware fällt mir auf: Das Teil ist schwer. Vor allem im Vergleich zum Gegner aus dem gleichen Haus, dem Macbook Pro mit Apple Silicon. Oder auch im Vergleich mit der Grossmutter des aktuellen iPads, dem iPad Pro 2019 mit Tastatur.
Also, auf die Waage mit den Geräten.
Gewicht iPad Pro 2021 plus Zubehör
iPad Pro 2021 12.9" 681g
Apple Magic Keyboard 699g
Apple Pencil 18g
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Total 1398g
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Gewicht Macbook Pro 2020 13.30"
Wenn ich mein Macbook auf die Waage lege, kommt da ein falscher Wert raus. Grund dafür ist, dass ich eine Schutzfolie aus dem Hause dbrand über den Deckel geklebt habe. Diese Folie wiegt laut Angaben des Herstellers 150 Gramm pro Quadratmeter. Das Macbook ist 21.24 Zentimeter breit und 30.41 Zentimeter lang. Das ergibt ein Gewicht der Folie von 9.6 Gramm. Da noch einige Sticker drauf sind, runden wir auf 10 Gramm auf.
Apple Macbook Pro 2020 13.30" 1398g
Folie 3M 1080 - 10g
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Total 1388g
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Gewicht iPad Pro 2019 mit Zubehör
Eine kurze Anmerkung zum Magic Keyboard: Das Gewicht des Keyboards unterscheidet sich vom Gewicht in der Messung der 2021er-Version, da ich dort die aktualisierte Hardware verwendet habe. Diese ist steifer und hat einen USB-C-Anschluss.
iPad Pro 2019 12.9" 629g
Apple Magic Keyboard 405g
Apple Pencil 18g
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Total 1052g
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Wenn es um Nützlichkeit und Portabilität geht, hat das Macbook die Nase vorn. Es ist nur minimal schwerer, dafür macht das Macbook in meinem Alltag all das richtig, was das iPad verhaut. Dazu aber gleich mehr.
Der Ton, nicht das Bild
Das Setup geht schnell. Alles Zubehör kannst du nur auf eine Art zusammenstecken, und der eine Knopf zum Einschalten ist genau dort, wo du ihn erwarten würdest. Es wäre dann jetzt der Zeitpunkt, an dem ich das Kinoerlebnis des Mini-LED-Bildschirms des iPads entdecken würde, wie Marketinggeschwurbel von wegen «Entdecke das Erlebnis» mir das weismachen will.
Das «Erlebnis» bleibt aus. Bei mir zumindest.
Der Bildschirm ist gut, sehr gut sogar. Aber in umwerfend neue Sphären der Tabletbenutzung katapultiert es mich nicht. Nur im direkten Vergleich mit dem Bildschirm meines Macbooks fällt auf, dass die Farben satter sind und das Schwarz schwärzer. Aber wenn ich morgens mit Kaffee und Katzen auf dem Balkon sitze und News lese, dann ist das einfach ein gut kalibrierter Bildschirm. Es wäre mir auch egal, ob das ein OLED oder ein LCD wäre. Gut kalibriert ist gut kalibriert. Da macht die Technologie nicht viel aus.
Der Wow-Effekt setzt ein, wenn ich ein Video ansehe. Oder noch besser: Apple Music mit dem neuen Apple'schen Lossless Codec ALAC nutze.
Der Ton des iPads ist das, womit Apple Werbung machen sollte. Denn der ist nicht nur gut, der ist sehr gut. Egal, ob Podcast, Spotify, Apple Music oder Youtube, das iPad klingt fantastisch. Wenn du Geld zur freien Verfügung hast und «Bitzli Youtube auf dem WC» oder wie in meinem Falle «Youtube auf dem Balkon» haben willst, voilà.
Die Speaker des iPads sind so gut, dass du dir locker einen externen Speaker sparen kannst. Die UE Boom in der Küche? Weg damit. Stell das iPad hin, dreh auf und gut ist. Das iPad liefert satte Bässe – erstaunlicherweise – und klare Höhen. Nichts scheppert, nichts überschlägt, nichts klirrt.
Ganz gute Arbeit, Apple. Und überraschend. Wenn du das mal ausprobieren willst, geh in einen beliebigen Laden, der Apple-Geräte verkauft und ruf ein Youtube-Video auf. Es lohnt sich.
Schwachpunkt Software
Soweit klingt also alles gut. Du hast einen guten Touchscreen, umwerfenden Sound, eine gut funktionierende Tastatur und einen Stylus, der dich bei Präzisionsaufgaben unterstützt. Dazu hast du Hardware, die massiv Power liefert. Denn das iPad läuft, wie mein Macbook auch, auf Apples M1 System-on-a-Chip (SoC). Der Apple M1 war schon drüben bei den Macbooks ein Quantensprung und liefert Performance, an die kein Laptop rankommt.
Damit solltest du also schneller, besser, effizienter arbeiten können als mit einem Macbook. Es gibt sogar Journalisten, die ihr Laptop durch ein iPad ersetzt haben sollen. Ich bin keiner davon.
Klar, die rohe Power des iPads würde locker ausreichen, um all meine Aufgaben in Rekordzeit zu meistern. Und ja, inklusive Videoschnitt in 4K-Auflösung mit 60 Frames pro Sekunde. Die M1-Architektur rendert das fast in Echtzeit. Sogar die Videokamera hinten liefert gutes Bildmaterial. Im Wesentlichen hätte ich ein voll funktionierendes Filmstudio, wenn ich zusätzlich noch ein Stativ kaufe.
Dann ist da aber iPadOS. iPadOS ist schlicht kein Betriebssystem, das sinnvolles Arbeiten ermöglicht. Adobe Premiere Pro existiert nicht für das iPad. Adobe Photoshop ist in einer so mittelguten Version vorhanden, ist aber kein Vergleich zum M1-optimierten Photoshop auf dem Macbook, sei es in Bezug auf Performance oder Features. Apple hat zwar von Haus aus Werkzeuge verbaut, die den Videoschnitt zulassen, aber mein Arbeitgeber macht alles mit Adobes Suite. Daher bin ich an die Programme aus dem Hause Adobe gebunden. Apple kann an dem Problem nicht die Schuld gegeben werden, aber es blockiert meine Arbeit und so ist es nicht möglich, dass ich mein Macbook durch ein iPad ersetze, möge es noch so stark sein.
Texte schreiben ist auch mühsam, da iPadOS nach wie vor viel mit iOS gemein hat und davon ausgeht, dass ich Autokorrektur gerne verwenden würde. Nein, tue ich nicht. Ich will nicht jedes zweite Wort automatisch korrigiert haben, wenn ich einen Text schreibe. Ich will nicht nach jedem Wort meinen Schreibfluss unterbrechen, damit ich überprüfen kann, ob das iPad auch tatsächlich das hingeschrieben hat, was ich tippen wollte. Mit ausgeschaltetem Autocorrect geht das, aber dann bist du komplett aufgeschmissen, wenn du das iPad ohne Tastatur verwendest und Hilfe vom Gerät gut gebrauchen könntest. Ein Quick Toggle beim Drag-Down-Menü oben rechts würde hier schon viel ausmachen.
Was es aber kann: Meetings. Wir arbeiten mit Microsoft Teams. Das geht gut, solange ich keine Messages schreiben muss. Speaker mehr als nur ordentlich, Mikrofon ziemlich gut, aber die Selfie-Cam … die ist irgendwie seltsam.
Merkwürdigkeiten der Hardware
Apple ist immer so stolz auf ihren Perfektionismus. Und der funktioniert auch so ziemlich immer. Nur beim iPad sind den Damen und Herren aus Cupertino ganz seltsame Dinge passiert.
Die Sache mit der Selfie-Cam
Wenn ich in einem Microsoft Teams Meeting sitze, dann habe ich das iPad ans Magic Keyboard angedockt. Also so:
Jetzt ist die Kamera aber hier:
Das führt zu einem recht seltsamen Blickwinkel im Meeting. Mich stört das wenig, aber wenn du im Meeting mit mir wärst, dann würde das irgendwie seltsam wirken. Ich könnte das iPad um 90 Grad drehen, damit die Kamera oben wäre, aber dann könnte ich nichts mehr tippen oder im Hintergrund Informationen aufrufen, da die Tastatur verdreht ist.
Die Lösung wäre einfach: Kamera in die Mitte einer Längsseite verlegen. Denn wenn das iPad dem Macbook Konkurrenz machen soll oder sogar das Laptop ersetzen soll, dann reden wir nicht mehr von einem Gerät, das vornehmlich in der Vertikalen verwendet wird, sondern in der Horizontalen. Dem muss die Hardware Rechnung tragen.
Lauter? Leiser? Beides. Gleichzeitig.
Ein weiteres Problem der horizontalen oder eben vertikalen Verwendung: Wenn ich das iPad auf dem Magic Keyboard befestige und dann die Lautstärke hochdrehe. Das passiert mir bei den Speakern oft.
Die zwei Knöpfe zur Lautstärkenregulierung sind oben links. Also so:
Wenn ich auf «lauter» drücke, dann drücke ich den linken Knopf, also den hier:
Auf dem Bildschirm taucht der Indikator auf, der mir anzeigt, wie laut das ist. Der bewegt sich, wenn ich lauter und leiser stelle.
Ich drücke den linken Knopf, um lauter zu machen und der Indikator geht nach rechts. Klar, das ist Meckern auf hohem Niveau und ein Detail, das keinerlei Einfluss auf die Benutzung hat. Aber Apple ist Perfektionist, und das ist nicht perfekt.
Fazit – und der Blick nach vorn
Das iPad ist im Moment in einer etwas seltsamen Phase. Es ist weder Fisch noch Vogel. Es bricht hardwareseitig aus der Tablet-Gurkigkeit aus und liefert Specs, die mit dem Macbook konkurrenzieren. Softwareseitig dümpelt iPadOS hinterher. Auch Multi Window Support macht aus iPadOS nicht ein vollwertiges Betriebssystem für Desktop. iPadOS zeigt noch zu klar, wo seine Wurzeln liegen und ein Tablet mit Macbook Specs verdient mehr. Nutzer sollen mehr bekommen.
Natürlich, wenn du Tätowierer bist, dann ist das iPad dein Hauptarbeitswerkzeug. Oder wenn du auf der Baustelle Bilder machen, einen Report ausfüllen und den gleich ans Büro übermitteln musst, dann hast du einen spezifischen Use Case, der vom iPad zweifelsohne erfüllt wird. Aber als Privatnutzer bist du mit dem Gerät womöglich etwas verloren. Das Fisch-Vogel-Problem. Wenn das Geld entscheiden soll, dann sind die fast 2000 Franken für das produktivst-mögliche Setup etwas steil.
Dabei hat ein Gerät mit den Specs wie ein iPad massiv Potenzial. Ich erinnere mich an ein Gerät namens Sensel Morph, ein Peripherie-Gerät, das im Wesentlichen eine Bedienoberfläche ohne Hardware-Limitierungen durch Knöpfe bot. Eine Art Tablet also, aber ohne Bildschirm. Apple könnte hier massiv punkten. Oder Dritthersteller. Das iPad kann alles sein: Mischpult, Kamera, Schnittstudio. Aber aktuelle limitiert iPadOS.
Ein Gedanke zum Schluss: Was, wenn wir aufhören, das iPad als Bildschirm zu sehen? Was, wenn wir anfangen, das iPad als Bedieninstrument zu sehen? Also weniger «Papier, aber halt digital» und mehr «Knöpfe drücken». Oder besser: Eine gigantische und nützliche Touchbar, wie wir sie vom Macbook her kennen und dort nicht verwenden, weil sie zu klein ist. Es ist kein grösseres iPhone und kein Macbook ohne Tastatur. Es ist ein Werkzeug mit einer Benutzeroberfläche, die alles sein kann. Nach Feierabend darf das iPad dann gerne zur Youtube-Maschine werden.
Und: Wie hält der User das iPad nun richtig? Horizontal oder vertikal? Die Hardware sollte dem Rechnung tragen.
Bis klar ist, was das iPad sein soll oder sein will, wird es in dieser Zwischenphase existieren. Es ist klar, dass es massiv Power hat, gut verarbeitet ist und schier unendliche Möglichkeiten bietet. Aber die sind noch nicht ganz da. Noch nicht.
iPad 2021: Die grosse Umfrage
Was ist das iPad bei dir?
- Web Surfing, Bücher lesen, Text konsumieren31%
- Youtube-Abspielgerät18%
- Arbeitswerkzeug34%
- Es liegt ungenutzt herum16%
Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.
Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.