«Ara: History Untold» kann mich als «Civilization» -Veteranin begeistern
«Ara: History Untold» sieht nur auf den ersten Blick aus wie «Civilization». Das Strategiespiel kann sich durch sein komplexes Produktionssystem und weitere Gameplay-Eigenheiten vom großen Vorbild abheben.
Das monumentale Bauprojekt «Die große Pyramide von Gizeh» lächelt mich schon seit langem an. Aber immer fehlen mir ein paar Steinwerkzeuge: Ohne diese passenden Werkzeuge kann ich den Bauauftrag nicht erteilen. Also helfe ich in meinen Werkstätten mit etwas Geld aus der Staatskasse nach, um die Produktion der fehlenden Teile zu beschleunigen. Der Bau der Pyramide würde mir eine Menge Prestige einbringen.
Darf ich mich vorstellen? Ich bin die glorreiche Zenobia und führe das Palmyrenische Reich von den ärmlichen Hütten der Frühgeschichte bis in die ferne Zukunft. Ich befehle, wann und wo unser Volk neue Städte gründet. Ich entscheide über die Staatsform und darüber, welche Technologien unsere Wissenschaftler erforschen. An mir liegt es, ob ich die lausigen Städte meines Nachbarn, den Vereinigten Staaten von Amerika, neben mir dulde oder nicht. Und ich freue mich genauso wie meine Untertanen über die Fertigstellung der Pyramide direkt neben meiner Hauptstadt Palmyra.
Das Spielprinzip kommt dir bekannt vor? Du liegst richtig.
Ist «Ara» ein weiterer «Civilization»-Klon?
Ich möchte kurz über den Elefanten im Raum sprechen: «Civilization». Was du oben gelesen hast, könnte ich auch schon im Jahr 1991 geschrieben haben, als das erste «Civilization»-Spiel erschien. Seitdem prägt die Reihe das rundenbasierte Grand-Strategy-Genre nicht nur – sie dominiert es.
«Ara» ist eines der Spiele, die auf den ersten Blick aussehen wie ein «Civilization»-Klon. Subjektiv geschätzt sind 75 Prozent des Gameplays, des Interfaces, der optischen und akustischen Aufmachung von «Ara» «just another ‹Civilization›». Ich selbst habe alle «Civilization»-Teile gespielt und bin daher vorbelastet. In dieser Spielkritik soll es vor allem darum gehen, was «Ara» anders macht.
Zwei große Unterschiede zu «Civilization» fallen sofort auf: Die Karte ist nicht in hexagonale Felder unterteilt, sondern in Regionen. Sie wirkt dadurch wie eine «echte» Landschaft und nicht wie ein künstliches Spielbrett. Das ist wirklich erfrischend! Der zweite wichtige Unterschied sind Produktionsketten. Eine verblüffende Idee, deren Umsetzung auch weitgehend gelungen ist.
So funktionieren Regionen und Zonen
Zur Unterteilung der Spielkarte dienen in «Ara» Regionen. Sie können wie Puzzleteile unterschiedliche Formen und Größen haben. Jede Region, die ich meinem Reich einverleibe, bringt mir in jeder Runde standardmäßig null bis vier Einheiten Nahrung, Holz, Baumaterialien und Münzen. Städte wachsen, wenn sie einen Nahrungsmittelüberschuss produzieren – der Überschuss steht dann anderen Städten zur Verfügung, die von weniger fruchtbaren Regionen umgeben sind.
Regionen sind wiederum in zwei bis sechs Zonen unterteilt. Jede Zone stellt Platz für ein Gebäude zur Verfügung, zum Beispiel für einen Bauernhof, ein Sägewerk oder eine Werkstatt. Mit den Gebäuden erhöhe ich den Grundertrag der Region oder produziere darüber hinaus neue Produkte. In manchen Zonen befinden sich zudem weitere Rohstoffe, die ich mit entsprechenden Gebäuden abbaue – etwa Schafe, Edelsteine oder Gewürze. Die benötige ich zur Weiterverarbeitung.
Produktionsketten in einem Grand Strategy Game?!
Rohstoffe und Produkte haben in «Ara» einen ganz anderen Stellenwert als in «Civilization». Wie in den neueren «Civiliziation»-Spielen benötige ich für die Produktion bestimmter Einheiten Metall. Aber es reicht nicht, einfach irgendwo Eisenerz abzubauen. Das Eisenerz muss zunächst zu Barren verarbeitet werden.
Dafür baue ich eine Schmiede, die allerdings sehr langsam arbeitet. Rüste ich sie mit sogenannten Vorräten aus, geht es viel schneller. Zu den Vorräten gehören verschiedene Werkzeuge und später auch Strom. Auch Vorräte muss ich natürlich an anderer Stelle erst herstellen. Die Herstellung von Produkten lässt sich zudem beschleunigen, indem ich weiteres Material einsetze. Bei Brot wäre das Mehl und Salz. Bei anderen Produkten kann ich auch mit Geld nachhelfen – wer gut schmiert, fährt gut. Vorräte und Materialien sind optional, aber für eine effiziente Produktion sinnvoll.
Dieses System zieht sich durch das ganze Spiel. Im späteren Spielverlauf erhöht zum Beispiel «aufgebrühter Kaffee» die Forschungsgeschwindigkeit im Observatorium. Viele hergestellte Produkte beeinflussen außerdem direkt das Wohlbefinden meiner Stadtbevölkerung. Stelle ich ihr Brote zur Verfügung, erhöhen sie den globalen Nahrungsmittelertrag. Blumenschmuck erhöht die Zufriedenheit und Bücher verbessern das Wissen der Bürgerinnen und Bürger, sodass sie schneller forschen. Baue ich meinen Bürgern Wohngebäude, kann ich diese mit Möbeln, Kerzen und Spielekonsolen ausstatten, was sich ebenfalls auf die Zufriedenheitswerte meiner Untertanen auswirkt.
Durch die verzweigten Produktionen ist «Ara» also deutlich komplexer als «Civilization». Mir gefällt das Produktionssystem sehr gut. Schön ist, dass alles optional ist. Ich muss nicht alle Gegenstände produzieren, aber für das, was ich herstelle, werde ich belohnt.
Prestige ist alles
In «Civilization» gibt es verschiedene Siegbedingungen, etwa den militärischen Sieg, den Kultursieg oder den Religionssieg. In «Ara» gibt es nur einen Sieg: Am Ende muss ich die meisten Prestigepunkte haben. Die sammle ich die ganze Zeit. Es gibt sie unter anderem für das Ansteigen der Bevölkerung, für das Erforschen bestimmter Technologien und natürlich auch auf dem Schlachtfeld.
«Ara» ist in drei Akte mit je vier technologischen Epochen unterteilt. Erreichen drei Nationen den nächsten Akt, gibt es Kahlschlag unter den verbliebenen Völkern im Spiel. Wer nicht genügend Prestige hat, stirbt aus. Wörtlich. Diese Nationen sind raus aus dem Spiel. Übrig bleiben nur noch Ruinen der früheren Städte, die ich aufsuchen und plündern kann.
Weil ich mich nicht von Anfang an auf eine bestimmte Spielweise festlegen muss (Kultursieg, Militärsieg, …), bin ich freier in der Spielgestaltung. Damit einher geht aber auch eine gewisse Ziellosigkeit. In «Ara» gibt es eine Unzahl an verschiedenen Technologien, die ich erforschen kann. Kann, nicht muss: Ich kann ganz bewusst Forschungen auslassen und das Spiel trotzdem gewinnen. Beim Übergang in eine neue Ära verliere ich aber endgültig den Zugriff auf Forschungen der vergangenen Epoche. Das stellt mich immer vor die Qual der Wahl: Brauche ich jetzt noch Kerzen oder wechsle ich lieber schnell in eine neue Ära, durch die ich Zugriff auf neue Technologien bekomme?
Zudem sind nicht alle Forschungen in jedem Spieldurchgang verfügbar. Das wird durchgemischt. So kann ich in einem Spieldurchgang bemalte Glasfenster herstellen und im nächsten nicht mehr. Einerseits fühlen sich die Technologien dadurch irrelevant an, ich brauche sie ja gar nicht zwingend. Andererseits erhöht das den Wiederspielwert erheblich.
Und weg war die Stadt: Krieg in «Ara»
In «Ara» fasse ich meine militärischen Einheiten zu Formationen zusammen, die taktische Vorteile ergeben können. Es ist auch kein Problem, mehrere Formationen aufeinander zu stapeln und dadurch mit einer sehr starken Armee durch die Lande zu ziehen. Scharmützel zwischen Armeen können je nach deren Stärke auch mehrere Runden dauern.
Dass die Eroberung von Städten dagegen vergleichsweise einfach geht, habe ich schmerzlich lernen müssen. Um einen Krieg zu beginnen, brauche ich einen Kriegsgrund. Mein ungeliebter Nachbar, Präsident Washington von den Vereinigten Staaten von Amerika, hat mich einmal überfallen, also ist ein Vergeltungskrieg möglich. Als Ziel muss ich eine Stadt angeben, die ich erobern möchte. Dann habe ich eine bestimmte Anzahl an Runden Zeit, um das Ziel zu erreichen.
Ich möchte Mister Washington ärgern und gebe an, seine Hauptstadt Washington einnehmen zu wollen. Während ich bei Washington, der Stadt, Krieg spiele, schmuggelt Washington, der Präsident, hinterrücks ein Katapult zu einer meiner größten Städte, Karrhai, und bringt es dort in Stellung. Karrhais Stadtmauern sind in einer Runde zerstört. Eine Runde später fällt die Stadt und wechselt den Besitzer.
Ungläubig sitze ich vor dem Bildschirm. So schnell? Eingenommen mit nur einer einzigen Belagerungsmaschine? Aus «Civilization» bin ich gewöhnt, dass die Einnahme von Städten kein leichtes Unterfangen ist. Auch kleine Städte können sich einige Zeit lang verteidigen – aber hier in «Ara» hatte ich keine Chance, rechtzeitig Entsatz zu schicken. Ich wüte und schwöre bei allen Göttern, meine Stadt schnellstmöglich zu befreien. Aber klar, der Fehler liegt bei mir.
Leider habe ich zwischenzeitlich in ebenfalls zwei Runden die Stadt Washington erobert und damit dem Krieg seine Grundlage entzogen. Er endet automatisch zu meinen Gunsten. Ich stehe mit Washington, der Stadt, da und beweine den Verlust von Karrhai, das nun 20 Runden warten muss, bis der Waffenstillstand abläuft und ich es mir von Washington, dem Präsidenten, zurückholen kann.
An einigen Stellen ist «Ara» noch unrund
«Ara: History Untold» erscheint im Full Release, es gibt aber ein paar Punkte, die sich noch unfertig anfühlen. Zum Beispiel bei der Übersicht. Es gibt etwa keine Auflistung aller Sägewerke oder aller Rohstoffvorkommen. Ich muss stattdessen alle Städte oder die Symbole auf der Karte danach absuchen. Das ist mühselig und unnötig.
Auch bei der Bauübersicht geht es im fortgeschrittenen Spielverlauf chaotisch zu. Ich erforsche immer mehr neue Gebäude und verbesserte Gebäudevarianten. Irgendwann muss ich deswegen beim Bau durch eine endlos lange, alphabetisch sortierte Liste scrollen. Hier wünsche ich mir Filtermöglichkeiten, sodass mir nur die Gebäude angezeigt werden, die zum Beispiel die Zufriedenheit verbessern.
Mir sind zudem Kriege bisher zu unausgewogen. Ich habe keine Möglichkeit gefunden, ältere Einheiten upzugraden, sodass ich auch im Atomzeitalter noch Bogenschützen und Kavallerien in meinen Formationen habe. Das macht aber nichts, denn mehrere Bogenschützen ergeben zusammen mit Musketieren und Trebuchets auch einen ordentlichen Gesamtstärkewert. Und darauf scheint es anzukommen. Formationen lassen sich offenbar auch nicht auflösen, sodass ich meine Einheiten nicht umgruppieren kann. Einmal in einer Formation, immer in einer Formation. Beides ist sehr schade.
Die gesamte Diplomatie ist bislang ebenfalls etwas unterentwickelt. Ich habe kaum mit den anderen Herrscherinnen und Herrschern zu tun. Es gibt übliche Optionen wie die Vereinbarung von offenen Grenzen oder Forschungsabkommen. Einfaches Handeln oder um Hilfe fragen gibt es nicht. Die Regeln der Diplomatie sind leider sehr eng gesteckt. Hin und wieder gibt es Ereignisse, mit denen ich manchmal meinen Ruf bei anderen Nationen verbessern kann. Die fühlen sich aber absolut zufallsbasiert an.
Es gibt auch noch weitere Probleme, zum Beispiel der Nutzen von Meisterwerken. Das sind spezielle Werke, die meine Künstler und Forscherinnen erschaffen. Die werden zwar mit einer Animation enthüllt, es gibt aber weder eine Info dazu, noch fühlen sie sich relevant an. Sie geben mir etwas Prestige und später kann ich sie in Museen ausstellen. Offenbar habe ich die Erforschung eines Museums aber bisher verpasst – ich kann jedenfalls noch nichts mit meinem Riesenstapel an Meisterwerken anfangen.
«Ara: History Untold» erscheint am 24. September 2024 auf Steam und ist im PC Game Pass enthalten. Das Spiel wurde mir zu Testzwecken von Microsoft zur Verfügung gestellt.
Fazit
Spielt sich erfrischend, braucht aber noch etwas Schliff
Trotz der Unvollkommenheiten hat mich «Ara: History Untold» jetzt schon mehrere Abende und insgesamt 21 Stunden ins Spiel gezogen. Es macht mir Spaß und es spielt sich bei aller Ähnlichkeit zu «Civilization» doch anders.
Und auch grafisch lässt sich «Ara» wirklich sehen. Die Karte wirkt durch die fehlende Sechseck-Aufteilung viel realer. Beim Reinscrollen sehe ich Vogelschwärme fliegen. In den Vororten brennen Häuser und Menschen laufen schreiend durch die Gegend, wenn feindliche Truppen sich in der Region befinden.
Ich gebe dem Spiel mit vier Sternen ein paar Vorschusslorbeeren und hoffe, dass das Studio bei meinen Kritikpunkten noch etwas nachbessert.
Pro
- sehr schöne Grafik
- Regionen und Zonen sind toll umgesetzt
- viel Tiefe durch Produktionsketten
- unterschiedliche Forschungen pro Spieldurchgang
- Prestige als einzige Siegbedingung
Contra
- teilweise mangelnde Übersicht
- Diplomatie könnte mehr Möglichkeiten bieten
- Militär und Kriege könnten mehr Möglichkeiten vertragen
Fühlt sich vor dem Gaming-PC genauso zu Hause wie in der Hängematte im Garten. Mag unter anderem das römische Kaiserreich, Containerschiffe und Science-Fiction-Bücher. Spürt vor allem News aus dem IT-Bereich und Smart Things auf.