Bikefitting beim Profi oder die Bedeutung von fünf Millimetern
Ich will endlich die perfekte Sitzposition auf meinem Gravelbike finden und gehe darum zum professionellen Bikefitting. Drei Stunden später verlasse ich die Basler Crossklinik mit einem «neuen» Velo. Und der Erkenntnis, dass fünf Millimeter viel mehr sein können, als bloss ein halber Zentimeter.
«Du musst deine Schrittlänge mit 0,885 multiplizieren» oder «einfach auf dem Sattel sitzen und den Fuss mit der Ferse aufs Pedal stellen». Das sind zwei der gängigen Faustregeln, wenn es darum geht, die richtige Sattelhöhe für das Velo zu bestimmen. Die möglichst perfekte Sitzposition auf dem Drahtesel zu finden, hängt jedoch von vielen weiteren Faktoren ab. Darum brauche ich keine grobe Faustregel, sondern ein professionelles Bikefitting.
Zu diesem Zweck bin ich mit Raphael Böni von der Crossklinik in Basel verabredet. Der studierte Sportwissenschaftler mit Weiterbildungen im Bereich Bikefitting wird hier in der Klinik für Orthopädie und Sportmedizin mein Gravelbike exakt auf meine Körpermasse und Haltung abstimmen. Zwei bis vier solcher Fittings führt der passionierte Hobbytriathlet täglich durch, die jeweils zwischen zwei und drei Stunden dauern. Zum Schluss werde ich das Gefühl haben, mit einem neuen Velo nach Hause zu radeln. Aber der Reihe nach.
Anamnese und funktioneller Test des Bewegungsapparats
Belastungsabhängige Beschwerden. Ein hässlicher Begriff. In meinem Fall heisst das konkret: Verspannungen im Nacken- und unteren Rückenbereich, ausserdem schläft mir auf dem Bike regelmässig die linke Hand ein und die rechte äussere Fusssohle wird taub. Viele von Raphael Bönis Kundinnen und Kunden klagen zudem über Kniebeschwerden. Knie und Rücken scheinen am meisten unter einer falschen Position auf dem Velo zu leiden. Hinzu kommt, dass die Regeneration bei vielen Hobbysportlerinnen- und Sportlern zu kurz kommt. Neben der Fehl- also auch eine Überlastung.
Und dann ist da auch die Frage nach der Beweglichkeit. Gerade im fortgeschrittenen Alter sieht es hier oft nicht mehr so geschmeidig aus. In meinem Fall besteht eine Dysbalance zwischen dem rechten und linken Bein, wobei das linke dem rechten Bein in Sachen Beweglichkeit deutlich hinterherhinkt. Raphael Böni gibt mir gleich einige Übungen mit auf den Weg, um dieses Defizit zu beheben und die Beinachsenstabilität zu verbessern.
Sitzpositionsanalyse inklusive Druckmessung: kleine Anpassungen, grosse Wirkung
Schon ist eine halbe Stunde vergangen und mein Gravelbike steht immer noch ungefittet im Keller der Crossklinik. Doch das ändert sich nun. Mit dem 3D-Motion-Capture-System von Retül bietet die Crossklinik eine fortschrittliche Analyse, um die dynamische Sitzposition zu bestimmen. Innerhalb weniger Sekunden erfasst Raphael Böni dabei die Körperwinkel der Sportlerinnen und Sportler. Vorgenommene Veränderungen an der Sitzposition sind dadurch sofort messbar und die Annäherung an die optimale Position kann direkt überprüft werden.
Ein wichtiger Punkt: Ich mache das Bikefitting inklusive Satteldruckmessung mit gebioMized. Grundsätzlich kann man dieses Feature auch weglassen. Raphael Böni empfiehlt es jedoch ausdrücklich, da diese Messung wichtige Hinweise zur Sitzposition (Druckverteilung und Stabilität) liefert.
In den nächsten zwei Stunden arbeiten wir uns von der Einstellung der Schuhplatten über die Höhe und den Versatz des Sattels zum Lenker bis hin zum Vorbau. Dabei nimmt Raphael Böni immer wieder kleinste Veränderungen vor und überprüft das Resultat anschliessend Punkt für Punkt. Schlussendlich haben wir die Sattelposition anhand der Satteldruckmessung optimiert, dabei die Höhe, den Setback und den Winkel auf meine Masse positioniert, den Lenker ergonomisch eingestellt und die Cleats angepasst.
Damit wir uns richtig verstehen: Wir reden hier von einigen wenigen Millimetern. Die Anpassungen scheinen auf den ersten Blick minimal zu sein. Auf den zweiten sind die Auswirkungen auf dem Bike enorm. Zum Beispiel stellt Raphael Böni fest, dass meine Cleats ein wenig zu weit vorne am Schuh positioniert sind. Er nimmt sie darum fünf Millimeter zurück, sodass sie exakt auf der Achse zwischen den Grundgelenken des grossen und kleinen Zehs liegen.
Jede Menge Daten und eine wichtige Erkenntnis
Nach drei Stunden sind doch einige Kilometer auf der Rolle zusammen gekommen und mein Gravelbike ist nun auf mich eingestellt, pardon, gefittet. Zum Schluss erstellt Raphael Böni mit dem sogenannten Zin-Tool von Retül ein digitales Abbild meines Velos. Und ich bekomme im Anschluss ein 10-seitiges PDF mit meinem persönlichen Report. Dieser ist vollgepackt mit Zahlen zu allen möglichen Einstellungen wie Sattel- und Lenkerposition, Trittausrichtung und Gelenkwinkel.
Aber frei nach dem Sprichwort mit dem Bild und den vielen Worten, sagen diese zwei Bilder mehr als 1000 Zahlen:
Subjektiv fühlt sich die Position auf dem Velo nun um einiges sportlicher an. Ich sitze tiefer, weiter nach vorne geneigt, sodass die Position auch auf der Dropbar, also dem unteren Teil des Rennlenkers, angenehm ist. Die Schultern sind gesetzt und die Arme sind nun nicht mehr durchgestreckt, sondern in einer entspannten Position. Und ich muss das nochmals wiederholen, schlussendlich haben wir (nur) Folgendes verändert:
- Cleats 5 mm nach hinten
- Sattel 5 mm tiefer
- Sattelwinkel auf 0°
- Lenker nach unten rotiert und Hoods 10 mm nach oben
- Sattel 5 mm zurück
Nach diesem professionellen Bikefitting fahre ich mit einem gefühlt «neuen» Gravelbike und einer wichtigen Erkenntnis nach Hause: Velofahren scheint auf den ersten Blick ein trivialer Vorgang zu sein. Auf den zweiten Blick ist das Zusammenspiel von Mensch und Maschine ein komplexer Vorgang, bei dem fünf Millimeter weit mehr sind als ein halber Zentimeter. Die Abbildung oben mit der Druckverteilung auf dem Sattel steht sinnbildlich dafür. Ich bin nach dem Bikefitting sozusagen «leichter» als zuvor.
Epilog
Seit meinem Besuch bei Raphael Böni in der Crossklink sind nun einige Tage vergangen und ich habe rund 50 Kilometer mit dem neu eingestellten Velo abgespult. Dabei ist mir folgendes aufgefallen:
Die Verspannungen im Nacken und unteren Rückenbereich sind weg, die linke Hand schläft nicht mehr ein. Einzig die Sohle vorne rechts wird noch immer ein wenig taub. Allerdings deutlich weniger stark als zuvor. Raphael hatte mich bei meinem Besuch jedoch darauf hingewiesen, dass dies vermutlich auch an den Schuhen respektive der Einlage liegt. Meine Füsse sind für den Shimano-Schuh, den ich trage, ein wenig zu breit. Sollten die Beschwerden anhalten, hat er mir andere Einlagen von Specialized empfohlen oder als letzte Lösung einen anderen Schuh, zum Beispiel ein Modell von Lake Cycling.
Ausserdem scheint mir die Kraftübertragung wesentlich besser zu sein. Alles in allem fühlt sich alles ein Mü sportlicher an. Das ist, wie gesagt, ein erster Eindruck nach ein paar wenigen Kilometern und doch ein grosser Unterschied zu vorher.
Du bist auch an einem professionellen Bikefitting bei der Crossklink in Basel interessiert? Hier findest du alle relevanten Informationen dazu.
Titelfoto: Christian WalkerVom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.