Produkttest

Canon PowerShot G1: Nicht lustig

David Lee
18.9.2020

Im Jahr 2000 waren Digicams eher Spass-Gadgets. Doch die G1 ist eine ernsthafte Kamera. So ernsthaft, dass es auch 20 Jahre später noch keinen Spass macht, damit zu fotografieren. Obwohl sie so schlecht ist, dass es eigentlich lustig sein müsste.

Die PowerShot G1 ist nicht irgendeine alte Kamera. Sie ist legendär. Damit startete Canon im Jahr 2000 eine berühmte Serie, die es – in leicht veränderter Form – noch heute gibt. Es sind die leistungsfähigsten Kompaktkameras von Canon – allerdings auch die grössten und schwersten. Heute könnte die G1 mit ihrem halben Kilo Gewicht kaum noch als kompakt bezeichnet werden.

V.l.n.r.: Canon PowerShot A50, Ixus 70 und PowerShot G1
V.l.n.r.: Canon PowerShot A50, Ixus 70 und PowerShot G1

Eine ambitionierte Kamera

Mit Jahrgang 2000 ist die PowerShot G1 nur ein Jahr jünger als die PowerShot A50. Dennoch sind die Unterschiede gewaltig. Bei der A50 kann ich fast nichts manuell einstellen, bei der G1 fast alles. Das Objektiv ist mit f/2,0–2,5 deutlich lichtstärker. Die Auflösung beträgt 3,3 gegenüber 1,3 Megapixel.

Trotz der viel höheren Datenmenge braucht die Kamera nur einen Bruchteil der Zeit, um ein Foto zu speichern. Die A50 ist nach einer RAW-Aufnahme sagenhafte 20 Sekunden lang blockiert. Bei der G1 kann ich dank eines Pufferspeichers fünf RAW-Fotos hintereinander machen, bevor die Kamera mal eine Auszeit zum Speichern braucht. Die G1 hat sogar eine Videofunktion. Mit der Geschwindigkeit der A50 wäre das undenkbar.

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    von David Lee

Der Bildschirm ist winzig und trotzdem klobig. Doch lässt er sich um 180 Grad ausklappen und um 360 Grad drehen – auch 20 Jahre später keine Selbstverständlichkeit. Bei dem Schrott-Monitor der G1 ist das doppelt praktisch, denn er zeigt das Bild nur aus einem ganz bestimmten Blickwinkel richtig an. Durch Drehen kann ich den Blickwinkel passend einstellen.

Dank einem Zweitbildschirm ohne Hintergrundbeleuchtung und einem Sucher kann ich mit der G1 auch ohne den Bildschirm fotografieren. Das spart Akku.

Im Original-Lieferumfang wäre eine Fernbedienung enthalten. Die habe ich leider nicht. Zur Kamera gehört zudem ein optionaler Objektivadapter und drei passende Objektivaufsätze. An den Adapter lässt sich ein 58mm-Filter anschrauben. Zum Beispiel ein Infrarotfilter, dadie Kamera gut für Infrarotaufnahmen geeignet sein soll.

Meine Vorfreude ist gross. Mein Frust danach ebenfalls.

Irgendwie mühsam

Schon die Inbetriebnahme der G1 ist mühsam. Mein Exemplar stammt wie die Nikon Coolpix L3 aus unserer firmeninternen (Schrott-)Kamerasammlung. Um sie zum Laufen zu bringen, muss ich erst ein Ladegerät und einen neuen Akku besorgen.

Das lichtstarke Objektiv führt zuerst einmal nicht zu besseren Bildern, sondern zu Überbelichtung. Denn bei der manuellen Blendenvorwahl kann die G1 nicht kürzer als 1/500 Sekunde belichten – das ist bei schönem Wetter bereits zu lang. Im Modus Zeitvorwahl kann ich sie bis 1/1000 Sekunde schrauben, aber dann ist die Blende immer fix auf f/8 eingestellt. Dabei wäre ja der Sinn dieses Modus, dass die Blende automatisch angepasst wird. Anscheinend handelt es sich hierbei um einen Firmware-Bug.

f/2 mit 1/500 Sekunde und 50 ISO
f/2 mit 1/500 Sekunde und 50 ISO

Später, als ich die Belichtung im Griff habe, enttäuschen mich die Bilder. Wie schon bei der PowerShot A50 kann ich die RAW-Files farblich nicht so flexibel korrigieren wie bei einer modernen Kamera. Doch bei der A50 gefallen mir die Farben, wie sie sind. Hier nicht. Ich hätte das Grün gern gelblicher, was kaum hinzukriegen ist. Die Notlösung: Schwarzweiss-Aufnahmen.

Nahezu schwarzweiss und daher okay ist die zufällig entstandene Serie von Schattenbildern.

Bracketing: Warum einfach scheitern, wenn es auch kompliziert geht

Die Dynamik ist sehr begrenzt: Bei hartem Licht sind die hellen Partien komplett weiss oder die dunklen komplett schwarz. Von diesem Problem sind alle Digitalkameras betroffen, die alten Kompaktkameras aber ganz besonders.

Daher hat die Canon PowerShot G1 eine Bracketing-Funktion. Die Kamera schiesst drei Bilder hintereinander mit unterschiedlicher Belichtung. Die drei Einzelbilder rechnest du anschliessend am Computer zu einem HDR-Bild zusammen.

Es passt zu dieser Story, dass mir auch das nicht richtig gelungen ist. Unter anderem sind folgende Dinge schief gelaufen (Murphy’s Law lässt grüssen):

  • Irgendetwas bewegt sich im Bild, zum Beispiel Blätter im Wind. Oder es tauchen aus dem Nichts irgendwelche Jogger auf. Das geht nicht, die drei Bilder müssen exakt gleich sein.
  • Die Kamera, die sonst immer überbelichtet, hat ausgerechnet bei der Bracketing-Funktion keine Überbelichtung, wodurch diese nutzlos wird.
  • Selbst das dunkelste Bild ist immer noch überbelichtet.

Übrigens weigert sich Lightroom, Einzelbilder der G1 zu einem HDR zusammenzusetzen. In Photoshop funktioniert es.

Dieses Bild ist ein HDR-Bracketing-Bild. Okay, das ist ganz hübsch. Okay, ich höre auf zu motzen.

Aber ohne Bracketing kommt es auch nicht viel schlechter heraus. Also motze ich doch noch ein bisschen.

Die Videofunktion

Damit leite ich elegant über zur Videofunktion, die mehr als genug Anlass zum Motzen gibt. Klar, es ist schon ein Wunder, dass eine so alte Digicam überhaupt Video beherrscht, aber irgendwie sind dann 320x240 Pixel doch nicht so das Wahre.

Das Video ist an einer Stelle zu Ende, an der es nicht hätte zu Ende sein sollen. Also, nochmals.

Ich sehe mich selbst vor der Kamera, aber ich sehe nicht, ob die Aufnahme läuft. So richtig klar wird mir erst am Computer, was das Problem ist. Das Problem ist, dass die Aufnahme immer nach 30 Sekunden stoppt. Naiverweise habe ich angenommen, dass es bei 320×240 Pixeln möglich sein müsste, etwas länger aufzunehmen. Immer dran denken: Im Jahr 2000 habe ich noch ein Analog-Modem benutzt.

Fazit: protestantische Workoholic-Spassbremse

Ich habe nun schon einige alte Digiknipser ausprobiert, und es hat immer grossen Spass gemacht. Ausgerechnet mit der G1, von der ich mir am meisten versprochen habe, ist es anders. Mit dieser Kamera zu fotografieren fühlt sich immer wie Arbeit an – nicht wie Vergnügen. Wahrscheinlich, weil die G1 als Arbeitstier konzipiert wurde.

Böse Zungen könnten einwenden, dass ich ja hier tatsächlich bei der Arbeit bin und sich das gefälligst auch so anzufühlen hätte. Aber diese bösen Zungen sollten ihre Zunge hüten. Denn sie haben eines mit der G1 gemeinsam: Beides sind humorlose, protestantische Workoholic-Spassbremsen.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 

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