Hintergrund

CH-Regisseur Michael Steiner: «Netflix will genau das, was der Schweizer Film normalerweise nicht tut»

Luca Fontana
12.10.2023

Die Schweiz hat ihren ersten Netflix-Film: «Early Birds». Während der Neo-Noir-Thriller im Zentrum der Zürcher Langstrasse vorerst nur im Kino läuft, habe ich mich mit dem Schweizer Erfolgsregisseur Michael Steiner zum Gespräch getroffen.

Das Interview wurde am 27. September aufgezeichnet. Du findest es im Video oben. Alternativ kannst du das Gespräch auch hier in schriftlicher Form nachlesen.


Zweimal taucht sein Name unter den Regisseuren der zehn erfolgreichsten Schweizer-Filmen nach Kinoeintritten auf – als einziger. Und wer den elften Platz dazu nimmt, würde den Namen sogar ein drittes Mal sehen: Michael Steiner.

Bekannt wurde der gebürtige Hergiswiler 2005 mit «Mein Name ist Eugen». Ein Jahr später sorgte der Swissair-Thriller «Grounding» erneut für volle Schweizer Kinosäle. Und 2018 war «Wolkenbruch» so gut, dass das Bundesamt für Kultur die Komödie als offizieller Beitrag aus der Schweiz an die Oscar-Verleihung schickte. Eine anschliessende Nomination gab’s zwar nicht – aber dafür kaufte sich Netflix die Filmrechte. Das war Steiners internationaler Durchbruch.

Der nächste potenzielle Hit steht jetzt in den Startlöchern: «Early Birds». Das ist nicht nur der erste Neo-Noir-Thriller des 54-Jährigen. Sondern der erste Schweizer Kinofilm, der von Netflix co-produziert wurde. Pünktlich zum Kinostart am 12. Oktober habe ich mich mit Michael Steiner zum Gespräch getroffen. Im Mittelpunkt: Warum Streaming eine Chance für den Schweizer Film ist, was er für Netflix extra anders machen musste und wie es war, die Newcomerin des Jahres zu entdecken.


«Early Birds» ist nicht der erste Schweizer Kinofilm auf Netflix. Aber der erste Schweizer Kinofilm von Netflix. Wie muss man sich das vorstellen: Hast du eines Tages einfach eine E-Mail von Netflix bekommen?
Michael Steiner: (lacht) Nein, nein. So läuft das nicht bei uns. Der Film war bei Netflix bereits in der Pipeline, als die Anfrage nach einem Regisseur über hugofilm (Anm. d. Red.: neben Netflix eines der drei produzierenden Studios) an mich gelangte. Da «Wolkenbruch» bereits auf Netflix lief und sehr gute Zuschauerzahlen hatte, wurde ich gefragt, ob ich bei «Early Birds» Regie führen wolle. Da habe ich natürlich sofort zugesagt.

Genau, «Wolkenbruch». Den kann man wohl als deinen bislang international erfolgreichsten Film bezeichnen?
Zumindest, was Streaming betrifft. Das gab’s vorher bei meinen früheren Filmen ja noch nicht.

Hat das an deiner Vorgehensweise bei der Filmproduktion etwas geändert? Mit Netflix als Co-Produzent wusstest du ja von Anfang an, dass «Early Birds» auf eine internationale Bühne gehoben wird. Beim Dreh von «Wolkenbruch» hingegen nicht.
Klar, das macht schon Eindruck, wenn du für Netflix einen Film inszenieren darfst. Als erster Schweizer Kinofilm sowieso. Meine Crew und ich haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir in der internationalen Konkurrenz auffallen und bestehen können. Ich hatte aber auch einen sehr guten Austausch mit Netflix. Bei Drehbuchbesprechungen etwa wurde mir sehr schnell bewusst, wie gezielt sie vorgehen und dass sie sehr klare Ideen haben, was sie von einem Netflix-Film erwarten.

«Early Birds» nimmt sich kaum Pausen und steigt gerade anfangs direkt in die Action ein – so mag es Netflix.
«Early Birds» nimmt sich kaum Pausen und steigt gerade anfangs direkt in die Action ein – so mag es Netflix.
Quelle: hugofilm / Netflix
«Netflix will Filme, die das Publikum direkt in die Handlung ziehen. Also genau das, was der Schweizer Film normalerweise nicht tut.»

Zum Beispiel?
Sie wollen Filme, die das Publikum in kurzer Zeit in die Handlung ziehen. Da hat man keine halbe Stunde Zeit für Exposition oder Einführung der Figuren. Netflix wollte also genau das, was der Schweizer Film normalerweise nicht tut.

Manche sagen, dass Streaming eine Gefahr fürs Kino sei. Du hast jetzt aber gerade mit Netflix zusammengearbeitet. Ich nehme an, du hast eine andere Meinung dazu?
Oh, ich habe sogar eine radikal andere Meinung! Im Kino weiss man ja kaum mehr, was funktioniert und was nicht. Dazu kommt, dass der Kinomarkt seit der Pandemie enorm eingebrochen ist. Das macht mir das Leben als Eidgenössischer Kommerz-Gurgler auch nicht einfacher (lacht).

So gesehen kann das Streaming-Geschäft auch eine Chance für den Schweizer Film sein. Wie für die bis vor wenigen Jahren total unbekannte Koreanische Filmindustrie, die durch Netflix eine riesengrosse Bühne bekommt.
Ja, und genau das ist es, was ich an Netflix mag. Wir schauen wieder vermehrt italienische, spanische oder französische Serien, sogar mit Untertitel. Serien aus der ganzen Welt halt. Du hast Südkorea erwähnt. «Squid Game» zum Beispiel war tatsächlich eine wahnsinnig gute Serie mit Hand und Fuss. Durch diese neuen Gewohnheiten wird auch das Kino selbst wieder sehr viel internationaler.

  • Hintergrund

    Spoiler Talk: Ist Squid Game Hype oder Kritik?

    von Luca Fontana

Kommen wir zu deinem neuen Film. In «Early Birds» geht es um zwei junge Frauen, die die Ketten ihrer Welt sprengen wollen. Anika, eine der beiden Protagonisten, entdeckt gleich anfangs in einem Glückskeks den Spruch: «Der frühe Vogel fängt den Wurm». Ich nehme an, der Titel «Early Birds» ist eine Anspielung darauf?
Ich glaube, das ist mehr ein ironisches Spielchen, das unser Autor Thomas Ritter zum Ausdruck bringen wollte. Weil der Wurm, den Anika fängt, ist ja eine Sporttasche voller Koks und Geld. Und den Keks isst sie während einer wilden Drogen-Party an der Langstrasse.

Ein alles andere als glückbringender Glückskeks also.
Och, also… kommt drauf an, wie man’s interpretiert. Aber… Ich will ja nichts spoilern.

Nilam Farooq als Anika fällt verhängnisvolle Ware in die Hände, die sie auf Leben und Tod verteidigt.
Nilam Farooq als Anika fällt verhängnisvolle Ware in die Hände, die sie auf Leben und Tod verteidigt.
Quelle: hugofilm / Netflix
«Silvana Synovias wuchtige Performance als Newcomerin? That’s the magic of movies!»

Über etwas anderes müssen wir aber unbedingt reden: Silvana Synovia. Was für eine Performance gibt die Newcomerin denn bitte ab? Sie spielt im Film ja die zweite Hauptrolle, Carla. Kannst du mir verraten, wo du sie gefunden hast und wie du diese Leistung aus ihr herauskitzeln konntest?
That’s the magic of movies! Ich habe Silvana ziemlich lange gecastet. Also immer wieder zum Vorsprechen eingeladen. Drei, viermal. Und jedesmal dachte ich mir: Das ist sie, die Figur, die sie später spielen soll.

Dabei kam sie direkt von der Schauspielschule.
Und sie hatte keine Erfahrung mit so einer grossen Produktion. Das braucht viel Vorbereitung. Wenn du eine Hauptrolle spielst, spielst du die Szenen ja meistens nicht in chronologischer Reihenfolge. Da steht die zweitletzte Szene des Films womöglich am ersten Drehtag und die dritte Szene des Films am zweiten Drehtag. Du musst als Schauspielerin also immer ganz genau wissen, wo deine Figur gerade emotional steht, an jedem Punkt der Story. Das ist eine enorme Herausforderung, gerade für eine so junge und unerfahrene Schauspielerin.

«Für mich ist das die grösste Freude am Filmemachen, wenn ich so ein Talent entdecken und mit ihm zusammenarbeiten darf.»

Aber?
Aber Silvana hat das Ganze einfach bravourös gemeistert. Sie wurde jeden Tag besser. Und hätten wir 30 Tage weitergedreht, wäre sie noch viel besser geworden. Sie ist wirklich eine Wucht. Für mich ist das die grösste Freude am Filmemachen, wenn ich so ein Talent entdecken und mit ihm zusammenarbeiten darf. Ich bin wirklich stolz darauf, wie Silvana den Film zieht und ihrer Figur so eine Kraft gibt. Bravo, Silvana!

Man nimmt es Silvana Synovia kaum ab, dass sie direkt von der Schauspielschule kommt.
Man nimmt es Silvana Synovia kaum ab, dass sie direkt von der Schauspielschule kommt.
Quelle: hugofilm / Netflix

Gleichzeitig war es bestimmt hilfreich, auf einen Hollywood-Veteranen wie Anatole Taubman als Kommissar im Film zählen zu dürfen?
Absolut. Anatole ist nicht nur ein unglaublich guter Schauspieler, sondern einer der letzten Method Actors überhaupt. Das heisst, dass er selbst während der Drehpausen in seiner Rolle bleibt. Silvana hingegen nicht. Ich musste also immer unterscheiden, mit wem ich gerade rede und wie ich meine Regieanweisungen geben muss, um im richtigen Moment in die Szene einzutauchen.

Ich will ehrlich sein: Ich dachte, du hättest schon zig Filme mit Anatole Taubman gedreht. Dann habe ich während meinen Recherchen festgestellt, dass das tatsächlich dein erster Film mit ihm war.
Anatole und ich sind ja auch gut befreundet. Wir haben aber noch nie zusammengearbeitet, das stimmt. Deshalb war dieser Dreh umso mehr eine grosse Freude. Ich glaube, man spürt auch, dass das Vertrauen am Set von Anfang an da war. Und genau darum geht’s bei der Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern – ums Vertrauen. Je mehr da ist, desto besser klappt die Zusammenarbeit.

Hollywood-Veteran Anatole Taubman spielte in «James Bond: Quantum of Solace» Elvis, den bösen Handlanger von Dominic Greene.
Hollywood-Veteran Anatole Taubman spielte in «James Bond: Quantum of Solace» Elvis, den bösen Handlanger von Dominic Greene.
Quelle: hugofilm / Netflix
«Wir haben viel über den Zürcher-Slang vom früher gesprochen. Über Ausdrücke wie ‹du Nuss› oder ‹los mier zue, du Schälle›.»

Worüber hast du dich am meisten mit Anatole ausgetauscht?
Wir haben zum Beispiel viel über den Zürcher-Slang von früher gesprochen. Über Ausdrücke wie «du Nuss» oder «los mier zue, du Schälle». Anatole und ich sind ja aus derselben Generation. Irgendwie fanden wir, dass es zu Kommissar Roland, seiner Figur, passt, dass er noch immer diesen Duktus von vor 20 Jahren hat. Das haben wir dann mit seiner Grandezza als Schauspieler vermischt.

Das spürt man. Zum Schluss noch dies: Wenn es eine Botschaft gäbe, die ich aus dem Film mitnehmen soll, welche wäre es?
Trau den Männern nicht (lacht)!


«Early Birds» ist Michael Steiners neuester Kinofilm und läuft ab dem 12. Oktober nur in Schweizer Kinosälen. Im Frühling 2024 wird er auch auf Netflix und oneplus ausgestrahlt.

Die Story: Nach einer wilden Party-Nacht mit blutigem Ende steht Anika (Nilam Farooq) plötzlich mit massig Cash und Koks da. Mit Caro (Silvana Synovia) verbündet sie sich gegen die Dealer und Cops, die sich an ihre Fersen heften. So folgt eine Flucht quer durch die Schweiz, bei der sie bereit sind, ihre geheimsten Sehnsüchte zu verteidigen – wenn nötig mit Kopfschuss.

Titelfoto: Ascot Elite Entertainment

26 Personen gefällt dieser Artikel


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    Ziegen, Lügen und Kevin Spacey: Die Story hinter dem Netflix Soundlogo

    von Dayan Pfammatter

  • Hintergrund

    Netflix zeigt Trailer zu «One Piece», «Squid Game 2» und «The Last Airbender»

    von Luca Fontana

  • Hintergrund

    «White Bird» – Marc Forsters Ode an die Menschlichkeit

    von Patrick Vogt

Kommentare

Avatar