Die Spikeball-Story: Vom totgesagten Spiel zum Trendsport
Spikeball ist Anfang der 1990er Jahre tot. Bis ein Junge, der früher nicht mitspielen durfte, mit 900 Dollar und viel Einsatz einen neuen globalen Sport auf den Weg bringt.
Am Anfang steht die Liebe zum Spiel. Der Teenager Chris Ruder ist begeistert, als Freunde seines grossen Bruders mit einem seltsamen runden Gestell samt faustgrossem Plastikball aus einem Spielzeugladen in der Nachbarschaft kommen. Spikeball. Ein Spiel, das damals, 1989, neu auf dem Markt ist. Es sollte bald wieder verschwinden, doch der Kauf erweist sich als Glücksgriff. «Ich war der nervige kleine Bruder und durfte anfangs nur zuschauen», erinnert sich Ruder, der heute CEO eines Unternehmens mit über 20 Millionen Dollar Jahresumsatz ist. Der Name seines Unternehmens: Spikeball.
Es ist eine amerikanische Erfolgsgeschichte. Eine von Freunden aus Kindertagen. Start-up-Stimmung im Keller. Mut zum Risiko. Dem Glauben an sich und die Idee. Doch der Hauptantrieb ist die Liebe zum Spiel. «Ich fand es super cool», sagt Ruder, der irgendwann doch mitspielen durfte. Ob es dir genauso geht, weisst du spätestens fünf Sekunden, nachdem du die ersten Spielzüge gesehen hast. Spikeball hat Ähnlichkeiten mit Volleyball. Wobei Volleyballer*innen das Spiel hassen. Das wird Ruder 20 Jahre später herausfinden.
Review in a nutshell
Mir geht es wie Chris. Meine Finger zucken sofort, als ich die ersten Spikeball-Grüppchen im Park entdecke. Gedanken, die mir durch den Kopf schiessen: «Das muss ich spielen! Das will ich haben! Warum kenne ich das nicht?» An Ort und Stelle habe ich gegoogelt und mir ein Set bestellt. Nach kurzem Zögern das Original, denn es gibt so ein Spiel auch deutlich günstiger. Das bisschen Plastik und ein Netz kosten ordentlich Geld, aber ich habe die Entscheidung für Spikeball aus zwei Gründen nicht bereut.
Erstens ist Plastik das logische Material. Es ist leicht zu transportieren und, viel wichtiger, es gibt nach, falls jemand darauf stürzt. Was durchaus möglich ist. Denn Spikeball weckt Wettkampfinstinkte. Die Schwierigkeit besteht darin, sich um den Ring zu bewegen und den Ball aus der Luft auf die kleine Netzfläche am Boden zu spielen. Antizipation, Raum- und Ballgefühl sind gefragt.
Zweitens hat Ruder in einem Talk erzählt, was passieren soll, wenn ein Kunde nach Ersatzteilen fragt, weil ein dusseliger Kumpel im Sprung das acht Jahre alte Set zerlegt hat. «Dann antworten wir, dass wir keine Ersatzteile verkaufen», sagt der CEO. Kunstpause. «Wir verschicken sie gratis!» Man hänge das nicht an die grosse Glocke, aber es gebe eine lebenslange Garantie auf das Produkt. Im Idealfall liege zusätzlich noch eine humorvolle Karte im Paket mit dem Ersatzteil. Die Kund*innen zu überraschen und zu erfreuen, persönlich und authentisch zu sein, ist Kern der Unternehmensphilosophie. Ruder hat es weit gebracht für einen, der von sich sagt: «Was befähigt mich dazu, eine Sportartikelfirma zu leiten, die in China produziert und hauptsächlich übers Internet verkauft? Wenn man sich meinen Lebenslauf anschaut, bin ich der Letzte, der das machen sollte.»
Die Anfänge: 900 gut investierte Dollar
Irgendwann darf Ruder also mit seinem Bruder und dessen Freunden spielen. Jahre später stellen bei einem Strandurlaub auf Hawaii Passanten immer wieder dieselben drei Fragen: «Was ist das für ein Spiel? Wie wird es gespielt? Und wo kann ich es kaufen?» Während die ersten beiden Antworten (Spikeball, ähnlich wie Volleyball) einfach sind, können sie bei der dritten nur mit den Schultern zucken. «Wir wussten lediglich, dass Spikeball 1989 herausgebracht und 1991 wieder eingestellt wurde», sagt Ruder. So kommt die Idee auf, das Spiel und die Marke wiederzubeleben.
Auch Ruder belässt es zunächst beim Reden, doch ihn lässt der Gedanke nicht mehr los. Ein paar Jahre ziehen ins Land, bis er zu einem Anwalt marschiert, um herauszufinden, was überhaupt möglich ist. Die Antwort gleicht einem Jackpot. Die Namensrechte sind ausgelaufen und ein Patent gar nicht angemeldet. Erfunden wurde das Spiel von Jeff Knurek für das I.D.E.A. toy invention studio. Ruder nimmt Kontakt mit ihm auf, aber man findet nicht zusammen. Geschäftspartner werden sie nicht, obwohl beide das gleiche Ziel haben. «Heute ist der Sport, wo er sein sollte», sagt Knurek 2020 im Interview mit dem musmagazin.
Dort hingebracht hat ihn Ruder, der schlussendlich 800 Dollar für das Trademark und 100 Dollar für die Domain spikeball.com bezahlt. Gemeinsam mit seinem Bruder, einem Cousin und Freunden aus Kindertagen legt er gut 100 000 Dollar zusammen und macht sich ab 2008 daran, Spikeball voranzubringen. Das läuft nicht reibungslos ab. Nur Ruder brennt so richtig für die Idee. Die anderen ziehen nicht mit, investieren weniger Arbeit. Geschäftliches, Verwandtschaft und Freundschaft zu vermischen, ist schwierig. Man einigt sich, die anderen werden zu stillen Teilhabern. Spikeball ist von nun an Ruders Ding.
Dumme Fragen und kluge Entscheidungen
2008 hat Ruder also ein Trademark, eine Domain, etwas Startkapital und keine Ahnung vom Business. Sein Abschluss in Foto-Journalismus hilft nicht wirklich. Eine Erfahrung, die er als Angestellter bei Unternehmen wie Microsoft oder monster.com gemacht hat, dagegen schon. Sie motiviert ihn. Er will kein Rädchen im System mehr sein, sondern eigene Entscheidungen treffen. Fünf Jahre lang hat er durch Spikeball kein nennenswertes Einkommen, aber viel Arbeit. Tagsüber geht er seinem normalen Job nach, abends, nachdem die Kinder im Bett sind, treibt er das Projekt voran. Seine zweite Schicht, von neun Uhr bis um eins oder zwei in der Nacht. Er verwandelt mit amerikanischem Optimismus und Macher-Genen seine Ahnungslosigkeit in einen Vorteil. «Da ich weder Wirtschaft noch Marketing studiert habe, durfte ich dumme Fragen stellen», sagt er über die Anfänge.
Er schreibt Leute an, deren Expertise interessant für ihn ist. Nach dem Motto: «Ich schicke dir ein Spikeball-Set, lass uns ein bisschen reden.» Viele melden sich nicht zurück, aber mit einigen kommt er ins Gespräch. Und vor allem hakt er bei seinen ersten Kunden nach. Nicht mit einer Standard-Mail, sondern ganz persönlich. «Hey, ich bin der CEO und bringe deine Bestellung gleich zur Post», schreibt er dann irgendwann gegen Mitternacht. «Wie hast du in LA von uns erfahren? Grüsse aus Chicago!» Dann holt er die Ware aus dem Keller, packt seinen alten Kombi voll und fährt zum Nachtschalter, um Spikeball-Sets quer durch die USA zu schicken. Er bekommt wertvolles Feedback, bleibt mit den Kunden in Kontakt. «Dadurch habe ich ein Gespür dafür entwickelt, in welche Richtung ich mit dem Marketing gehen muss.» Das ist Gold wert, denn der naheliegendste Gedanke erweist sich als falsch.
Spikeball und Volleyball haben ähnliche Regeln. Ruder investiert in Google Ads. Wer nach Volleyball sucht, bekommt spikeball.com zu sehen. «Das brachte Traffic, aber keine Verkäufe», erinnert er sich. Also geht er zu Hause in Chicago auf Beachvolleyballer zu, lässt sie eine Runde spielen und kommt mit einer überraschenden Erkenntnis zurück: «Ich dachte, sie würden es lieben, aber sie haben es gehasst. Sie hatten null Interesse.»
Spikeball spricht andere Gruppen an. So lernt er, dass Sportlehrer*innen, christliche Jugendgruppen und Ultimate-Frisbee-Teams begeistert sind. Er verschickt Gratis-Sets und setzt darauf, dass sich das Spiel in den Communities verbreitet. Eine Sache hat Ruder ebenfalls früh erkannt: Spikeball ist kein Spielzeug, sondern hat Potenzial als Sportart. Es lässt sich zum Plausch am Strand oder im Park, aber auch unter Wettkampfbedingungen spielen. Dafür braucht es nicht viel mehr als ein Set und etwas Platz. Erst will er die USA erobern. Gegen Ende der 2010er Jahre ist von über vier Millionen aktiven Spielern die Rede. Inzwischen lautet die Mission, den nächsten globalen Sport zu erschaffen.
Rundnetz geht um die Welt
Langsam aber sicher startet Spikeball durch. Der Umsatz steigt von 10882 Dollar im Jahr 2008 auf eine Million im Jahr 2013 – mit genau null Angestellten. Das ist der Moment, in dem Ruder All-In geht, trotz Hypothek und drei Kindern den sicheren Job kündigt. «Sonst hebt die Rakete ohne dich ab», mahnt sein Umfeld. Ruder will abheben. Und er will am Steuer sitzen, er hat seine Bestimmung gefunden. Dazu gehört nicht nur die Marke Spikeball, sondern auch der Sport «Roundnet». Rundnetz. Das klingt zunächst nicht sehr sexy. Zwar wird Spikeball längst als Synonym dafür verwendet. Aber es ist ein cleverer Schachzug, die Sportart von der Marke zu trennen – um sie dann sofort wieder mit dem Ausrüster zu verknüpfen, wie es die Spikeball Roundnet Association tut. So wird ein Spiel zum Sport. «Basketball» oder «Baseball» muss sich auch irgendwann mal seltsam angehört haben. Doch es beschreibt, was Sache ist. «2010 oder 2012 haben wir das erste Turnier mit ein paar Freunden in Chicago veranstaltet», sagt Ruder. «Inzwischen haben wir Turniere, die auf ESPN übertragen werden.»
Die Rakete hebt also ab. Die Zeit ist reif dafür. «Anfang der 90er Jahre hatten wir nicht die sozialen Medien von heute», sagt Jeff Knurek, der Erfinder des Spiels, der inzwischen Teams sponsert und die Sportbekleidungsseite ClubSpike.net betreibt. Das «neue» Spikeball wird mit ihnen gross. Es trifft den Zeitgeist, ist schnell, spektakulär und kann praktisch überall gespielt werden. Sogar im Basecamp am Mount Everest. Wie gemacht für Social-Media-Highlights. Und Ruder, der CEO, nutzt die Gunst der Stunde. Er baut etwas auf, stellt erste Mitarbeiter ein und beherzigt, was ihn die frühen Jahre gelehrt haben.
Die Werte und das Ziel, mehr als ein erfolgreiches Unternehmen zu bauen, sind sein Kompass. 2015 kämpft er sich durch die Mühlen der Show Shark Tank. Die Sharks, das sind Geschäftsleute wie Mark Cuban, der Besitzer der Dallas Mavericks. Oder wie Daymond John, mit dem Ruder per Handschlag einen Deal besiegelt: Eine halbe Million Dollar für 20 Prozent an Spikeball. Ein Deal, der längst wieder Geschichte ist, als die Sendung endlich ausgestrahlt wird. John hat andere Ideen. Eine Kooperation mit Marvel Comics zum Beispiel. Spikeball Sets mit Spiderman-Logo, während Ruder die Vision einer ernstzunehmenden Sportart verfolgt. Es passt nicht, es gibt keinen Vertrag. Man trennt sich. Trotzdem ist die Show gut für's Geschäft.
Spikeball wächst und der CEO steht vor der Herausforderung, Verantwortung abzugeben. Er erinnert sich daran, wie eingeengt er sich in den Strukturen seiner früheren Arbeitgeber gefühlt hat. Inzwischen sind 40 Mitarbeiter*innen an Bord, die hauptsächlich aus dem Homeoffice für Spikeball arbeiten. Das war schon vor Corona so. Denn Ruder wollte ja selbst kein Rädchen im System mehr sein, also lässt er sich auf das grosse Experiment ein. Wann und wo gearbeitet wird, ist zweitrangig. Hauptsache es geschieht im Einklang mit den zehn Werten, die bei gemeinsamen Retreats regelmässig überarbeitet werden. Zwischen «have fun» und «don't be a jerk» ist viel Platz für persönliche Freiheiten. Der Unternehmer Ruder scheint ein feines Gespür für Menschen und gesellschaftliche Entwicklungen zu haben. Statt ein paar schnelle Dollar mit Lizenzprodukten oder Billigsets mitzunehmen, baut er eine weltweite Community auf.
Bislang funktioniert Ruders Konzept eines viralen Sports, der sich quasi selbst vermarktet, während sein Team ihn mit viel guter Laune, Nahbarkeit und sportlichen Strukturen unterstützt. Über die Spikeball-App (iOS/Android) kannst du dich mit anderen Spielern vernetzen, zum Match verabreden und über Events informiert bleiben. 2020 sollte in Belgien die erste Weltmeisterschaft stattfinden, die nun auf den Herbst 2021 verschoben ist. Die Parks und Strände hat Spikeball schon längst erobert, nun ist die «seriöse» Sportwelt dran. Gelegentlich geht Ruder, der Pionier, auch inkognito an ein Hobbyturnier und meldet sich, wenn jemandem ein Spielpartner fehlt. Manchmal wird er erkannt, manchmal auch nicht. Spass und ein Ohr an der Community hat er so oder so. Denn das ist das eigentliche Erfolgsrezept: Dass im CEO immer noch der begeisterte Junge von damals steckt.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.