Ersteindruck: «See» ist Apples erste grosse Show – und vielversprechend
Eine blinde Menschheit in einer weit entfernten dystopischen Zukunft: Das ist «See». Apples erste grossangelegte Serie punktet mit einer verdammt spannenden Prämisse und viel Tempo – zumindest anfangs.
Noch sind erst drei der insgesamt acht Episoden auf Apples neuen Streamingdienst, Apple TV Plus, verfügbar. Jede davon ist eine Stunde lang. Das reicht noch nicht für ein abschliessendes Urteil, aber für einen ersten Eindruck. Und der ist sehr gut.
Eines vorweg: In diesem Serien-Ersteindruck gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Ein furioser Start
Zirpen. Klacken. Streichen. Baba Voss (Jason Momoa), Anführer des Alkenny-Stamms, ist blind. Genauso wie sein Stamm. Das Land. Die ganze Welt. In einer dystopischen Zukunft, die Jahrhunderte von der heutigen Gegenwart entfernt ist, hat ein Virus nicht nur den Grossteil der Menschheit ausgerottet, sondern auch die wenigen Verbliebenen erblinden lassen.
In dieser postapokalyptischen Welt ist die Fähigkeit, zu sehen, ein Mythos. Schlimmer. Hexerei. Nur schon, darüber zu sprechen, gilt als ketzerisch. Denn die Menschen sind überzeugt: Wir, ihre Ahnen, haben durch die Gabe des Sehens den Planeten beinahe vernichtet. Nur Gottes Eingriff hat Schlimmeres verhindert, so der Glaube.
Aber vorerst bereitet Baba Voss seine Leute auf die heranrückende Armee vor. Sie wird angeführt von Tamacti Jun (Christian Camargo), Steuereintreiber und General der Hexenjäger. Seine Ankunft überschneidet sich mit der Geburt der Zwillinge, die zwar nicht Baba Voss’ leibliche Kinder sind, aber die Voss wie seine eigenen liebt. Allerdings scheinen Ankunft und Geburt kein Zufall zu sein. Was der Alkenny-Anführer noch nicht weiss: Beide Zwillinge haben die Gabe, zu sehen.
Gutes Tempo. Nur eine Schwäche
Es ist ein fulminanter Anfang, das «See» uns Zuschauern da bietet. Eine Schlacht unter Blinden, geführt mit Stock und Stein, aber nicht weniger blutig und brutal, als du es aus modernen Kriegsfilmen kennst. Das ist hohe Filmkunst.
Gedreht wurde die Serie im kanadischen British Columbia. Imposante Gebirgslandschaften und schier endlose Wälder prägen das Bild. Eigentlich ein denkbar ungünstiger Ort für Blinde. Aber Francis Lawrence, der «The Hunger Games»-Regisseur, will, dass von Anfang an klar ist, dass sich die Natur erholt hat. Dass sie ohne uns, die Sehenden, besser dran ist. Und dass diese Zukunft eben so weit von unserer Gegenwart entfernt ist, dass die Ruinen des eigentlich futuristischen Settings bereits wieder von Moos und Gras liegen.
Zumindest optisch ist «See» atemberaubend schön und einzigartig.
Tatsächlich erinnert «See» stark an das Computerspiel «Horizon Zero Dawn». Genau wie dort haben sich die ein, zwei Millionen übrig gebliebenen Menschen zu kleineren Stämmen zurückentwickelt. Der Glaube an Götter und deren vermeintlichen Willen beherrscht ihre Handlungen.
Klar ist: In dieser Welt ist der Sehende Gott. Jedenfalls bekräftigt das immer wieder Queen Kane, eine Art fanatische Königin der übriggebliebenen Menschen, die via Orgasmen die Stimme Gottes hört. Das ist übrigens genauso ultraseltsam, wie es klingt. Gespielt wird sie von Sylvia Hoeks, die in ihrer Stimmung innert Sekunden zwischen cholerisch-manisch und ruhig-kalkuliert wechselt wie Eddie Redmayne im miserablen «Jupiter Ascending». Um es klar und deutlich zu sagen: Nein, das ist kein Kompliment.
Überhaupt ist «See» zu keinem Zeitpunkt daran interessiert, seine Antagonistin, besagte Queen Kane, irgendwie spannend zu machen. Sie ist einfach nur böse. Basta. Wir Zuschauer sollen sie hassen. Ja gar verabscheuen. Es geht ihr nicht um die Angst, dass Sehende die Welt ein zweites Mal am Rande des Untergangs bringen könnten, sondern darum, dass die Sehenden ihre Macht in Frage stellen könnten. Aber zusammen mit ihrem komischen Schauspiel verkommt sie zur Witzfigur. Das Äquivalent zu King Joffrey in «Game of Thrones» ohne interessante Bösewicht-Figuren wie Tywin Lannister oder Ramsay Bolton, welche die Gegenseite eben doch spannend machen.
Eine grosse Schwäche der Serie – zum Glück aber die einzige.
Denn die meiste Zeit verbringen wir mit Baba Voss, der darum ringt, seinen Alkenny-Stamm in Sicherheit zu führen, während der Hexenjäger-General ihnen stets auf den Fersen ist. Gerade in der ersten Episode schlägt Regisseur Lawrence ein ungemein hohes Tempo an. In der zweiten Episode verliert sich dieses Tempo ein wenig, macht aber in der dritten mit einer genialen Kampfszene alles wieder wett. Mehr will ich dir nicht verraten.
Das ist die Postapokalypse, die du suchst
Versteh mich nicht falsch: «See» hat enorm viel Potenzial. Vor allem, weil sie endlich eine postapokalyptische Welt zeigt, die nicht von Zombies verseucht ist oder von einer nuklearen Katastrophe herrührt.
Stattdessen ist die Prämisse so spannend, dass sie bereits zum Nachdenken anregt, bevor überhaupt eine Sekunde Plot gelaufen ist: Wie funktioniert eine komplett blinde Gesellschaft? Steven Knight, Schöpfer der Serie und vor allem bekannt für «Peaky Blinders», denkt nicht daran, die Antwort in einer zweiminütigen Erklärung zu liefern und sich dann nicht weiter damit aufzuhalten.
Im Gegenteil. Tatsächlich suhlt sich «See» geradezu in den technischen Aspekten einer blinden Population. Wie funktioniert Häuserbau? Wie kann über weite Strecken kommuniziert werden, wenn niemand lesen und schreiben kann? Futtersuche. Wasserbeschaffung. Fortbewegung zu Fuss und zu Pferd. Brückenbau. Immer wieder fällt mir auf, wie kreative Lösungen auf vermeintlich banale Probleme gefunden werden müssen. Aber nicht nur. Eben: Wie kämpfen zwei Armeen gegeneinander, die sich nicht sehen können? Haben die Krieger in der vordersten Reihe Angst vor dem Speer, den sie nicht kommen sehen?
Ich kann nicht anders, als total fasziniert zu sein.
Auch, weil «See» für alle Problemstellungen logische Erklärungen bereit hält. Zum Beispiel jene, das sich über die Jahrhunderte hinweg auch blinde Menschen genetisch weiterentwickeln: Manche hören aussergewöhnlich gut. Andere riechen Angst. Wortwörtlich. So kann sich eine Gesellschaft bilden, die technologisch immerhin in der Feudalzeit angesiedelt sein könnte.
Ob das wirklich so realistisch ist, wie Serien-Schöpfer Steven Knight uns das vorgaukeln will, kann ich als Sehender kaum beurteilen. Aber die Illusion – falls es denn eine ist – funktioniert. Und um uns Zuschauern das alles näherzubringen, benötigt Regisseur Lawrence nur ganz wenig Exposition in den allerersten Sekunden. Ganz nach dem Motto «show, don’t tell». Denn wie die Welt von «See» funktioniert, kapieren wir Zuschauer aus Handlung und Dialog heraus. Genau so, wie es sein sollte.
Gut gemacht, Lawrence.
Fazit: Guter Anfang. Jetzt muss der Rest noch stimmen
Zugegeben: Die Gefahr, dass sich «See» zu sehr auf seine Prämisse einer blinden Gesellschaft in der Zukunft stützt und irgendwann totläuft, besteht. Aber gerade das Ende der dritten Episode eröffnet neue Möglichkeiten mit genügend Konfliktpotenzial: Verrat, eine dunkle, unaufgedeckte Vergangenheit, verbotene Liebe und sogar Korruption durch die Gabe des Sehens. Ja, es wird spannend.
Schlussendlich gelingt es «See» in kurzer Zeit eine riesige apokalyptische Welt zu erschaffen, die grossen Wert darauf legt, eine glaubwürdige und fähige blinde Zukunftsgesellschaft zu etablieren. Die schwache Storyline rund um Queen Kane enttäuscht, vermag aber zumindest mir nicht den Spass zu verderben.
Noch nicht.
«See» läuft auf Apple TV Plus. Die ersten drei Episoden sind bereits verfügbar. Die restlichen fünf kommen im Wochentakt jeweils am Freitag dazu.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»