Filmkritik: «Tenet» verwirrt, überfordert... und ist verdammt gut
Christopher Nolan ist eine seltsame Kreatur: In «Tenet» will er das intellektuelle Niveau des Arthouse-Films mit Hollywoods brachialem Blockbuster-Kino vereinen. Das gelingt.
Eines vorweg: In der Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Die Gefahr droht aus der Zukunft. Einer Zukunft, die ihre Vergangenheit angreift – in Form einer mysteriösen Waffe, die die Welt und ihr gesamtes Raum-Zeit-Gefüge auslöschen könnte. Warum die Zukunft das tun sollte? Ungewiss. Aber gefallen ist die Waffe in die Hände des russischen Milliardärs und Waffenhändlers Andrei Sator (Kenneth Branagh), offenbar gewillt, sie einzusetzen und alles Leben auf der Erde zu beenden.
Sator aufspüren und verhindern, dass die Waffe eingesetzt wird, soll ein amerikanischer Geheimagent (John David Washington), der in die Dienste des rätselhaften Geheimdienstes «Tenet» geraten ist. Was ihn erwartet, ist eine Jagd um den halben Globus – Mumbai, Tallinn, Pompeii und London – und das Brechen scheinbar unüberwindbarer physischer Gesetze, in der die Zeit selbst ihren natürlichen Fluss verändern kann.
Was zum – was habe ich da überhaupt gesehen?
Ein Wort, das vorwärts und rückwärts geschrieben denselben Sinn ergibt. Ein Palindrom. Das ist «Tenet». Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick ist «Tenet» Christopher Nolans spektakulärer Versuch, James Bonds Spionage-Action-Thriller mit Science Fiction zu verschmelzen.
Und «spektakulär» ist genau das richtige Wort. Der Film ist in so ziemlich allem spektakulär. Spektakulär gross. Spektakulär ambitioniert. Spektakulär… kompliziert. Nicht nur in seiner visuellen Art, die Strömungen der Zeit zu zeigen, sondern auch in seiner Komplexität, die immer wieder Überhand nimmt.
Schon die Traumebenen in «Inception» liessen den Verstand auf Hochtouren laufen: Nolan liebt es, das Publikum mit Puzzlestücken zu bewerfen, die es dann selber zusammensetzen muss. So gesehen ein Kompliment. Er verkauft uns nicht für dumm. Traut uns zu, auch mit komplexer Materie umgehen zu können. Aber: «Tenet» setzt einen drauf. Wartet mit Konzepten auf, die zu begreifen der menschliche Verstand kaum in der Lage ist. Etwa «invertierte Entropie». Also das Umkehren des natürlichen Zerfalls von Objekten.
Sprich: Objekte, die rückwärts in der sich vorwärts bewegenden Zeit reisen. Zum Beispiel Pistolenkugeln. Oder Autos. Klingt kompliziert? Ist es auch.
Typisch Nolan. Kein anderer Regisseur wagt es, derart intellektuelle Stunts mit dem Hollywood-Blockbuster-Kino unserer Zeit zu verbinden. Das macht den Briten aus. Das macht ihn so begehrt. Seine Filme so berauschend. Und «Tenet» ist berauschend. Gerade in seiner visuellen Wucht, die verwirrend und euphorisierend zugleich ist. Etwa, wenn ein Gebäude gleichzeitig vorwärts und rückwärts explodiert. Oder Pistolenkugeln den Lauf nicht verlassen, sondern davon eingefangen werden, alles und jeden zerschmetternd, das sich – nun, ja – in den Weg gestellt werden hat. Oder so.
Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Nolan hat noch mehr Munition. Etwa die Möglichkeit alternativer Realitäten. Paradoxen. Theorien über die Unveränderbarkeit oder Nicht-Unveränderbarkeit der eigenen Vergangenheit. Ja, mit den wissenschaftlichen Konzepten treibt’s der Regisseur, der auch das Drehbuch geschrieben hat, mitunter auf die Spitze. Aber so ist Nolan. Einer der letzten Autorenfilmer Hollywoods, der nur das verfilmt, was er auch selber geschrieben hat. Einer, dem selbst die grossen Studios scheinbar blind Millionenbeträge anvertrauen.
Und einer, der einen Kinostart mitten in der Pandemie durchsetzen kann.
«Versuch nicht, es zu verstehen. Fühle es», sagt etwa die von Clémence Poésy gespielte Wissenschaftlerin Laura, die den Protagonisten in die Welt Tenets einführt. Es könnte genauso gut Nolan sein, der direkt zum Publikum spricht, es ermutigend, nicht allzuviel zu hinterfragen.
Visuelle Opulenz auf Kosten der Charaktere
Nur: «Tenet» könnte in Punkto Charakterzeichnung Nolans bisher schwächster Film sein. Seine Figuren sind da, leben vom zweifelsohne vorhandenen Charisma ihrer Schauspieler, wirken aber selten wie echte Menschen in einer Welt, die 150 Minuten lang – oder zweieinhalb Stunden – die unsere ist. Bezeichnend, dass John David Washingtons Charakter im Abspann tatsächlich nur als «der Protagonist» aufgeführt wird.
Weit weg sind wir von Dominick Cobbs (Leonardo DiCaprio) Verlust und Schmerz in «Inception». Oder Bruce Waynes (Christian Bale) reuigen Weg zur Selbstfindung in «Batman Begins». Und an die emotionale Schwere des Cooper (Matthew McConaughey) – des Vaters, der seine Familie für die vage Möglichkeit in Stich lässt, die menschliche Rasse zu retten – tastet sich «Tenet» nicht mal ansatzweise heran.
Geschuldet ist das womöglich dem Genre. «Tenet» ist in erster Linie ein Spionage-Thriller. Klischees werden bewusst bedient. Stereotypen ausgenutzt. Das erspart wertvolle Zeit, die Erklärungen und Biografien mit sich brächten. Der Protagonist? Die Schablone des altruistischen Helden, der das eigene Leben riskiert, um die Welt zu retten. Der Bösewicht? Russe. Ergo ein emotionsloser Klumpen ohne Gnade. Die Klugen? Meistens Inder. Oder Robert Pattinson. Der gibt übrigens die beste Performance des Films.
In «Tenet» jedenfalls sind Figuren dazu da, sich der Handlung zu beugen. Sie erfüllen ihre Funktion. Etwa dem Protagonisten wichtige Informationen zu liefern. Im richtigen Moment, natürlich. Keine Sekunde früher. Dann verschwinden sie wieder. Emotionale Bindungen leben einzig vom Charisma der Schauspieler, nie von der Schreibe des Drehbuchs. Manche Bindungen funktionieren. Andere wiederum lassen uns Zuschauer kalt.
Für Nolan’sche Verhältnisse entschieden ungewöhnlich.
Temporeich und visuell atemberaubend: ein Fest fürs Kino
Was bleibt ist ein Meisterwerk. Zumindest ein visuelles Meisterwerk, das im Kino gesehen werden muss. Bevorzugt in einem IMAX-Kinosaal. Denn Nolan hat auf 70mm und in IMAX-Format gedreht. Als ob er und sein mittlerweile Stamm-Kameramann Hoyte Van Hoytema das langsame Abdriften der grossen Bilder in die Streamingwelt mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchten.
Van Hoytema – der Mann der grossen Bilder, der auch «Interstellar» und «Dunkirk» visuell eingefangen hat.
Gross wirken die Bilder auch, weil Nolan sich immer noch erfolgreich gegen den übertriebenen Einsatz von Computer-Effekten wehrt und «Wie zum Teufel haben die das gemacht» so eine Frage ist, die sich das Publikum immer wieder stellt. Wenn da etwa ein Frachtflugzeug in die Vorhallen eines Flughafens kracht, dann ist es eine echte Boeing an einem echten Flughafen. Klar, wieso auch nicht. Die Magie des Kinos halt.
Dass die Charaktere mitunter hohl und die Handlung überfrachtet wirkt, tut dem erquickenden Kinobesuch keinen Abbruch. Im Gegenteil. Ja, vieles in «Tenet» ist Blendwerk. Und die Handlung an sich schon beinahe nebensächlich. Das könnte wie ein Todesurteil wirken. Nicht bei Nolan. «Tenet» mag zwar nicht sein bestes Werk sein. Trotzdem würde man den Film am liebsten gleich ein zweites Mal schauen, naiv hoffend, doch noch hinter jener Logik zu kommen, die scheinbar unüberwindbare Gesetze besiegt.
Ein unmögliches Unterfangen.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»