Filmkritik: «Mulan» ist gut und wertvoll, reisst aber nicht vom Hocker
Wenn «Mulan» etwas nicht will, dann ein müder Abklatsch seiner Zeichentrick-Vorlage sein. Das gelingt wesentlich besser als bei den jüngsten Disney-Remakes. Viel wichtiger ist aber diese eine Lektion, die der Film erteilt.
Eines vorweg: In der Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
China ist bedroht. Der Feind kommt aus dem Norden. Barbarische Hunnen, ein Dorf nach dem anderen plündernd, rücken vor. Der chinesische Kaiser (Jet Li) handelt und befiehlt: Im ganzen Reich muss jede Familie einen Mann entsenden, um sich der grossen Armee anzuschliessen, die die Hunnen zurückschlagen soll.
Mulan Hua (Yifei Liu) ist eine Frau. Ihr Platz in der Gesellschaft klar vorgeschrieben: Einem Mann eine gute Ehefrau und Mutter seiner Kinder zu sein. Mulan aber ist anders. Aufmüpfig. Kämpferisch. Sie hat ein gutes Herz, neigt aber dazu, mit ihren rebellischen Eskapaden Schande über die Familie zu bringen.
Dann, als der Reichsverkünder die Botschaft des Kaisers überbringt, wird klar: Der einzige Mann in Mulans Familie ist ihr Vater, ein alternder und von Verletzungen geschwächter Kriegsveteran. Sollte er in den Krieg ziehen, wird er nicht mehr wiederkehren. Mulan beschliesst, aus rebellischem Eifer und aus Liebe zu ihrem Vater, seine Rüstung und sein Schwert zu stehlen, um sich selber der grossen Armee anzuschliessen – inkognito und als Mann verkleidet.
Die «Mulan»-Polemik
Die Polemiken um «Mulan» fingen verdammt früh an. Eigentlich schon 1998, als Disneys Zeichentrick-Version des chinesischen Volksmärchen in die Kinos kam. Der Kritikpunkt: Die chinesische Kultur sei klar von westlichen Vorstellungen und Klischees geprägt. Drachen, Jade, rote Laternen.. In China erfreut sich der 1998er «Mulan»-Film deswegen bis heute keiner allzu grossen Beliebtheit.
Wir spulen vor. Das Jahr 2017, März. Regisseurin Niki Caro verkündet, dass ihre Live-Action-Version der Disney-Vorlage kein 1:1-Abklatsch des Zeichentricks sein will. Eher eine getreue Umsetzung des Volksmärchens. Ein «anmutiges, mädchenhaftes Martial-Arts-Epos».
Als Konsequenz dessen würden die Lieder wegfallen. Mehr noch. Auch einige der ikonischen Charaktere wie etwa Drache Mushu und Generalssohn Li Shang. Ui. «Mulan» ohne «I'll Make A Man Out Of You»? Nein, danke.
Das Fass beinahe zum Überlaufen gebracht hat die Pandemie dieses Jahres. Zuerst musste der Film dreimal verschoben werden. Dann die endgültige Verbannung aus dem Kinosaal: «Mulan» gibt’s aktuell nur auf dem Streamingdienst Disney+. Und auch nur gegen eine zusätzliche Gebühr von 29.90 Franken oder Euro. Das gefällt nicht allen.
Polemik beiseite. Was taugt der Film?
Die Emanzipierung gelingt – fast
Eigentlich gar keine so schlechten Voraussetzungen. Der Film könnte nämlich überraschen. Gerade, weil die Erwartungen mittlerweile vorsichtig zurückhaltend sind. Und das Versprechen, das Regisseurin Niki Caro einst gegeben hatte, könnte verlockender kaum sein. Immerhin würde «Mulan» endlich keine Live-Action-Verfilmung sein, die intensiv mit der Nostalgie seiner Zeichentrick-Vorlage spielt.
«Beauty and the Beast», «Aladdin» und «The Lion King» lassen grüssen.
Tatsächlich ist «Mulan» deutlich erwachsener. Reifer. Weniger albern. Nur schon wegen dem Fehlen tierischer Nebencharaktere, die disneytypisch sprechen können. Dann die Actionszenen.
Oh, diese Actionszenen! «Mulan» fühlt sich mitunter fast schon wie ein enger Verwandter chinesischer Klassiker wie «Crouching Tiger, Hidden Dragon» oder «Hero» an. Vor allem, was die handgemachte Action betrifft. Etwa, wenn Mulan an total offensichtlich wegretuschierten Kabeln durch die Szenen fliegt, Wänden entlangläuft und im Zweikampf das Schwert schwingt, als ob sie einen poetischen Tanz mit ihrem Gegenüber ausführte.
Das gefällt und ist gleichzeitig so weit vom Zeichentrick entfernt, wie’s nur geht. Aber: Es ist genau diese Entfernung, die der Film während seinen 115 Minuten nicht gut genug aufrecht erhält. Bist du nämlich ein Fan der Zeichentrick-Vorlage, hast du ein Problem: Im direkten Vergleich hält die Live-Action-Version selten stand. Es fehlt oft der Charme. Das Herz. Die Nahbarkeit. «Diese Passage hat mir im Zeichentrick besser gefallen» ist so ein Gedanke, der immer wieder aufpoppt.
Etwa, wenn Mulan sich zur unfassbar schönen Filmmusik aus der Feder Jerry Goldsmiths entschliesst, den Platz ihres Vater in der grossen chinesischen Armee einzunehmen. Im Zeichentrick geht da ein Streit voran. In der Live-Action-Version vertragen sich Vater und Tochter wieder, ehe sie dann doch beschliesst, zu gehen. Die Entscheidung, im Streit zu gehen, ist deutlich schwerer. Das Wissen, der Familie Schande zu bereiten, aber dafür den eigenen Vater zu retten, gleichzeitig tragischer und heroischer.
Vielleicht liegt das an Harry Gregson-Williams Soundtrack zum Live-Action-Film.
Seine Musik ist nämlich oft episch, manchmal brachial, aber zu oft generisch. Und immer wieder zitiert er kleine Goldsmith-Versatzstücke aus dem Zeichentrickfilm. Als ob ihm der Mut fehlte, auf eigenen Beinen zu stehen. Oder die Inspiration. Vor allem in den grossen, emotionalen Szenen, bei denen das wunderschöne «Reflections»-Thema schamlos aus den Lautsprechern dröhnt.
Es sind genau solche musikalischen Elemente, die uns Zuschauer gedanklich immer wieder zurück zum Trickfilm führen. Zu den Vergleichen. Vergleichen, die die Live-Action-Version selten gewinnt. Die versprochene Emanzipation, sie ist da. Nur leider nicht konsequent genug.
Mulan, Feminismus und die starke Frau
Ich will Regisseurin Niki Caro keine Vorwürfe machen. Ihre Regie fühlt sich solide an. Die wunderschön poetischen Choreografien fängt sie mit ruhiger und gekonnter Hand ein. Genauso wie die Welt, die sie und ihre Szenenbildner für Mulan erschaffen haben.
Zeitlich befinden wir uns nämlich im feudalistischen China. Saftig grüne Wiesen, die sich über Hügel wie Wellen auf dem Meer erstrecken, wechseln sich mit rot-orange schimmernden Wüsten, verschneiten Bergen und opulenten Holzpalästen und Kriegskasernen ab. Dazwischen Vieh, Märkte, bunte Kostüme, Gewürze, Getreide, Seide, Stoff, Strohhüte und Teekannen.
Ein Fest fürs Auge.
Zugegeben: Manchmal wirkt das Ganze etwas gar perfekt in Szene gesetzt. Da hätte wenigstens ab und zu ein wenig Dreck auf der Kleidung gehört. Oder unter den Fingernägeln. So kommt beinahe das Gefühl auf, einer Kostümparty epochalen Ausmasses beizuwohnen.
Aber das ist Nörgeln auf hohem Niveau. Schliesslich sehen die meisten Sets und Kulissen aus, als ob sie tatsächlich für den Film gebaut worden sind. Als ob sie nicht aus dem Computer stammen. Sowas ist selten. Und vor diesem Hintergrund darf Hauptdarstellerin Yifei Liu eine wunderbar starke Mulan geben.
Das ist wichtig. «Mulan», der Zeichentrickfilm, ist gerade deswegen so wertvoll, weil er zeigt, wofür Feminismus steht. Nicht für den Kampf. Nicht für Frau gegen Mann oder Mann gegen Frau. Er steht für Gleichwertigkeit. Gleichwertigkeit zwischen den Geschlechtern. Und das bringt auch Niki Caro in ihrer Live-Action-Version rüber.
In beiden Filmen besagen die traditionellen Werte der Familien, dass der Mann der Held ist und die Frau nichts als die stille Hausfrau und Mutter. Werte, die falsch, aber etabliert sind. Und als der Kaiser um die Hilfe des Volkes bittet, bittet er nur um einen Mann aus jeder Familie. Er käme nicht mal auf die Idee, dass dieser Mann durch eine Frau ersetzt werden könnte.
Mulan hält das für unfair. Bricht alle Regeln, alle Traditionen, und dient an Stelle ihres Vaters in der Armee. Sie tut es nicht nur für ihn. Sie tut’s auch für sich. Um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Einen Platz, von der die Gesellschaft selber noch gar nicht weiss, dass es ihn überhaupt geben könnte.
Dabei ist Mulan nie die typische Disney-Prinzessin der 1950er Jahre, die einfach «nur» schön ist. Es geht ja auch gar nicht ums Äussere. Es geht um die inneren Werte. Mulan ist aufrichtig, mutig und stark. Manchmal schusselig und tollpatschig. Wenn es sein muss, ist sie aber eine Rebellin, die sich ungerechten Regeln und Sitten widersetzt. Es tut nichts zur Sache, welchem Geschlecht sie dabei angehört. Heldentum hat kein Geschlecht.
Und wenn sie sich allen Widerständen zum Trotz die Anerkennung der Männerwelt verdient, dann fühlt sich das nicht wie «besiegen» oder «besiegt werden» an. Eher wie «verstehen». Mulan wird zur Kriegerin. Dann zur Legende. Plötzlich ist diese Männerwelt eine Welt, in der es keine Trennung nach Geschlechtern mehr gibt.
Das ist Gleichwertigkeit.
Tja: Schöne Opulenz, aber hülsige Charaktere
Was bleibt, ist ein durchaus sehenswerter Film mit einer ungemein wichtigen Botschaft: Jener der Gleichwertigkeit. Dazu kommt die brachiale Action, die meisterlich komponiert und choreografiert ist, und Szenenbilder wie aus dem Bilderbuch – wenn zuweilen auch etwas gar perfekt.
So richtig vom Hocker reissen kann «Mulan», die 2020er-Version, aber nicht. Das liegt nicht an der Inszenierung. Eher an den recht unnahbaren Schauspielern, die zwar sympathisch wirken, aber überhaupt nicht in Erinnerung bleiben. Der Bösewicht des Films etwa. Oder seine helfende Hexe. Randfiguren. Mehr nicht. Darum habe ich sie bis jetzt auch nicht erwähnt. Und dann die generische Filmmusik, die nur dann richtig gut ist, wenn sie ihre Zeichentrick-Vorlage zitiert. Ausgerechnet.
So. Ich geh mal «Mulan» gucken. Die 1998er-Version.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»