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Grazie, Ciao, Beso oder eine vermeintliche Kulturreise
Eine Route entlang von UNESCO-Weltkulturerbe und etwas «dolce far niente». So habe ich mir meinen Urlaub ausgemalt. Doch ein Mercedes und Konsumwahn haben dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Um 6.11 Uhr klingelt der Wecker. So früh bin ich schon lange nicht mehr aufgestanden. So fröhlich auch nicht. Heute geht’s das erste Mal seit Monaten in die Ferien. Durch die Alpenländer Schweiz, Italien und Österreich mit einem kleinen Fiat 500, der sich am Ende als Mercedes GL herausstellt. Ist komfortabler für Flup, meinen Reisebegleiter. Ich schäme mich ein bisschen.
Tag 1 - Ein nicht so digitaler Nomade
Die zwei kleinen North-Face-Taschen nehmen relativ wenig Platz in dem Siebenplätzer ein. Der dafür ziemlich viel auf den Strassen Zürichs. Auf Landstrassen geht’s nach Graubünden: Äpfel pflücken in Grüsch, Pause in Davos. Flup hat eine kurze Sitzung mit dem Chef – genau genommen ist heute noch ein Arbeitstag. Ich gönne mir einen Bottich Cappuccino und checke ein paar Mails. Wir müssen weiter. Ausgebremst von einem Mercedes SL AMG schleichen wir durch das steile Albulatal. Flup platzt der Kragen: «Du dummer #v!xsp!» rufend überholt er mit 100 Sachen.
Brünzelnd vernimmt Flup die Essenz seiner Mitarbeiterinfo. Die Organisationsstruktur sitzt noch nicht, es muss alles noch einmal überarbeitet werden. Derweil höre ich gebannt den Ideen meiner Arbeitskollegen zu. Gerade als ich zum Rundumschlag ansetzen will, lässt uns die Technik im Stich: kein Internet auf dem Albulapass. Schnell durchs Engadin, den Bernina hoch in den nächsten Call. Mein Chef will mich – so nehme ich an – gerade vor aller Ohren befördern, doch auch den Berninapass erreicht die sagenumwobene 5G-Strahlung nicht. Trotzdem fährt es sich als wahrscheinlich bestätigte «Head of Content» besser.
In Poschiavo essen wir Hirsch umgeben von GA-Rentnern im Velotenue. Kurz durchs Veltlin, über den Apricapass ins Valcamonica. Ein Verfahrer führt uns zu billigem Lambrusco aus dem Zapfhahn. Gestärkt brettern wir das schmale Strässchen zu unserem Agriturismo hoch. Ein alter Herr mit Rollator erschrickt nur kurz, bevor er das mächtige Gefährt bewundert. Oben angekommen wartet noch die gesamte vernachlässigte Arbeit auf mich, die sich nur mit einem Bier bewältigen lässt. Es gibt wieder Hirsch. Zu den Klängen des rauschenden Bachs geht ein ereignisreicher Tag zu Ende.
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Tag 2 - Flup und die E-Biker
Vier Stück Kuchen! Das versteht man hier unter einem ausgewogenen Frühstück. Auf dem ersten Pass des Tages erleben wir den nächsten Höhepunkt. Auch die Aussicht ist gut. Reiff am Gardasee hingegen treibt Flup alle guten Geister aus. Er verliert die Façon. Widerwillig setzt er sich mit mir an den äussersten Tisch eines Ristorante. Das Essen war gut und wir bald wieder weg aus dieser deutschen Exklave. Flups lautstarkes Geschimpfe über die germanischen E-Bike-Touristen kann meine Stimmung nicht trüben. Ich freue mich auf Verona.
Gerade so zwängen wir den SUV in die Tiefgarage. Zu Fuss queren wir die Brücke über die Etsch und erblicken das Castelvecchio. Flup verliert sich in kulturellem Geschwärme, wobei uns auffällt, dass wir die weltberühmten Felszeichnungen in Valcamonica vor lauter Weinkäufen verpasst haben. Die Suite scheint uns angemessen: Fresken an den Decken, drei Zimmer. Ich lasse den Korken von unserer grosszügigen Terrasse auf die Marktbesucher am Piazza del Erbe knallen. Zum Abendessen gibt’s dann Amarone im Glas und im Teller. Die Unesco-gepriesenen Gässchen sind auf dem spätabendlichen Spaziergang nach Hause nicht sehr eindrücklich und Wegbier finden wir auch nirgends. Also geht’s ins fürstliche Schlafgemach.
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Tag 3 - Coglione
Heute soll’s endlich Kultur geben. Die Villa Rotonda - palladianische Perfektion - erwartet uns in Vicenza. Sie ist leider geschlossen. Dank einer gewonnen Wette darf ich Flup stattdessen eine Führung durch die Altstadt geben. Jäh wird diese nach den ersten Schritten von einem wild fuchtelnden Herrn unterbrochen: Ich habe den Kofferraum offen gelassen.
Als ich Flup den Zusammenhang des ökonomischen Wohlstands Vicenzas und den gotischen Maueröffnungen erläutere, erblickt dieser Kulturbanause eine Bar. Die Acciughebrötchen fesseln ihn mehr als mein unerschöpfliches Wissen. Also gebe auch ich mich dem Wein hin. Zurück am Parkplatz rechnen wir beim Anblick eines Stück Papiers unter dem Frontscheibenwischer unsere erste Busse. Doch liebevoll steht da: «Coglione, è per le auto elettriche!» Anscheinend besteht kaum Verwechslungsgefahr zwischen unserer Benzinschleuder und einem flinken Tesla. Guter Stimmung machen wir bald an einem Supermarkt Halt: Flup braucht dringend ein Bier.
Inmitten praller Reben beziehen wir unser Nachtquartier in der Jagdhütte des Prinzen von Borgoluce. Abendessen gibt es hier leider nicht, wie uns schelmisch grinsend mitgeteilt wird, so als ob es nicht das erste Mal sei. Also tuckern wir ins nächste Dorf und genehmigen uns auf dem faschistisch anmutenden Platz einen Apérol Spritz zur Beruhigung der Gemüter. Im Bistro des Prinzen von Borgoluce bestellt Flup hausgemachte Take Away Burger für eine Grossfamilie, die wir mit einer Flasche Prosecco in unserem Garten hinunterspülen. In die Sterne schauend erzähle ich Flup als Gutenachtgeschichte vom schönen Leben auf dem Planeten Gazosa und seinen wahnsinnig sozialen Bewohnern, den Klackis.
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Tag 4 - Alles schmeckt besser gestohlen
Heute wird gewandert - aber nicht ohne Prosecco. Nach einem kalorienreichen Frühstück bestehend aus allerlei Hofprodukten, montieren wir die Birkenstock-Sandalen und machen uns auf den Weg. Nach der dritten Kurve will Flup eine Pause einlegen, der Schaumwein würde sonst warm. Aus der Ferne hören wir einen vermeintlichen Schafhirten jodeln. Beim Näherkommen entpuppt sich dieser als Walkman hörender Jogginganzugträger in weiss. Angetan von den Klängen schweift Flup ab und erzählt mir stundenlang vom Carnaval in Salvador de Bahia.
Wir durchwandern Felder, Wälder und finden uns selber auf einem Antikmarkt wieder. Beim Durchstöbern alter Postkarten bleibt Flups Blick eindeutig zu lange an den prallen Brüsten einer jungen Berberin hängen. Ich verliere kurz meine ansonsten unerschütterliche Gelassenheit. Das kann nur eine Flasche Wein und eine herzhafte Mahlzeit richten. Die Küche der nahegelegenen Osteria ist leider schon geschlossen. Gerade einmal zwei Vorspeisenteller können noch offeriert werden. Als Entschuldigung werden noch ein paar heisse Patati dazu gereicht. Mit der gewonnen Energie umrunden wir die Gemäuer einer alten Burg, bevor wir für eine Flasche Prosecco to go in die Osteria zurückkehren. In bester Detlef D! Soost-Manier choreographieren wir uns entlang der Feldwege nach Hause.
Nach etwa drei Stunden – anstatt der üblichen eineinhalb – erreichen wir angeheitert und hungrig unsere Jagdhütte. Abendessen gibt’s bekanntlich nicht, Autofahren kann aber auch niemand mehr. Wir ziehen die einzig logische Konsequenz: Wir bedienen uns am Kühlschrank des Prinzen. Weil der Schlüssel zur Küche steckt, kommen wir an ein bisschen Büffelmozzarella, ein halbes Dutzend Kirschtomaten und Hirschsalami. Kombiniert mit eigenem Bergkäse und Äpfeln aus Grüsch eröffnet sich auf dem Holzbrett ein ungeahntes Festmahl. Mit vollen Bäuchen und dem Bewusstsein, ein Kavaliersdelikt begangen zu haben, legen wir uns bald zur Ruh.
Tag 5 - Salami im Kühlschrank
Nach einem ausgedehnten Frühstück, das dem Abendessen von letzter Nacht wahnsinnig ähnelt, setzen wir uns nach eintägiger Pause endlich wieder ins Auto. Nach wenigen Minuten legen wir den ersten Konsumstopp ein. Im Laden von Borgoluce kaufen wir kartonweise Prosecco und Wein. Eine aus semi-wilden Schweinen hergestellte Knoblauchsalami bildet den krönenden Abschluss der Akquise. Ein paar Kilometer weiter, in Valdobbiadene, halten wir für einen Cappuccino: Aber nicht ohne bei Massimo in der lokalen Önothek zwei gute Flaschen Prosecco DOCG zu besorgen.
Die eindrücklichen Felsrifffe der Dolomiten bringen uns dazu, ganz ohne Konsumabsicht zu rasten. Die Bushaltestelle am Karer See scheint uns ein geeigneter Ort zum Parkieren unseres Autos zu sein. Nach ein paar Minuten des Staunens werden wir zur Weiterfahrt gedrängt. Langsam meldet sich eh der Hunger. In einem wunderbaren Bergrestaurant bestellen wir Teigspezialitäten bei einer flexiblen Temperatur von etwa 45 Grad in der Sonne und 15 Grad im Schatten. Nachdem wir noch schnell das dazugehörige Lädchen leer gekauft haben, sitzen wir auch schon wieder in den beigen Ledersitzen.
Sterzing ist unsere Destination für heute. In dem südtirolerischen Städtchen bodigen wir das Durchschnittsalter wie schon so oft auf dieser Reise. Wir werfen unsere Taschen im Hotelzimmer hin und machen uns sogleich auf in den pulsierenden Dorfkern. Gegessen wird im Hotelrestaurant, da es als einzige Lokalität bis nach acht Uhr geöffnet ist. Nach einigen Vierteln Weisswein und einem halben Liter zerlassener Butter, schmeissen wir uns im Zimmer in die aufliegenden Frottee-Bademäntel und die perfekt darauf abgestimmten Pantoffeln und lassen den Abend mit Fussball ausklingen.
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Tag 6 - Wolfis Segway
Wir haben noch kein Olivenöl gekauft, weshalb wir bedauerlicherweise im Spar Halt machen müssen. In Österreich wird’s kaum mehr Produzenten geben. Wie im Rausch füllt Flup den Einkaufswagen mit seinem Hauptnahrungsmittel. Als kaum mehr Platz ist, entdecken wir günstigen Lambrusco mit teuer anmutender Etikettierung. 14 Flaschen bringen wir noch irgendwie unter. Mit deutlich mehr Gewicht auf der Hinterachse fahren wir Richtung Jaufenpass – der direkteste Weg ist nicht unser Ziel. Der Jaufenpass aber auch nicht, der ist wegen Asphaltierungsarbeiten gesperrt. Das wird uns erst am Fusse des Bergs bekanntgegeben, deshalb geht’s erst alles zurück und dann über den Brenner.
In Österreich angekommen folgt bald die erste Erfrischungspause. Ich muss das Riesengefährt bis vor den Eingang steuern, um nachzusehen, ob der Gasthof einen Biergarten besitzt, da Flup keine Anzeichen macht, seine Beine nutzen zu wollen. Deshalb muss ich rückwärts in den Parkplatz. Nicht gerade meine Paradedisziplin. Immerhin fühlt sich Flup bestens unterhalten. Durchs Tirol brausen wir weiter auf Landstrassen, schnell vorbei am Corona-Hotspot Ischgl, bis zur Silvretta Hochalpenstrasse. Dort werden überraschenderweise 16,50 Euro fällig. Flup kriegt sich kaum mehr ein, fühlt sich abgezockt, versteht das österreichische Modell bestehend aus teurer Vignette und Maut nicht. Die schöne Aussicht kann’s nicht richten. Erst beim Heidelbeersammeln am Strassenrand kommt bei ihm so etwas wie ein Gefühl von Gerechtigkeit und Entspanntheit hoch, das wenige Minuten später schon wieder verloren geht. Ein Dortmunder scheint das erste Mal durch die Alpen zu fahren und vermiest Flup den Spass in den Kurven.
Eine gute halbe Stunde später sitzen wir in der Ferienwohnung meiner Eltern in Schruns. Lambrusco schlürfend geniessen wir die Aussicht vom Balkon, als auch schon meine Schwester in Begleitung antrabt. Wir haben uns zum Essen in der Seppl Stoba verabredet. Das Essen schmeckt vorzüglich, gerät aber durch die Präsenz des Kellners beinahe in Vergessenheit. Wolfi – wie er von uns liebevoll genannt wird – ist voller Enthusiasmus, stets zu Diensten und wundert sich hie und da etwas über die Coronapolitik der Regierung Kurz. Irgendwann schmeisst er uns raus, da er doch gerne Feierabend machen würde. Wir nicht, weshalb wir die Gespräche auf unserem Balkon fortführen. Plötzlich blendet uns ein schneeweisses Licht. Wir glauben an ein Velo mit Xenon-Scheinwerfern, aber siehe da, es ist Wolfi auf dem wahrscheinlich einzigen Segway im Montafon. Da der Abend von da an nur noch schlechter werden kann, werden auch bei uns die Lichter gelöscht.
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Tag 7 - Zurück ins wahre Leben
Wir haben keine Milch für den Kaffee, also wird auswärts getrunken. Im Café gleich an der Kirche trinkt ein alter Mann mit Hut Rotwein. Zwei weitere stossen dazu, für sie ist’s jedoch zu früh für Wein, sie trinken um 9 Uhr lieber Bier. Ich bin angetan von der Atmosphäre, also setzen wir uns in Sichtweite. Auf dem Rückweg machen wir einen Abstecher in einen Käsekeller. Da gibt’s auch Wurst, aber nicht so schön wie die von den halbwilden Schweinen. Gleichzeitig schauen Flup und ich uns entsetzt an: Wir haben die gute Salami in der Minibar in Sterzing vergessen! Geknickt kaufen wir Kürbiskernlikör, um über den Schmerz hinwegzutäuschen.
Gegen Mittag verlassen wir Schruns in Richtung Zuhause. Über Liechtenstein und einen kurzen Stopp am Walensee, wo uns der Getränkepreis stark vermessen erscheint, erreichen wir Zürich. Dort muss Flup noch gerahmte Bilder im Wert und Gewicht eines Kleinwagens holen. Mit dem Velo wäre das eine kaum lösbare Aufgabe. Denn im wahren Leben sind wir unmotorisiert unterwegs und kaufen dadurch und aus Überzeugung nur das Nötigste ein. Der SUV aber hat uns verleitet. Verleitet zu einer Woche Konsum, Kultur- und Rücksichtslosigkeit. Es war wunderbar. Es wird eine Ausnahme bleiben.
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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.