Warum Jäger auch ohne Beute glücklich sind
Hintergrund

Warum Jäger auch ohne Beute glücklich sind

Die Jagd ist wohl in keinem anderen Kanton der Schweiz so stark verankert wie in Graubünden. Nicht hinter jedem Baum sitzt ein Jäger, aber beinahe. Rund 5500 sind jeweils im September mit Rucksack und Gewehr auf der Hochjagd. Zwei von ihnen habe ich begleitet.

Am Ende werde ich dasitzen, mit leerem Blick und Schmerzen im Knie. Erschöpft, nass geschwitzt und hungrig. Claudio wird mir etwas zu trinken bringen, während Marco vor der Jagdhütte stehen wird und sagt: «Die Glut ist schön heiss, der Salat auch fertig. Ich lege jetzt die Würste auf den Grill. In zehn Minuten gibt's zu essen». Ich möchte ihn umarmen und bin nach zwei Tagen auf der Bündner Hochjagd im Calancatal trotzdem froh, dass es bald nach Hause geht. Aber der Reihe nach.

Marco und Claudio auf der Bündner Hochjagd 2021.
Marco und Claudio auf der Bündner Hochjagd 2021.

Rückblende: zwei Tage zuvor

Abfahrt in Chur: Ich bin mit Marco verabredet, einem der beiden Jäger, der hier eine Praxis für Physiotherapie betreibt. Wir machen uns auf den Weg ins Calancatal. Von Arvigo geht ein Strässchen auf rund 1500 Meter über Meer zur Jagdhütte. Die schmale Strasse schlängelt sich in Serpentinen vom Tal den Berg hinauf. Am Abend vor dem ersten Jagdtag ist die Fahrt zur Hütte erlaubt. Danach muss das Auto im nächsten Dorf parkiert werden.

Es ist unterdessen kurz vor 22 Uhr, im Scheinwerferlicht von Marcos Auto taucht immer wieder das eine oder andere Wildtier auf. Bis wir die Hütte erreicht haben, zählen wir sieben Hirsche. Drei davon wären jagdbar. Und zwar nach Tagesanbruch bis abends exakt um 19:45 Uhr. Dann ist es zu dunkel, um zu schiessen. Ob ein Tier geschossen werden darf oder nicht, hängt unter anderem vom Geschlecht und Alter des Wildes ab. Handelt es sich um eine Hirschkuh, einen Stier oder ein Kalb? Oder ist es ein Jungtier vom letzten Jahr? Viele weitere Punkte entscheiden über die Jagdbarkeit eines Stückes, wie das Wild in der Jägersprache heisst. Wie Marco das alles aus dem Wagen und in Sekundenbruchteilen erkennt – die Hirsche verschwinden von den Scheinwerfern aufgeschreckt im Nu im Wald – bleibt mir ein Rätsel. 30 Jahre Jagderfahrung haben wohl ihre Spuren hinterlassen.

Schliesslich erreichen wir die Hütte, wo uns Claudio bereits mit Käse, Salsiz und Brot erwartet.

Ein Tag fast zum Vergessen

Der nächste Morgen ist verregnet. Am Abend zuvor haben Claudio und Marco die Wetterprognosen studiert und entschieden, erst im Laufe des Tages loszugehen. Heisst für mich erst einmal ausschlafen. Wobei das auf der Jagdhütte bedeutet, um sieben Uhr aufzustehen. Immerhin. So viel Schlaf wie heute bekomme ich in den nächsten beiden Nächten nicht mehr. Nur weiss ich das an diesem grauen Morgen zum Glück noch nicht. Beim Morgenkaffee werweissen die beiden Jäger, ob die Hirsche, die wir letzte Nacht auf der Fahrt zur Hütte gesehen haben, heute irgendwo im Gebiet unterwegs sein werden. Zuversicht macht sich breit.

Den Rest des Vormittags verbringen Claudio und Marco mit kleineren Arbeiten an der Hütte. Es gibt immer was zu tun. Zum Beispiel Nägel entfernen, die im Vorratsraum aus den Holzbalken ragen und an denen man leicht hängen bleibt. Und dann ist es auch bald schon Zeit, das Mittagessen vorzubereiten. Holz spalten, Grill anfeuern und Salat rüsten.

Der Schwenkgrill ist hier fast täglich im Einsatz.
Der Schwenkgrill ist hier fast täglich im Einsatz.

Ich beginne mich schon beinahe zu langweilen und will den Tag etwas vorschnell abhaken, als wir uns um 16 Uhr schliesslich doch noch auf den Weg zur Jagd machen. Die Sonne hat inzwischen die Oberhand gewonnen und zeigt sich zwischen Wolkenfetzen immer wieder. Claudio und Marco wollen in einem Gebiet ansitzen, das sie «Paradies» getauft haben. Die Jäger haben den Orten, die sie im Frühsommer rekognosziert hatten, Namen gegeben: «Unter der Strasse», «Gamsboden» oder eben «Paradies» beschreiben drei dieser Gelände-Hotspots.

  • Hintergrund

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    von Patrick Bardelli

Ich erinnere mich an dieses «Paradies», das für mich eher einer Hölle gleichkommt. Im Juni begleitete ich die Jäger bei den Jagdvorbereitungen und musste auf dem Weg dorthin, steil die Falllinie den Berg hinauf, passen. Keine Chance mit ihnen da hochzukommen. Deshalb beschleicht mich heute ein mulmiges Gefühl beim Gedanken an eine Rückkehr in dieses Stück unberührte Wildnis. Der Fussmarsch führt durch unwegsames Gelände, durch Bäche und immer noch feuchtes, hohes Gras. Vorbei an mannshohen Erlensträuchern und verborgenen Wildwechseln. Jeder Schritt ist eine Herausforderung und ein Fehltritt könnte fatale Folgen haben. Auch Claudio und Marco haben mit dem Gelände zu kämpfen, müssen sich regelmässig irgendwo Halt suchen und rutschen dennoch immer wieder aus. Irgendwie bin ich erleichtert, dass es nicht nur mir so geht. Von den Hirschen des Vorabends ist weit und breit nichts zu sehen.

Der Blick ins Tal ist von hier tatsächlich paradiesisch.
Der Blick ins Tal ist von hier tatsächlich paradiesisch.

«Das Wild passt sich uns Jägern an», sagt Claudio dazu. Auf meine Frage, was er damit meine, erklärt der studierte Biologe, dass Hirsch, Reh und Co. wohl adaptiert hätten, wie und vor allem wann gejagt würde. So sei das Wild immer häufiger in der Nacht unterwegs und würde sich tagsüber zum Beispiel unter den Erlensträuchern verbergen. Diese Vermutung würden auch die Aufnahmen der Kameras bestätigen, die die Jäger vor der Bündner Hochjagd im Gebiet verteilt haben. Nachts sei mehr los als tagsüber.

Ein Hirsch kommt selten allein ...
Ein Hirsch kommt selten allein ...
 ... voilà.
... voilà.

Um halb sieben erreichen wir schliesslich das Gebiet, wo Claudio und Marco heute noch ansitzen wollen. Wir installieren uns so gut es geht an einem steilen Abhang im hohen Gras und warten.

Eine Dreiviertelstunde später. Nicht nur der Abend dämmert, auch ich döse vor mich hin. Noch eine halbe Stunde warten, dann geht's zurück zur Hütte. Ein Tag zum Vergessen, schiesst es mir durch meinen vernebelten Kopf, als ich plötzlich Claudio aufgeregt flüstern höre: «Hirsch, Hirsch». Schlagartig bin ich hellwach und beginne aufgeregt im Rucksack nach meinem Feldstecher zu suchen. Er hängt mir um den Hals. Mein nervöses Genestel ist auch dem exakt 91 Meter entfernten Hirschstier nicht verborgen geblieben. Aufmerksam blickt er in unsere Richtung, er scheint mir direkt in die Augen zu schauen. Claudio mahnt mich zur Stille und Unbeweglichkeit.

Quiet please: Wenn ein Blick mehr sagt als tausend Worte.
Quiet please: Wenn ein Blick mehr sagt als tausend Worte.

«Darfst du den schiessen?», flüstere ich in Claudios Richtung. Ich erinnere mich an die Fahrt des Vorabends mit Marco und das Gespräch über die vielen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, bevor geschossen werden darf. Neben dem Alter muss der Jäger auch bestimmen, ob das Tier nach einem erfolgreichen Schuss geborgen werden kann, ob es einen Kugelfang gibt und noch vieles mehr. Der junge Hirsch ist unterdessen weitergegangen und äst nun in rund 140 Metern Entfernung von uns. Bis auf eine Entfernung von 200 Metern darf ein Jäger, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, seinen Schuss abgeben. «Und, darfst du?», frage ich nach. Claudio schaut durch sein Zielfernrohr und verneint. Der Hirsch ist zu jung, wurde im Juni geboren und darf deshalb frühestens im nächsten September geschossen werden. Gut für ihn.

Unverrichteter Dinge machen wir uns auf den Heimweg. Auf dem ich dann verstehe, warum bis 19:45 Uhr gejagt werden darf und nicht länger. Um acht Uhr ist es im Wald stockfinstere Nacht und ich stolpere hinter den beiden Jägern her. Die scheinen in ihren Augen Nachtsichtgeräte integriert zu haben. Jedenfalls gehen sie zügig und ohne jegliche Unsicherheit die letzten paar hundert Meter zur Hütte. Ich habe unterdessen die Taschenlampe meines Handys aktiviert. Ich entschuldige mich bei allen Eulen und sonstigen Wildtieren, die ich damit allenfalls aufgescheucht habe.

Dann sind wir in der Hütte. Duschen, essen, schlafen. Mehr geht heute nicht mehr. Ein Tag, der nur beinahe zum Vergessen war, geht zu Ende. Wir konnten das Hirschkalb für einige wenige Minuten beobachten. Was für ein wunderbarer Anblick. Durchaus erleichtert, dass es nicht geschossen wurde, schlafe ich ein.

Ein Tag, der bleibt

Um fünf Uhr in der Früh am nächsten Morgen steht Claudio neben meinem Bett: «Magst du einen Kaffee? Es ist Zeit aufzustehen, in einer Stunde gehen wir los». Zum Frühstück gönne ich mir einige der besten Nussstängeli der Welt, die Claudio am Vortag gebacken hat, und packe neben einem Beutel Studentenfutter ein paar davon für unterwegs in den Rucksack. Noch vor Tagesanbruch machen wir uns auf den Weg zum Mot Ciarin, dessen Passhöhe auf knapp 2200 Metern über Meer liegt.

Es ist stockfinster als wir uns auf den Weg machen.
Es ist stockfinster als wir uns auf den Weg machen.
War hier das lokale Tourismusbüro aktiv?
War hier das lokale Tourismusbüro aktiv?

Auf wenigen Kilometern legen wir über 500 Höhenmeter zurück. Das bedeutet, dass Claudio und ich auf dem Hinweg praktisch ausschliesslich in Falllinie den Berg hinaufgehen. Das ist zwar anstrengend, aber kein Vergleich zum Rückweg. Dazu komme ich später. Wir gehen quasi dem Sonnenaufgang entgegen, ein majestätisches Spektakel. Das Panorama der Bergwelt ist atemberaubend.

Unberührte Natur, soweit das Auge reicht.
Unberührte Natur, soweit das Auge reicht.

Die aufgehende Sonne taucht die Gipfel um uns in ein bernsteinfarbenes Licht. Ich bleibe stehen und sauge die Stimmung in mich auf. Dann gehen wir still weiter. Eine Mischung aus Demut und Dankbarkeit macht sich in mir breit.

Morgensonne am Mot Ciarin.
Morgensonne am Mot Ciarin.

«Das wäre noch ein cooles Foto», Claudio reisst mich unvermittelt aus meinen Gedanken. Unterdessen haben wir ein Hochplateau erreicht, das von einigen kleinen Wasserfällen durchzogen wird. An einer Stelle staut sich das Wasser, sodass sich ein kleiner Infinity-Pool bildet. «Steig doch da rein, dann mache ich ein Bild». Ich winke ab, aber Claudio beharrt darauf, dass ich mich ins eiskalte Wasser setze. Nach einer kurzen Diskussion ziehe ich schliesslich bis auf die Unterhose blank und hoffe, dass uns jetzt kein anderer Jäger durch seinen Feldstecher beobachtet. Er könnte die Szene missverstehen.

Und so ist dann dieses Bild entstanden:

Alles für den Job oder wie ich auf der Bündner Hochjagd baden ging. Bild: Claudio Viecelli
Alles für den Job oder wie ich auf der Bündner Hochjagd baden ging. Bild: Claudio Viecelli

Nach vier Stunden Fussmarsch und einigen (Bade)-pausen erreichen wir das Gebiet am Mot Ciarin, wo Claudio ansitzen will. Vielleicht klappt es ja heute mit einem Hirsch. Zeit, sich zu stärken und das Gelände mit dem Feldstecher zu spiegeln. Allerdings zeigen sich auch heute weder Hirsch noch Reh noch Gämse. Wir wollen schon zusammenpacken und uns auf den Rückweg machen, als Claudio ein einzelnes Murmeltier ausmacht. Ein schönes, grosses Exemplar, das geschäftig zwischen den Hügeln hin und her rennt.

Mit dem Entfernungsmesser in seinem Feldstecher bestimmt Claudio die Distanz zwischen uns und dem Mungg: Es sind rund 170 Meter, mal ein paar weniger, mal ein paar mehr. Und obwohl der Jäger zwischen 0 und 200 Metern grundsätzlich schiessen darf, ist die Distanz für einen Schuss auf das Murmeltier zu gross. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass sie für einen Mungg nicht mehr als rund 50 Meter sein soll.

Dieses ungeschriebene Gesetz scheint auch das Murmeltier zu kennen und spielt in den nächsten eineinhalb Stunden Katz und Maus oder Mungg und Jäger mit uns. Mal ist es 100 Meter entfernt, mal 190 und mal 70. Es sind jedoch nie weniger als besagte 50 Meter. Nach 90 Minuten haben wir genug, sagen dem Murmeltier «In bocca d'luf», ein Jägergruss, mit dem man sich eine gute Jagd wünscht und machen uns auf den Heimweg.

Hier sind sie wieder: die besten Nussstängeli der Welt.
Hier sind sie wieder: die besten Nussstängeli der Welt.
Konzentration ist gefragt, den Mungg im Blick.
Konzentration ist gefragt, den Mungg im Blick.

Der Rückweg. Sind 500 Höhenmeter hinauf anstrengend, sind sie hinunter für mich eine Qual. Das liegt hauptsächlich an meinem ramponierten linken Knie, das durch jahrelanges Joggen ein wenig kaputtgegangen ist. Knorpelschaden und so. Langes Bergabgehen ist Gift, jeder Schritt ein Schlag und diese Schläge kumulieren sich zu einem stechenden Schmerz, der schrittweise zunimmt. Als wir nach knapp zwei Stunden zurück in der Hütte sind, ist mir die gute Laune, die ich im Infinity-Pool noch hatte, vergangen.

Und so sitze ich mit leerem Blick und Schmerzen im Knie, erschöpft, nass geschwitzt und hungrig vor der Hütte. Claudio bringt mir etwas zu trinken, während Marco aus der Küche kommt und sagt: «Die Glut ist schön heiss, der Salat auch fertig. Ich lege jetzt die Würste auf den Grill. In zehn Minuten gibt's zu essen». Ich möchte ihn umarmen.

Zum Abschluss der Bündner Hochjagd 2021 lassen wir die Seele vor der Hütte baumeln. Marco hat einige Finnenkerzen vorbereitet, die wir nun anzünden.

Die Magie des Feuers.
Die Magie des Feuers.

Dazu bereitet er uns später am Abend ein traditionelles «Prättigauer Chäsgetschäder» zu. Eine Art Fondue mit Milch und Zwiebeln statt Weisswein und Knoblauch. Pfanne auf den Tisch, jedem einen Löffel in die Hand und die Welt ist in Ordnung.

Es sind die einfachen Dinge des Lebens, die es lebenswert machen.
Es sind die einfachen Dinge des Lebens, die es lebenswert machen.

Epilog

Früher dachte ich beim Stichwort «Jagd» immer an ältere Herren, die in ihren Volvo Kombis an den Rand eines Maisfeldes fahren, auf den Hochsitz klettern, auf ein Reh schiessen, dieses in ihre Volvos packen und wieder nach Hause fahren. Mag sein, dass es sich auf der Revierjagd tatsächlich so abspielt. Das kann ich nicht beurteilen. Nach dieser Erfahrung masse ich mir auch kein Urteil mehr an in Bezug auf die Fragen, ob Jagen per se ethisch vertretbar oder aus biologischer Sicht tatsächlich nötig ist. Da ich Fleisch esse und meinen Konsum nach wie vor mehrheitlich beim Detailhändler decke, werde ich mich davor hüten, einem Jäger hierzu Ratschläge zu erteilen.

Ein Wildtier stammt nicht aus einer Zucht, verbringt sein gesamtes Leben in Freiheit und muss, wenn der Jäger seinen Job sauber macht, nicht leiden. Demnach wäre Fleisch aus der Jagd wirklich nachhaltig, alles andere wohl nicht oder nur teilweise. Ergo müssten wir Fleischesser unseren Bedarf konsequenterweise aus der Jagd decken oder aber auf Fleisch verzichten.

Was habe ich auf der Bündner Hochjagd noch gelernt? Dass ich nach zwei Tagen bereits ein Schlafmanko habe, ich nicht gerne bergab gehe, gutes Essen für die Moral essenziell ist, ein Jäger auch dann glücklich sein kann, wenn er keine Beute macht, wir beim Katz- und Mausspiel mit dem Murmeltier verloren haben und die Berge für meine Psychohygiene und mein Seelenheil von unschätzbarem Wert sind. Für diese Erfahrungen danke ich Claudio und Marco aus tiefstem Herzen.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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