Hässlich, teuer, leider geil
Der allererste planarmagnetische Ohrhörer der Welt! Audeze hat ein kleines Wunderwerk geschaffen: Den iSine 10 und den noch edleren Bruder iSine 20. Letzteren hat uns Audeze für einen Test zur Verfügung gestellt.
Herkömmliche dynamische Kopfhörer setzen wie auch die allermeisten Standlautsprecher auf Tauchspulenlautsprecher oder Kalotten als Schallwandler. Wie wir alle wissen, kann das saugut klingen. Die Latte ist also hoch gelegt. Wenn eine Firma aber mutig genug ist, um Althergebrachtes herauszufordern, sollte man hingucken. Oder in diesem Fall: hinhören.
Planarmagnetische Systeme (Bändchen und Magnetostaten) und Elektrostaten versuchen, etwas grundsätzlich anders zu machen: Sie versuchen gegenüber der Tauchspule Masse zu entfernen. Alle sind mit einer hauchdünnen Folie als Membran ausgestattet. Das macht sie zu Schallwandlern, die schnell auf Impulse reagieren können. Diese Eigenschaft ist vor allem in den oberen Frequenzen gefragt und macht diese Schallwandler zu akustischen Lupen – mit allen Vor- und Nachteilen.
Ausserdem versuchen diese Systeme, der – noch nicht erfundenen! – idealen Punktschallquelle näher zu kommen. Das Stichwort hier sind Gruppenlaufzeiten: Frequenzen brauchen unterschiedlich lange, um zu deinem Ohr zu gelangen. Die Punktschallquelle gibt alle Frequenzen genau zeitgleich ab und bildet das, was die Mikrofone aufgenommen haben, ideal ab.
Das Problem mit diesen Technologien ist, dass sie – im Gegensatz zur Tauchspule – schlecht miniaturisierbar sind. Elektrostatische Kopfhörer gibt es seit Jahrzehnten. Die Kopfhörer von Stax aus Japan klingen legendär gut, sind aber auch unglaublich hässlich.
(Vielen Dank an dieser Stelle an Max für die Leihgabe!)
Hifiman (China) ist einer der jüngeren Player auf dem Markt. Die Firma überzeugt seit 2010 viele anspruchsvolle Hörer mit ihren magnetostatischen Kopfhörern. Unbedingt mal reinhören, wenn du die Gelegenheit dazu hast! Von Hifiman gibt es allerdings nur Kopfhörer als Magnetostaten. Die Ohrhörer von Hifiman sind sicher solide, aber mit «herkömmlicher» Technologie bestückt.
Mit Oppo gibt es einen weiteren Hersteller, der seit einigen Jahren mit planarmagnetischen Kopfhörern aufwartet. Die Chinesen waren lange bekannt für DVD- und Bluray-Player. Seit 2008 mischen sie im Smartphone-Markt mit, 2014 folgten die Kopfhörer. Sie geniessen einen sehr guten Ruf.
Audeze (USA) ist ebenfalls noch nicht lange im Geschäft. Gegründet 2009 wurde 2011 das erste Modell, der LCD-1 (Over-ear) vorgestellt. Es folgten der LCD-2, der LCD-3 (den ich testen durfte). Der LCD-4 für lumpige 4198 Franken ist das aktuelle Topmodell. Mit dem Sine wagte sich Audeze danach an einen kompakten Over-ear.
Jetzt hat es Audeze geschafft, einen Ohrhörer mit planarmagnetischer Technologie zu fertigen. Allein dafür gebührt dem Hersteller Respekt. Aber schauen wir uns einmal an, was du bekommst.
Das ist in der Packung
Ich fange mit den schlechten Nachrichten an.
Der erste Schocker ist der Preis: Sechshundertfünfzig Franken!
Der zweite Schocker ist die Optik: Welches Alien hat denn diese Dinger auf der Erde vergessen?!
Schauen wir in die Packung. Zunächst falte ich den Karton auf und hebe vorsichtig den Plastikdeckel ab. Oben ist eine Plastikhalterung, welche die Preziosen sicher – wirklich sehr sicher – festhält. Die Ohrhörer sind ordentliche Brummer. Sie wiegen 10 Gramm das Stück. Das ist etwas schwerer als ein Zweifränkler (8.8 g). Etwa so gross wie ein Zweifränkler ist auch die maximale Ausdehnung. Auf Ohrenseite münden sie in einen Trichter. Darauf sitzen weiche Stöpsel, die den Trichter im Ohr halten.
Im unteren Teil der Packung befindet sich eine stabil gefertigte Tasche. Im Auslieferungszustand sind in der Tasche, in der später die Ohrhörer verschwinden, verschiedene Aufsätze für kleinere oder grössere Gehörgänge dabei. Insgesamt stehen drei Paare zur Verfügung: klein, mittel und gross. Ich habe alle ausprobiert. Die ursprünglich montierte mittlere Grösse hat für mich am besten gepasst.
Ebenfalls in der Hülle finde ich zwei Paare mit Plastikhaltern. Sie werden an die Ohrhörer geklipst und werden wie die Bügel einer Brille hinter das Ohr geführt. Sie helfen dabei, dass die Hörer nicht aus den Ohren fallen. Was aufgrund des Gewichts eine reale Gefahr ist. Eines der Bügelpaare ist aus durchsichtigem Plastik, eines in Schwarz gehalten. Auch dabei sind zwei Halterungen, die nicht über das Ohr führt, sondern in die Ohrmuschel passen. Sie sind weicher und etwas flexible. Mit ihnen fühle ich mich nicht wohl und ich montiere wieder die grösseren Bügel.
Ah ja, auf einem USB-Stick (128 GB) ist das Manual enthalten. Ein Bürsteli zur Reinigung ist auch dabei, genau wie ein handsigniertes Echtheitszertifikat aus der Qualitätskontrolle. Gut gemacht, «S. Temple», wenn ich das richtig entziffere.
Schliesslich finde ich in der Hülle noch zwei Kabel. Eines ist ein herkömmliches Stereokabel. Die Kabelenden auf der einen Seite werden mit den Kopfhörern verbunden, am anderen Ende befindet sich eine 3.5 mm-Klinke. Auf Kopfhörerseite sind die Steckverbindungen proprietär. Das Kabel hält sicher, aber nicht bombenfest. Finde ich gut: sollte sich das Kabel verhaken, dann wird eine ruckartige Bewegung das Kabel ausstecken, statt mir die iSine aus dem Gehörgang zu reissen.
Das Cipher-Kabel
Das zweite beigelegte Kabel ist etwas Besonderes. Auf der einen Seite wird es genau gleich eingesteckt. Die andere Seite mündet in einen Lightning-Anschluss. Das Kabel kann direkt mit iPhones oder iPads verbunden werden. Das ist aber nicht das Besondere am «Cipher»-Kabel. Der Clou ist, dass das im Kabel eingebaute Mittelstück einen eigenen DSP und DAC enthält, natürlich 24-Bit-fähig. Durch den Lightning-Anschluss holt sich das Cipher-Kabel die rohen Audiosignale vom iGerät und verarbeitet sie selbst weiter.
Das gelingt dem DAC im Cipher-Kabel recht gut. Der Klangeindruck ist noch etwas besser. Weil sich die zwei Kabel nicht genau gleich laut einstellen lassen, fällt mir der Vergleich schwer. A propos Lautstärke: Das Cipher-Kabel halte ich für gemeingefährlich, denn es verstärkt extrem laut. Auf meinem iPhone muss ich auf ein oder zwei Bälkchen zurückschrauben. Ganz leises Hören ist mit dem Cipher-Kabel nicht möglich. Bei mittlerer Lautstärkeeinstellung ist bei mir die Schmerzgrenze erreicht. Die maximale mögliche Lautstärke halte ich für unverantwortlich. Hier drohen Hörschäden innert kürzester Zeit. Bitte nachbessern, Audeze! (Ein Firmwareupdate verschafft etwas Besserung, die Dinger spielen aber noch immer ohrenschädigend laut auf.)
Das Mittelstück mit der Elektronik ist recht schwer und wird deshalb mit einem Clip zum Beispiel am Hemdkragen fixiert. Auch dann schlenkert es bei Bewegungen aufgrund seines Gewichts herum. Hier hätte ich mir eine Variante gewünscht, die näher am Hosensack platzierbar ist. Das Cipher-Kabel saugt ausserdem spürbar am Akku mit. Der Effekt ist nicht dramatisch, aber man merkt schon, dass sich die Batterie etwas schneller leert.
Erwähnenswert ist die (für iOS) erhätliche Gratis-App von Audeze. Damit lassen sich zwei verschiedene Presets erstellen, mit denen bestimmte Frequenzbereiche gedämpft werden oder sich hervorheben lassen. Ich habe damit herumgespielt, um die für mich etwas strammen Bässe etwas zurückzunehmen. Die App verändert die Musik nicht softwaremässig; sie schickt die Einstellungen ans Cipher-Kabel, das die Aufgabe mit seinem Hardware-Equalizer löst.
Eine Variante mit USB-C für Androiden ist gerüchteweise in Arbeit. Android-Benutzer greifen vorerst besser zur Variante, die nur das Standard-Kabel im Karton hat und fünfzig Franken günstiger ist.
So klingt das Teil
Kommen wir zum wichtigsten Teil des Reviews. Wie klingen die iSine 20? Obenrum sind sie sehr fein auflösend. Den iSine entgeht kein Detail der Musik. Das habe ich aufgrund der Technologie so erwartet. Allerdings sind die iSine weniger «airy» als ich es etwas von den Stax oder meinen Standlautsprechern mit Bändchen-Technologie gewohnt bin. Dort kommen etwa Triangel manchmal fast schon giftig daher. Hier sind die iSine nett gesagt gutmütiger, nicht so nett gesagt läge hier noch etwas mehr drin.
In den Mitten geben sich die Ohrhörer keine Blösse. Sehr angenehm, rund. Einfach klasse! Besonders ausgeprägt sind die Bässe. Hier brillieren die iSines und deklassieren sämtliche mir bekannten Ohrhörer. Sie haben ordentlich Druck, ohne herumzuwabern und an Klarheit einzubüssen. Mir waren die Bässe fast schon zu deftig und ich nahm sie mit dem Hardware-Equalizer (siehe oben) etwas zurück.
Ich finde, die wahren Qualitäten eines Lautsprechers oder eines Kopfhörers hört man immer dann, wenn man ihn leise spielen lässt. Denn laut tönt es immer geil. Deshalb muss auch jeder Verkäufer zwanghaft das Potentiometer bis zum Anschlag aufdrehen, sobald er einen Lautsprecher demonstriert. Leise ist es etwas anderes: Werden noch immer alle Nuancen herausgearbeitet? Hat der Bass noch Kraft? Ist das Klangbild ausgewogen? Auch hier: Sehr gute Noten für die iSine 20.
Präsenz und Bühne sind hervorragend. Hat man sie einmal in den Ohren, vergisst man sie rasch und geniesst einfach nur noch die Musik.
Die Isolation gegen aussen ist verglichen mit herkömmlichen Ohrhörern schlecht. Deine Bürokollegen oder Mitfahrer im ÖV hören leise mit. Dieses Verhalten ist untypisch für einen Ohrhörer, aber der offenen Bauweise geschuldet. Auch Geräusche von aussen lässt der iSine deshalb relativ gut durch. Sport ist ganz sicher nicht die Paradedisziplin dieser Ohrhörer-Riesen – aber dafür sind sie auch nicht gedacht. Der klassische Einsatzort für diesen Ohrhörer ist klar die ruhige Umgebung zu Hause.
Fazit
Diese Ohrhörer sind wirklich tolle Teile. Klanglich sind sie allererste Sahne. Sie stellen nicht nur sämtliche Ohrhörer in den Schatten, die ich probieren durfte, sie konkurrieren auch mit qualitativ hochwertigen On-ears und Over-ears.
Ihre speziellen Eigenschaften machen die iSine 20 zu einem sehr speziellen Ohrhörer. Ihr Preis macht klar, dass die Zielgruppe Audiofreaks sind, die viel Geld für viel Leistung auszugeben bereit sind. Und die über gewöhnungsbedürftige Optik hinwegsehen, wenn die inneren Werte stimmen. Das Problem: Diese Zielgruppe bevorzugt üblicherweise Over-ears, da diese bauartbedingt mehr leisten können.
Die iSine 20 sind ein Nischenprodukt innerhalb der Nische «audiophile Geräte». Aber was für eines! In Sachen Ohrhörer kommt für mich Audeze und dann lange nichts. Auf der anderen Seite würde ich mich – wäre ich ein Gym-Jünger – eher für zwei verschiedene Geräte entscheiden: Ein hochklassiger Over-ear für daheim und solide Ohrhörer für den Sport.
Pro:
- überragender Klang
- hochwertige Verarbeitung
- angemessene Ausstattung
- Cipher-Kabel
Contra:
- für Ohrhörer riesig
- für Ohrhörer unhandlich
- schlechte Isolation
- schwer
- teuer
Der kleine Bruder
Jetzt du!
Du glaubst mir kein Wort? Dann hör selber rein! Unser Lieferant ermöglicht es uns freundlicherweise, die Testexemplare an drei Leser weiterzugeben. Wenn du die iSine 20 selber für eine Woche probehören möchtest, dann melde dich per Mail unter aurel.stevens@digitec.ch. Setz bitte den Betreff «Test iSine». Eine Gegenleistung erwarten wir nicht, auch wenn mich dein Urteil interessiert und ich mich freuen würde, wenn du es mit den anderen Lesern teilst. Bitte keinen Kommentar unter diesen Artikel, dass du sie ausprobieren möchtest!
Update 25.4.: Wir haben drei würdige Kandidaten gefunden. Bitte keine Mails mehr schreiben. Merci!
Getestet
Ich bändige das Editorial Team. Hauptberuflicher Schreiberling, nebenberuflicher Papa. Mich interessieren Technik, Computer und HiFi. Ich fahre bei jedem Wetter Velo und bin meistens gut gelaunt.