«Harold Halibut» begeistert mit Charme und einem einzigartigen Design
«Harold Halibut» begeistert mit einem einzigartigen Stop-Motion-Design und jede Menge Charme. Die Story kommt aber viel zu spät in Fahrt. Das Adventure-Game müsste radikal gekürzt werden.
Ob «Wallace and Gromit», «Nightmare Before Christmas» oder «Isle of Dogs»: ich liebe Stop-Motion. Das physische Element, das bei der Produktion zum Einsatz kommt, verleiht den Filmen einen ganz besonderen Charme. Kein Wunder, dass mir «Harold Halibut» sofort ins Auge gesprungen ist.
Das Adventure-Game des Kölner Studios Slow Bros. setzt aber nur indirekt auf Stop-Motion. Die Figuren und Szenen sind zwar alle handgemacht, anschliessend wurden sie aber digitalisiert. Statt Szenen in mühevoller Handarbeit Bild für Bild nachzustellen, entstehen die Animationen am Computer. Dem Stil tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Bewegungen sind dadurch flüssiger und lebendiger, was für ein Spiel sehr gut passt. Visuell ist «Harold Halibut» absolut bezaubernd. Jede Figur, jeder Raum und jeder Tisch wirkt einzigartig und greifbar – weil er das auch ist.
Gestrandet unter Wasser
«Harold Halibut» spielt 250 Jahre in der Zukunft in einer retro-futuristischen Welt. Fedora, ein Raumschiff, das für die sterbende Erde einen neuen Heimatplaneten suchen sollte, ist irgendwo im Weltraum bruchgelandet – und zwar unter Wasser. Die meisten Bewohnerinnen haben sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden und aus der Fedora eine kleine Stadt errichtet. Nicht so Jeanne Mareaux, die führende Wissenschaftlerin an Board. Sie sucht unentwegt nach einem Weg, das Raumschiff wieder flugtüchtig zu machen und den Planeten zu verlassen.
Ich übernehme die Rolle von Harold, ihrem lethargischen Laborassistenten. Mit ihm schlurfe ich durch die knarrenden Gänge des riesigen Raumschiffs, um den Bewohnern unter die Arme zu greifen. Harold ist ein liebevoller, aber etwas introvertierter junger Mann, der zu nichts nein sagen kann. So werde ich konstant kreuz und quer durch die Gegend geschickt. Mal erledige ich Botengänge, reinige Wasserfilter oder helfe im Labor bei der Analyse von Gesteinsbrocken. Abgesehen von einer Handvoll Minispielen sind die Aufgaben sehr banal. Ich laufe hauptsächlich im Schneckentempo durch die Gegend und quassle mit den Schiffsbewohnern. Zwar kann ich mich frei im Raumschiff bewegen, häufig muss ich aber die immer gleichen Wege zurücklegen. Vom Labor zur Central Station, dort steige ich um zu den Arcades – eine Art Einkaufsbezirk – und wieder zurück. Bloss, um eine nichtssagende Nachricht zu überbringen, ohne dass dabei eine spannende Unterhaltung herausspringt.
Nicht nur das Bewegungstempo ist langsam – die «Renn-Taste» verdient ihren Namen kaum – auch das Spieltempo ist träge. Hinzu kommt, dass ich zum Reisen zwischen den Stationen auf der Fedora eine Art Wasserrohrsystem benutzen muss. Das wird jedes Mal begleitet von einem Spruch wie «Danke, dass du mit All Water gereist bist, ich hoffe, du reist bald wieder mit uns». All Water ist der Name des Unternehmens, das als Regierung der Fedora fungiert. Je nach Mission höre ich den Spruch innert fünf Minuten zehnmal.
Durchhalten, es lohnt sich
Die Story wird erst gegen Schluss spannend. Mehrfach habe ich überlegt, das Spiel hinzuschmeissen. Aber irgendwie hatte ich doch immer wieder Lust, die merkwürdige Welt von «Harold Halibut» weiter zu erkunden. Zum Glück, denn gegen Ende wird das Spiel immer besser. Das liegt nicht nur am einzigartigen Grafikstil, der die verschiedenen Orte so sehenswert macht, sondern auch am Charme. Die kauzigen Bewohner führen immer irgendwas im Schilde, dass mich zum Schmunzeln bringt.
Da wär zum Beispiel Chris. Ein muskelbepackter, südländischer Schullehrer mit blonder Mähne, der meist im bunten Bademantel herumläuft. Er liefert sich gerne Rennen mit dem greisen, aber überraschend rüstigen Postboten. Warren, der mit seinem Snack-Stand im Shopping-Bezirk anzutreffen ist, träumt vom perfekten Würstchen. Da es kein Fleisch auf der Fedora gibt, ist er äusserst erfinderisch. Onat, der im schwarz-weiss gestreiften Pantomimenoutfit pausenlos abstrakte Theaterstücke aufführt, erinnert mich stark an den Vermieter aus «The Big Lebowski». Wenn mich nicht alles täuscht, läuft sogar der gleiche Sound dabei. Dann gibt es noch die Lightkeeper. Ein Geheimbund, der eine mögliche Verschwörung hinter All Water aufdecken will. Sie alle machen die Fedora zu einem lebendigen Ort mit viel Persönlichkeit.
Auch Harold ist mir mit der Zeit ans Herz gewachsen. Vom arbeitsfaulen Taugenichts entwickelt er sich zunehmend zu etwas wie einem Anführer. Spätestens, als er im Wasserfilter-Tank ein Fisch-Alien entdeckt. Zu Weeoo, wie er das Leopardenfell-gemusterte Geschöpf mit Seifenblasen-Umhang nennt, entwickelt er eine innige Freundschaft. Dessen unbeschwerte Art ist der perfekte Gegensatz zu Harolds Schwermütigkeit. Zusammen besuchen sie Weeoos Zuhause, welches der einzige Ort ist, der mich visuell enttäuscht hat. Von der Heimat fremdartiger Fisch-Aliens erwarte ich mehr als eine Höhle, die aussieht, als hätte sie ein 70er-Jahre-Hippie-Architekt eingerichtet. Immerhin nimmt damit die Geschichte endlich Fahrt auf. Bei den Flumylym, so heisst Weeoos Volk, findet sich nämlich eine mögliche Lösung, um vom Planeten wegzukommen.
Die Hauptgeschichte ist nicht der einzige Antrieb in «Harold Halibut». Über Harolds Taschencomputer erhalte ich regelmässig Nachrichten von Freunden und Bekannten, die mich zu Nebenaufgaben führen. Diese schrauben die Spielzeit in die Höhe. Slow Bros. spricht von zwölf Stunden für die Hauptgeschichte und 18, wenn du besonders neugierig bist. Bei mir lief allerdings bereits nach neun Stunden der Abspann. Ich hab’s aber auch immer eilig.
So kann ich Harry dabei helfen, ein neues Leuchtschild über seinem Shop anzubringen, damit er die Liebe zu seiner Frau neu entfachen kann. Oder ich greife Sunny unter die Arme, um den Wurstverkäufer zu vertreiben, damit sie seinen Platz einnehmen kann. Oft bestehen diese Aufgaben zwar auch nur aus Herumlaufen und Quatschen, aber es bringt mir die Welt und die Personen näher. Die Vertonung ist dabei erstklassig. Sie ist zwar nur auf Englisch verfügbar, dafür machen alle Sprecherinnen einen tollen Job. Was ich vom Gesagten leider nicht immer behaupten kann. Teilweise sind die Dialoge zu langfädig und es wird völlig belangloses Zeugs geschwafelt. Wenn ich den Text überspringen möchte, passiert es manchmal, dass die Szene weiterläuft, aber der Ton fehlt. Manchmal überschneiden sich auch Dialoge. Ist hoffentlich etwas, das noch rausgepatcht wird.
«Harold Halibut» ist überraschend hardwarehungrig. Ich habe die PC-Version getestet und meine Kiste lüftete dabei, als würde ich «Cyberpunk 2077» in 8K spielen. Offenbar sind die detailliert gerenderten Hintergründe und Animationen sehr leistungsintensiv. Wiederum spielt es keine grosse Rolle, wenn das Spiel nur mit 60 fps läuft. Das ist auch der Modus, den das Studio auf den Konsolen empfiehlt.
Fazit: ein stimmungsvolles, wenn auch etwas träges Abenteuer
Am Ende muss ich sagen, «Harold Halibut» ist ein tolles Spiel. Im letzten Drittel laufen die Fäden zusammen und die Geschichte wird deutlich abwechslungsreicher und spannender. Gerade in den ersten paar Stunden ist das Spiel allerdings äusserst langsam. Da hat das Studio Slow Bros. den eigenen Namen etwas zu wörtlich genommen. Obwohl ich mich gerne mit den vielen sonderbaren Bewohnern der Fedora unterhalten habe, waren auch viele Gespräche völlig nichtssagend. Und weil Harold ständig auf sinnlose Botengänge geschickt wird und sich dabei so schnell bewegt wie ein gestrandeter Heilbutt, habe ich mich zuweilen etwas gelangweilt.
Ich kann dem Spiel aber nicht wirklich böse sein. Dafür hat es zu viel Charme. Ich liebe das Design aus handgemachten Objekten und Figuren. Besonders wenn die Kamera herauszoomt und die Unterwasserwelt zeigt, sieht «Harold Halibut» traumhaft aus. Dazu gibt es einen perfekt abgestimmten Soundtrack mit Tracks wie «Im 80. Stockwerk» von Hildegard Knef, das aus einer normalen U-Boot-Fahrt einen herrlich schrägen Trip macht.
«Harold Halibut» ist ein stimmungsvolles Adventure-Game mit ganz viel Herz und einzigartigem Stil. Es müsste nur an den richtigen Stellen gekürzt werden, dann würde auch das Pacing stimmen. Aber auch so bin ich froh, dass ich bis zum Ende drangeblieben bin und das kann ich auch dir empfehlen.
«Harold Halibut» ist verfügbar ab dem 16. April für PC, PS5 und Xbox Series. Das Spiel wurde mir von Slow Bros. zur Verfügung gestellt.
Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken.