Ideen, das Leben zu verbessern: Teppich selber machen
Ratgeber

Ideen, das Leben zu verbessern: Teppich selber machen

Pia Seidel
16.4.2024
Bilder: Pia Seidel

Ich habe schon immer an der Behauptung gezweifelt, dass meine Aufmerksamkeitsspanne abnimmt. Oder dass das Selbermachen vom Aussterben bedroht ist, weil wir lieber auf Knöpfe drücken. Und wenn an diesen Theorien doch etwas dran sein sollte, dann ist es höchste Zeit, ihnen entgegenzuwirken.

Meinen Punkt bestärke ich, indem ich mir regelmässig Neues beibringe. Sachen, die mich garantiert davon abhalten, parallel auf einen Bildschirm zu starren, weil ich keine Hand freihabe. Letztes Jahr habe ich mich dem Slow Coffee gewidmet und die traditionelle Filterbrühmethode mit der Hario V60 ausprobiert. Mit Erfolg: Bis heute geniesse ich das bewusste Brühen und einen klaren, aromatischeren Kaffee. Dieses Jahr habe ich das Tufting (vom englischen Wort «tuft» für Büschel), ein Verfahren zur Teppichherstellung, gelernt.

Die Idee, mich dem Teppich-Knüpfen zu widmen und ein eigenes Design zu gestalten, hatte etwas Hoffnungsvolles. Trotzdem war mein Respekt davor gross. Denn schon in den ersten Minuten des Tufting-Kurses war bei mir Kopfkino angesagt. Ich stellte mir vor, wie sich meine Haare in der elektrischen Tufting-Maschine verheddern. Oder wie ich mich an den spitzen Nägeln des Rahmens verletze. Und obwohl beide Szenarien eingetreten sind, habe ich weitergemacht und wünschte heute nur eins: Dass ich schon im Voraus die folgenden Spielregeln fürs Tufting gekannt hätte. Wer sie beachtet, bekommt am Ende nämlich viel mehr als einen schönen Teppich.

1. In andere Welten eintauchen

Zuerst hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mir Tufting-Equipment zuzulegen und mir das Tufting selber beizubringen. Aber mein Commitment ist gleich null, wenn mich niemand daheim anstupst. Den Tufting-Tools wäre es wahrscheinlich ähnlich ergangen wie meinen Acrylfarben, die seit der Pandemie in einer Büchse versauern. Deshalb entschied ich mich dazu, an einem Kurs des Tufting Club Zürich, geleitet von Talaya Schmid teilzunehmen. Die freiberufliche Künstlerin und Kunstdozentin büschelt seit Jahren «Soft Sculptures» (weiche Skulpturen) und führt für jeweils vier Stunden mit Assistentin Jana durch die Kunst des Tuftings mit einer elektrischen Webmaschine – was nebenbei nicht bedeutet, dass dabei nicht voller Körpereinsatz gefragt ist. Der Kurs findet in einem Gemeinschaftsatelier in einem Industriegebäude in Zürich Hard statt. Eine Kurs-Gruppe besteht aus acht bis zehn Personen und ab 14 Jahren sind alle Altersgruppen willkommen.

Vom Vorbereiten der Skizze ...
Vom Vorbereiten der Skizze ...
Quelle: Pia Seidel
... über die Bio-Schafswolle…
... über die Bio-Schafswolle…
Quelle: Pia Seidel
...  bis hin zu Knüpftechniken: Im Tufting Club Zürich erfährst du alles, was du für den ersten Teppich brauchst.
... bis hin zu Knüpftechniken: Im Tufting Club Zürich erfährst du alles, was du für den ersten Teppich brauchst.
Quelle: Pia Seidel

Was ich erst im Nachhinein so wirklich wahrgenommen habe, ist, dass der Kurs viel mehr als das Tufting bietet: Du wirst nicht nur eins zu eins begleitet und über Techniken und Wolle aufgeklärt, sondern auch inspiriert. Von den Beispielen und Büchern, die überall herumliegen, dem Austausch mit anderen Teilnehmenden sowie den zahlreichen Farben der Wollespulen. Am meisten aber habe ich die Atelieratmosphäre geschätzt – weit weg vom Alltag. Sie war perfekt, um alles andere auszublenden. Allein deshalb lohnt es sich, gestalterische Kurse aller Art zu besuchen.

2. Die Vorfreude einplanen

Du kannst zwar einfach an einem Tufting-Kurs teilnehmen und erst vor Ort entscheiden, was du machst. Ich empfehle dir jedoch, bereits zu Hause mit dem kreativen Prozess zu starten und diesen zu zelebrieren. Denn Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Ich hab den Kurs gleich dreimal gemacht und insgesamt zwei Teppiche hergestellt. Beim ersten Mal habe ich vor dem Kursbesuch zu Hause viel zu wenig Zeit zum Skizzieren eingeplant und wäre gerne länger versackt beim Endlos-Scrollen durch Pinterest und beim Zeichnen, um Ideen für einen Wandteppich zu sammeln. Ausserdem hält es dir den Kopf während des Kurses frei, wenn du bereits mit einer zu Papier gebrachten Vision dort ankommst. So kannst du dich voll und ganz aufs Tufting konzentrieren. Trust me: Zeitdruck ist das Letzte, was du dabei spüren solltest.

Das Tufting beginnt mit dem Entwerfen, das genauso viel Freude bringen kann wie die Umsetzung.
Das Tufting beginnt mit dem Entwerfen, das genauso viel Freude bringen kann wie die Umsetzung.
Quelle: Pia Seidel

3. Einen Reality-Check machen

Wenn du einen Deep Dive durch Bücher, Magazine und das Netz machst, solltest du immer im Kopf haben: Hinter den schönen Beispielen stecken meist zahlreiche Arbeitsstunden und über lange Zeit gelernte handwerkliche Skills, die du erst mit der Zeit bekommst. Ich habe mich bei meinem ersten Wandteppich-Entwurf von High-End-Designs verleiten lassen. Dadurch habe ich den Anspruch an mich zu hoch geschraubt, sodass ich beim Tufting von meinen ersten krakeligen statt runden Linien ziemlich enttäuscht war. Bereite für den Fall aller Fälle auch gleich mehrere Skizzen vor. So kannst du später mit dem Input der Profis entscheiden, welche sich am besten umsetzen lässt.

4. Auf den Prozess einlassen

Du solltest mit Zeichnungen zum Kurs gehen, aber trotzdem offen bleiben. Im Austausch mit Profis verändert sich die Vision für dein Kunstwerk noch einmal. Zu Beginn dachte ich, dass meine Blume schön gleichmässig werden soll. Im Tufting Club fand ich dann heraus, mit wie vielen verschiedenen Variablen ich spielen kann. Zum Beispiel mit dem Relief des Teppichs, aber auch mit der Dichte. Darum probierte ich zwei unterschiedliche Tufting-Maschinen aus und war begeistert vom Ergebnis.

Der Tufting-Rahmen ist das Gerüst für den Teppich.
Der Tufting-Rahmen ist das Gerüst für den Teppich.
Quelle: Pia Seidel
Auf der Rückseite siehst du das Ergebnis deiner Stiche.
Auf der Rückseite siehst du das Ergebnis deiner Stiche.
Quelle: Pia Seidel
Die Art der Tufting-Pistole entscheidet darüber, wie flach oder hoch der Teppich wird.
Die Art der Tufting-Pistole entscheidet darüber, wie flach oder hoch der Teppich wird.
Quelle: Pia Seidel

5. Taktgefühl ist gefragt

In meiner Vorstellung war Tufting ein Vorgang, der sich mit Stricken vergleichen lässt. Doch hier geht es etwas schneller zu. Sobald du den Auslöser der Tufting-Pistole drückst, geht die Maschine ab wie ein gepimptes Auto aus «2 Fast 2 Furious». Sei daher bei der Sache, plane Pausen ein und beachte, dass das Takten genauso zum Tufting gehört wie das Formen selbst. Sonst kann es dir passieren, dass sich deine Haare in der Maschine verfangen. Oder du an die Nägel kommst, mit denen die Leinwand an den Rahmen gespannt ist. Mir ist beides mehrmals passiert, während ich meinen Rhythmus noch nicht gefunden hatte.

6. Übung macht den Meister

Meinen ersten Kursbesuch konnte ich nicht wirklich geniessen. Ich war gestresst, hatte falsche Vorstellungen, wollte nichts falsch machen und konzentrierte mich zu sehr aufs Endergebnis. Also habe ich gleich noch einen zweiten Kurs gebucht und da war alles anders: Ich kannte das Atelier, hatte realistische Erwartungenund bereits ein gewisses Grundverständnis fürs Tufting entwickelt. Dadurch konnte ich mich entspannen. Deshalb empfehle ich dir, ein zweites, drittes und viertes Mal zu gehen. Dann ist die Angst vorm Unbekannten weg und du kannst den Moment in vollen Zügen geniessen.

Beim zweiten Besuch geht alles smoother. Das Skizzieren, ...
Beim zweiten Besuch geht alles smoother. Das Skizzieren, ...
Quelle: Pia Seidel
... aber auch das Tufting.
... aber auch das Tufting.
Quelle: Pia Seidel

Auch meine Vorfreude aufs abendliche, kreative Work-out nach einem Bürotag, den ich grösstenteils im Sitzen verbringe, war grösser. Denn Tufting ist auch körperlich anstrengend. Weil du dich mit der elektrischen Webmaschine und deinem ganzen Körpergewicht gegen die Leinwand stemmen musst, damit Spannung entsteht und das Tuften gelingt.

7. Über den Tellerrand hinausschauen

Durch das Tufting lernst du nicht nur, wie du einen Teppich machst. Du erfährst auch viel über die Herstellung anderer Teppiche und Materialien. Ich nehme Heimtextilien seither ganz anders wahr. Wann immer ich heute einen Teppich sehe, frage ich mich, wie viele Stunden Handarbeit (in meinem Fall inklusive Schweiss und Blut)wohl dahinter stecken. Bei vier- oder fünfstelligen Summen von Teppichpreisen erschrecke ich nicht mehr. Stattdessen nicke ich nur zustimmend wie eine Kennerin und stelle mir vor, wie lange ich wohl für ein solches Modell büscheln müsste und was es bei meinem Stundenlohn kosten würde. Da wären schon meine handgefertigten Blumen ein Vermögen wert. 😉

8. Das Beste kommt zum Schluss

Nachdem der Teppich getuftet ist, wird er auf der Rückseite verleimt, damit du ihn vom Rahmen lösen und zuschneiden kannst. Anschliessend hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst ihn lassen, wie er ist. Oder stutzen und auf diese Weise das Maximum aus deinem Design rausholen. Zu Letzterem kann ich nur raten. Denn obwohl ich zu Beginn skeptisch war, konnte ich durch ein bisschen Schnippeln hier und da Fehler ausbessern und Formen besser herausarbeiten. Das Beste: Anders als das Tufting selbst, geht dieser Prozess so schnell, wie du möchtest. Ich nahm mir bei meinem zweiten Blumen-Wandteppich besonders viel Zeit, hörte währenddessen einen Podcast oder Musik und genoss den Moment der Entschleunigung. Als es nichts mehr zu schnippeln gab, war ich fast traurig. Was mich zum letzten und wichtigsten Punkt dieser Tufting-Erfahrung bringt.

Nachdem der Teppich vom Rahmen gelöst wird, kann er zugeschnitten werden.
Nachdem der Teppich vom Rahmen gelöst wird, kann er zugeschnitten werden.
Quelle: Pia Seidel
Durch das Zurechtstutzen können einzelne Stellen ausgebessert und betont werden.
Durch das Zurechtstutzen können einzelne Stellen ausgebessert und betont werden.
Quelle: Pia Seidel

9. Wie so oft: Der Weg ist das Ziel

Schon 2003 hat Kylie Minogue im Song «Slow» befeuert, langsamer zu tanzen und mal einen Beat zu überspringen. Einmal mehr verstehe ich nach der Tufting-Erfahrung, was sie damit gemeint hat. Mal einen Tastendruck weniger zu machen und Verhaltensmuster, die von einer effizienzgetriebenen Gesellschaft geprägt sind, zu verändern und etwas Neues auszuprobieren, wirkt Wunder. Vorausgesetzt du bist bereit, dich neuen Ideen zu öffnen, zu Beginn Unsicherheiten überwinden und von anderen Menschen zu lernen.

Mein eigentliches Ziel war ja, etwas Neues zu lernen und meine Bildschirmzeit zu reduzieren. Das Handy liess ich zwar aussen vor, verlor mich aber zwischenzeitlich kurz darin, ein möglichst tolles Ergebnis zu erzielen. Mit der Erkenntnis, dass es eigentlich der Weg dahin war, der mich besonders glücklich machte.

Deshalb heisst es beim nächsten Mal: «Skip a beat and move with my body, yeah, slow» – und geniess einfach den Prozess.

Obwohl mir meine Wandteppiche gefallen, ...
Obwohl mir meine Wandteppiche gefallen, ...
Quelle: Pia Seidel
... war das wirklich Spannende das Machen.
... war das wirklich Spannende das Machen.
Quelle: Pia Seidel

26 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit. 


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar