Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa: ein Interview über zwei echt beschissene Krankheiten
Hintergrund

Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa: ein Interview über zwei echt beschissene Krankheiten

Anika Schulz
19.6.2023

Ich treffe mich mit Prof. Dr. Andreas Raedler, um über chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zu sprechen. Wir führen ein Interview ohne Fachchinesisch, dafür aber mit viel Persönlichkeit und Gefühl.

Bescheiden wirkt er. Zierlich. Prof. Dr. Andreas Raedler spricht mit leiser Stimme. So leise, dass ich ihm mein Aufnahmegerät ganz nah hinschieben muss. Ich treffe einen Arzt zum Interview, der als Koryphäe auf dem Gebiet der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, kurz CED, gilt. Aus ganz Deutschland, sogar aus dem Ausland, pilgern Patientinnen und Patienten in die Hamburger Praxis – in der Hoffnung, dass «der Prof», wie sie ihn nennen, ihnen endlich wieder einen lebenswerten Alltag ermöglicht. Ohne 20 Durchfälle am Tag, ohne krampfartige Schmerzen, ohne bleierne Erschöpfung.

Gleichsam ist dieses Interview auch ein Versuch der Enttabuisierung. In Deutschland sind laut Deutscher Morbus Crohn/Colitis Ulcerosa Vereinigung rund 400.000 Menschen an einer CED erkrankt, in der Schweiz sind es dem Universitätsspital Zürich zufolge 25.000 Personen. Damit gehören Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa zu den eher häufigen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Aber hast du schon mal jemanden sagen hören: «Hey, habe seit Wochen blutigen Dünnpfiff und mache mir ab und zu in die Hose, weil ich es nicht mehr rechtzeitig auf den Pott schaffe.»? Eben.

Prof. Raedler, was weiß die Wissenschaft derzeit über die Entstehung von CEDs?
Raedler: Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa sind sogenannte Western-Lifestyle-Erkrankungen. Sie traten vor rund 100 Jahren zum ersten Mal in den USA auf und haben sich über den Planeten ausgebreitet wie Coca Cola und McDonald’s. Angefangen in Nordamerika, Mittel- und Nordeuropa plus Japan, Australien und Israel. Anschließend eroberten sie den Rest der Welt. Das ist Fakt eins. Fakt zwei ist, dass es etwas mit der Ernährung zu tun haben muss, ob jemand Symptome einer CED hat oder nicht. Denn wenn man Patienten künstlich ernährt, also über die Vene, stoppt die Erkrankung plötzlich. Fangen sie wieder an, zu essen, geht alles von vorne los. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Erkrankung durch Substanzen in der Nahrung provoziert wird.

Aber wir alle essen ja. Warum haben dann nicht auch alle Menschen eine CED – sondern nur einige?
Es gibt zu dieser Frage tausende Hypothesen und bislang keine richtige Antwort. Für mich ist die plausibelste Erklärung, dass es sich um eine Störung im Immunsystem handelt, dessen Veranlagung sich zumindest teilweise vererbt. Um den geschichtlichen Hintergrund zu verstehen, muss ich etwas ausholen. Haben Sie Angst vor Aliens?

Aliens?
Also, unser Immunsystem ist perfekt angepasst auf die Bedingungen auf der Erde. Es erkennt Viren, Bakterien sowie Pilze und löst eine entsprechende und sinnvolle Abwehrreaktion aus. Würde jetzt ein Alien landen und Ihnen die Hand geben, würden Sie sich wahrscheinlich irgendeine intergalaktische Krankheit einfangen und Ihr Immunsystem würde durchdrehen. So etwas ähnliches ist vor 150 Jahren in den USA passiert, als die Nahrungsmittelindustrie begann, komplexe Moleküle herzustellen und sie zu verarbeiten. Ein gesunder Darm winkt Geschmacksverstärker oder Konservierungsmittel einfach durch. Bei CED-Patienten ist es vermutlich so, dass das Immunsystem diese Stoffe für gefährliche Bakterien oder Viren hält und sie schnellstmöglich verscheuchen will. Also schlägt das Immunsystem Alarm und löst Durchfall aus, um den vermeintlichen Eindringling nach draußen zu befördern. Gleichzeitig signalisiert es dem Körper: «Wir sind im interstellaren Krieg, alle Immunzellen auf Gefechtsstation!», was zu einer Entzündung der Darmschleimhaut führt.

Prof. Raedler praktiziert in Hamburg und betreut über 5000 Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn und Colitis Ulercosa. Für viele Betroffene ist er die letzte Hoffnung auf ein normales Leben.
Prof. Raedler praktiziert in Hamburg und betreut über 5000 Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn und Colitis Ulercosa. Für viele Betroffene ist er die letzte Hoffnung auf ein normales Leben.
Quelle: Anika Schulz

Welche Symptome lösen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen denn noch aus, außer Durchfall?
Durchfälle sind das Leitsymptom. Patienten müssen 20- oder 30-mal am Tag auf die Toilette. Oftmals sind die Durchfälle blutig, weil die entzündete Darmschleimhaut sehr verletzlich ist und bei den Durchfällen mechanisch beansprucht wird. Das ist für die Patienten total erschreckend. Plötzlich ist das Wasser im Lokus knallrot. Zusätzlich haben Betroffene heftige Krämpfe, die in dramatischen Fällen nur mit Opiaten auszuhalten sind. Hinzu kommt eine oftmals schreckliche Müdigkeit.

Können auch andere Organe als der Darm betroffen sein?
Ja, beispielsweise die Leber, die Augen, die Gelenke oder die Haut. Zwar befinden sich 80 Prozent des Immunsystems im Darm, aber im Prinzip stehen alle Organe unter der Obacht des Immunsystems und können sich entzünden.

Das klingt wesentlich dramatischer als eine einfache Magen-Darm-Grippe, die nach ein paar Tagen überstanden ist.
Das ist es auch, insbesondere sind diese Erkrankungen psychisch sehr belastend für die Patienten. Akute Schübe können mehrere Wochen oder Monate dauern. Für die Betroffenen ist der Ausbruch einer CED auch kein langsamer Schritt in eine Krankheit. Sie werden davon überrascht. Es ist ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wer 20 Durchfälle pro Tag hat, für den ist das normale Leben, das bisher geführt wurde, vorbei. Die Menschen trauen sich nicht mehr aus der Wohnung und sind froh, wenn sie es zu Hause überhaupt noch rechtzeitig auf die Toilette schaffen. Bei den meisten Patienten bricht die Erkrankung in der zweiten oder dritten Lebensdekade aus, manchmal sogar früher. Also genau dann, wenn junge Leute sich austoben und ihren Platz in der Gesellschaft finden wollen. Schule, Uni, Reisen: Berufliche und private Träume erscheinen dann erst mal in weiter Ferne.

Wie gehen die Betroffenen mental mit der Erkrankung um?
Sehr unterschiedlich. Einige sind sogar erleichtert, weil sie endlich wissen, was ihnen fehlt. Andere fallen in ein Loch. Die meisten haben bereits einen längeren Ärztemarathon hinter sich, bis sie die Diagnose CED bekommen haben. Das liegt daran, dass normale Hausärzte sich damit kaum auskennen und erst mal auf Infektionen testen. Das verlängert natürlich den Leidensweg. Bis Patientinnen und Patienten den Weg zu einem auf CED spezialisierten Gastroenterologen finden, können Monate vergehen.

Wie wird die Diagnose gestellt? Gibt es spezielle Blutwerte, die für eine CED sprechen?
Es gibt einen Entzündungsmarker im Stuhl, das sogenannte Calprotectin, das bei CED-Patienten im akuten Schub gegenüber Gesunden um ein Vielfaches erhöht ist. Das lässt sich im Labor feststellen. Außerdem sichert eine Magen-Darm-Spiegelung die Diagnose, wenn dabei entzündetes Gewebe gesehen wird.

Unter den Begriff CED fallen ja zwei Erkrankungen: Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. Wo genau ist der Unterschied – oder ist der letztendlich gar nicht so wichtig?
Beim Crohn ist es so, dass die Entzündung bis tief in die Hautschichten des Darms reicht. Ein Crohn kann regelrecht Löcher ins Gewebe fressen. Bei der Colitis ist die Entzündung oberflächlicher und betrifft hauptsächlich die Schleimhaut. Was die Symptome aber nicht weniger belastend macht. Deswegen ist auch die Therapie ähnlich.

Wie sieht die Therapie aus? Und kann man Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa so weit eindämmen, dass Patienten und Patientinnen keine Beschwerden mehr haben und ihr altes Leben weiterführen können?
Ich wage zu behaupten, dass alle Betroffenen wieder völlig hergestellt werden können. Dazu braucht es allerdings viel Geduld, die richtigen Medikamente und das Verständnis dafür, dass eine CED eine ganzheitliche Erkrankung ist und auch so behandelt werden muss.

An dieser Stelle meines Gesprächs mit dem Professor klingelt sein Handy: «Da muss ich kurz rangehen. Ist das okay?» Ich nicke. Während er telefoniert, schaue ich mich im Sprechzimmer um. Spartanisch sieht es aus. In einer Ecke steht die obligatorische Untersuchungsliege, daneben ein Ultraschallgerät. Ein massives, weißes Regal lehnt an der Wand. Es ist so gut wie leer. Nur drei Stapel mit Aufklärungsbögen liegen darin: Darmspiegelung, Magenspiegelung und beides zusammen.

«Ich hätte jetzt mehr Bücher erwartet» sage ich, nachdem Prof. Raedler das Telefonat beendet hat.
Ach, sie müssten mal mein Zuhause sehen. Da stehen an die 20.000 Bücher. Und ich bin im Verzug, weil ich schon wieder neue bestellt habe und nicht zum Lesen komme.

Das meiste Wissen steckt ohnehin in Ihrem Kopf, habe ich den Eindruck.
Hören Sie auf! Komplimente sind mir peinlich. Wo waren wir stehengeblieben, bevor es geklingelt hat?

Bei der Therapie von Colitis Ulcerosa und Morbus Crohn.
Ja, genau … Da die blutigen Durchfälle für die Patienten das Schlimmste sind, setzt die Behandlung hier an. Man muss nicht nur die Entzündung therapieren, sondern auch den Darm zur Ruhe bringen. Gegen den Durchfall helfen oft schon harmlose Mittel, die Sie in jeder Apotheke bekommen. Da kann ich den Patienten sagen: «Morgen sieht es schon viel besser aus und du wirst vermutlich nur noch fünf und nicht mehr 20 Durchfälle haben.» Die Entzündung in den Griff zu kriegen, ist weitaus schwieriger. Bei leichten Entzündungen reichen Präparate mit dem Wirkstoff Mesalazin, die entweder als Tabletten oder als Zäpfchen genommen werden. Bei schweren Verläufen oder bei solchen, die nur mühsam in den Griff zu kriegen sind, sind oft sogenannte Biologicals wie Infliximab oder Vedolizumab nötig. Das sind mithilfe von Gentechnik hergestellte Antikörper, die den Patientinnen und Patienten per Infusion oder via Spritze verabreicht werden. Je nach Präparat muss die Behandlung alle vier bis acht Wochen wiederholt werden. Das heißt, die Betroffenen werden Stammgast in der gastroenterologischen Praxis.

Der lange Blick vom Infusionsplatz nach oben: In schweren Fällen bekommen die Patienten über die Vene Antikörper. Diese Medikamente kosten je nach Präparat über 1000 Euro – pro Infusion. Die Krankenkasse zahlt die Behandlung.
Der lange Blick vom Infusionsplatz nach oben: In schweren Fällen bekommen die Patienten über die Vene Antikörper. Diese Medikamente kosten je nach Präparat über 1000 Euro – pro Infusion. Die Krankenkasse zahlt die Behandlung.
Quelle: Anika Schulz

Das klingt nach viel Belastung und danach, dass es bisher kein Patentrezept gegen eine CED gibt. Richtig?
Das Komplizierte ist, dass jeder Patient oder Patientin individuell eingestellt werden muss. Wann die medikamentöse Therapie anschlägt, ist unterschiedlich: selten schon nach wenigen Tagen, oft erst nach Wochen. Einige Patienten haben auch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Gelenkschmerzen oder allergische Reaktionen. Auch darauf muss ich reagieren. Gleichzeitig muss ich als Arzt alle paar Wochen die Entzündungswerte im Blut und im Stuhl kontrollieren und entscheiden, inwiefern die aktuelle Therapie sinnvoll ist oder ob ich beispielsweise die Dosierung oder gar das Präparat wechseln muss. Vieles weiß ich aus meiner Erfahrung, aber manchmal hilft nur Ausprobieren. Damit ist die Behandlung aber noch nicht beendet.

Nein?
Gleichzeitig müssen sich Patienten um ihre Ernährung kümmern. Bei einer Zwillingsstudie habe ich herausgefunden, dass trotz gleicher Gene bei 50 Prozent aller Fälle nur ein Zwilling erkrankt. Der Unterschied liegt in der Biografie: Wie hat sich die Person ernährt? Hatte sie viel Stress? Hat sie in der Vergangenheit viele Antibiotika oder bestimmte Schmerzmittel eingenommen? Außerdem ist für den Ausbruch einer CED auch immer ein Ungleichgewicht der bakteriellen Flora im Darm mitverantwortlich. Deswegen gilt die Regel: wenig Kohlenhydrate, wenig Zucker. Und auf den eigenen Darm hören. Wenn dir etwas nicht bekommt, dann iss es nicht mehr. Darüber hinaus ist ein gutes Stressmanagement wichtig.

Gibt es ein spezielles Stressmanagement für diese Erkrankungen?
Alles, was unser Bauchhirn beruhigt und den Parasympathikus, unseren Ruhenerv, aktiviert, hilft – wie beispielsweise Yoga oder Meditieren. Anspannung, Ängste oder Stress bringen unser Bauchhirn, das das autonome Nervensystem darstellt, in Aufruhr. Das wiederum kann für Schmerzen und Durchfall sorgen. Manchmal hilft auch eine Psychotherapie, die Patienten im Alltag begleitet und sie unterstützt, ungesunde Lebenseinstellungen zu ändern. Ganz neu ist das sogenannte Heart Math. Das ist eine Methode, bei der angeschaut wird, in welchem Rhythmus das Herz schlägt. Bei Stress tickt es eher unregelmäßig, bei Entspannung im Gleichklang. Mithilfe eines kleinen Messgeräts können Patienten ihr Herz tracken und bekommen ein besseres Gefühl dafür, was sie stresst und was nicht.

Wie viele Patientinnen und Patienten betreuen Sie eigentlich in Ihrer Hamburger Praxis?
Das weiß ich gar nicht auswendig. Ich betreibe ja nebenbei noch ehrenamtlich ein Online-Forum. Auf ced-hospital.de sind etwa 5.000 CED-Betroffene registriert und können Fragen bezüglich ihrer Diagnose oder Behandlung an mich stellen. Täglich beantworte ich bis zu 40 Nachrichten, bin manchmal vier Stunden online. Von den Krankenkassen bekomme ich dafür keinen Cent. Mir geht es darum, die Betreuung für Erkrankte zu verbessern. Wer mir schreibt, bekommt in der Regel innerhalb von 24 Stunden eine Antwort. Ich habe sogar eine Patientin aus New York City, die ich berate.

Wenn Sie so viel als Arzt erreicht haben, warum ist Ihnen Lob dann unangenehm?
Das widerspricht einfach meiner Natur.

Prof. Raedler in seinem Sprechzimmer. Für Dekoration hat der Gastroenterologie nicht viel übrig.
Prof. Raedler in seinem Sprechzimmer. Für Dekoration hat der Gastroenterologie nicht viel übrig.
Quelle: Anika Schulz

Da ist sie also wieder: seine Bescheidenheit. Auch Prof. Raedlers Schreibtisch wirkt clean. Der einzige persönliche Gegenstand: sein iPhone. Auf der Hülle ist ein Foto von seiner Tochter gedruckt. «Mein ganzer Stolz, 14 Monate alt.» Raedler muss jenseits der 70 Jahre sein, wenn ich seinen Lebenslauf richtig interpretiere. Er hat von 1968 bis 1975 Medizin in Hamburg studiert. Noch im selben Jahr hat er promoviert, Abschluss «summa cum laude».

Denken Sie eigentlich mal ans Aufhören? Sie könnten doch längst in Rente sein.
Klar, irgendwann muss ich aufhören. Aber bis dahin habe ich noch einiges vor. Bald will ich mit meiner Praxis umziehen und mich einem Ärztezentrum anschließen. Dann kann ich auch endlich wieder selbst Darmspiegelungen durchführen. Das geht hier aufgrund der Räume nämlich nicht und ich muss meine Patienten immer zu Kollegen und Kolleginnen schicken.

Bei einer CED ist bis heute unklar, wie sie geheilt werden kann. Auch Impfungen gibt es nicht. Selbst in beschwerdefreien Phasen, in Remission, bleibt bei einmal Erkrankten die Veranlagung für einen neuen Schub bestehen. Prof. Dr. Andreas Raedler scheint mir genauso ein Phänomen zu sein wie die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Woher dieser Mann seine Energie nimmt, weiß ich nicht. Ich ahne nur: Prof. Raedler und CED – da haben sich die richtigen Gegenspieler gefunden.

Titelfoto: Anika Schulz

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Als Kind wurde ich mit Mario Kart auf dem SNES sozialisiert, bevor es mich nach dem Abitur in den Journalismus verschlug. Als Teamleiterin bei Galaxus bin ich für News verantwortlich. Trekkie und Ingenieurin.


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