«Napoleon»: ein enttäuschendes Epos
Wenn einer der besten Schauspieler unserer Zeit den vielleicht grössten Feldherren unserer Zeit spielt, kann nur grosses Kino rauskommen. Vor allem, wenn der Regisseur Ridley Scott heisst. Aber: An genau diesen Erwartungen scheitert «Napoleon».
Eines vorweg: In diesem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Zweifellos wird «Napoleon» die Meinungen spalten. Er spaltet ja schon die meine, als ob zwei Herzen in mir pochen würden. Denn Scotts opulente Handschrift bei Historienfilmen ist handwerklich noch immer über alle Zweifel erhaben. Das ist keine Überraschung. Auf seine Kappe gehen schliesslich Kunstwerke von Filmen wie «Gladiator», «Kingdom of Heaven» oder «The Last Duel» – eines seiner meistunterschätzten Werke.
Aber ausserhalb seiner vielen Schlachtengemälde hat «Napoleon» kaum Qualitäten. Das wiederum ist eine Überraschung. Vor allem bei dieser Besetzung, in welcher der Oscar-gekrönte Joaquin Phoenix den Napoleon Bonaparte gibt, Kaiser, Rebell, Tyrann und Eroberer. Ein Garant. Und trotzdem eine Fehlbesetzung.
Aber das ist nicht das einzige Problem.
Darum geht’s in «Napoleon»
Wir schreiben das Jahr 1789, das Volk Frankreichs revoltiert. Denn während die Monarchie im Überfluss lebt, leidet die Bevölkerung unter Hunger und Armut. Schliesslich kommt es zur Enthauptung der letzten Königin Frankreichs, Marie-Antoinette, und damit zum endgültigen Fall der französischen Monarchie. Mittendrin: Ein junger und ehrgeiziger Artillerie-Kommandant – Napoleon Bonaparte.
Napoleon zeigt der nachfolgenden Republik Frankreichs rasch seine überragenden strategischen und taktischen Fähigkeiten. Etwa 1793, bei der Befreiung der Küstenstadt Toulon. So steigt Napoleon zum General auf – und landet direkt in den Armen der Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby), eine etablierte Persönlichkeit mit Verbindungen zu einflussreichen Kreisen in der Pariser Gesellschaft.
Was dann folgt, ist Geschichte.
Ein Film, der nach der grossen Leinwand verlangt
Ich will ehrlich sein: Diese Filmkritik könnte schon bald veraltet sein. Schuld daran bin nicht ich. Sondern wohl Filmverleiher Sony. Sony bringt den Film nämlich «nur» in verkürzter, zweieinhalbstündiger Form ins Kino, damit er überhaupt für den Oscar nominiert werden darf. Anschliessend wird «Napoleon» auf Apple TV+ laufen – in seiner originalen, vierstündigen Fassung, wie Regisseur Ridley Scott anfang Oktober bestätigte.
Das bringt mich in die Bredouille. Ist der Film gut? In seiner aktuellen Fassung sicher nicht. Wie einst schon bei «Kingdom of Heaven» wirkt die Kinoversion – nicht der Director’s Cut, der erst Monate nach dem Kinorelease in einer teuren DVD-Box veröffentlicht wurde – unausgegoren und voller Lücken. Als ob da einmal viel mehr Fleisch am Knochen gewesen wäre, das (ab-)geschnitten wurde.
Napoleons militärisches Genie zum Beispiel. Er selbst guckt bei Schlachten die meiste Zeit nur unbeeindruckt drein, mit seltsam gläsernen Blick und ohne wirklich Einfluss zu nehmen – ausser, wenn er mit der ausgestreckten Hand zuerst ein Zeichen gibt, mit dem Kanonen-Bombardement zu beginnen, um sich dann nur noch die Ohren zuzuhalten. C’est ça. Gab das Drehbuch wirklich nicht mehr her? Oder fehlt da einfach was, das der vierstündige Cut des Films später hinzufügen wird?
Keine Ahnung. So hören wir im Film nur von seinem taktischen Geschick, wenn andere über ihn reden. Ich hätte lieber mehr davon gesehen. In Szenen zum Beispiel, in denen er in seinem Kommandozelt mit seinen Generälen über eine Karte gebeugt Taktiken ausbrütet, die der «junge Bursche», wie Napoleon den russischen Zaren später schimpft, «bloss kopiert, aber nicht versteht». Welche Taktiken, bitte? Was macht der Zar gerade falsch? Wie macht sich der französische Feldherr die Fehler anderer zunutze? Lücken über Lücken. Und kaum Struktur in den Schlachten. Stattdessen herrscht nur Chaos. Das ist per se ja nicht schlecht. Glaubwürdig sogar, weil ungeschönt. Mir fehlt einfach noch der überlegte Part, der im Kontrast zu Tod und Wahnsinn stehen könnte. Der würde nämlich Napoleons intellektuelle Überlegenheit unterstreichen.
Versteh mich nicht falsch: Trotz allem schreit Scotts Inszenierung geradezu nach der grossen Leinwand. Gerade wegen des raren Einsatzes von Computereffekten. Scott malt lieber mit hunderten von Komparsen und handgemachter Action atemberaubende Bilder, die’s so nur noch selten zu sehen gibt. Vor allem während Napoleons zwei ikonischsten Schlachten – jenen im eisigen Austerlitz und im verregneten Waterloo. Sie gehören zum visuell schönsten und grausamsten, was das Kino seit Steven Spielbergs Landung an der Normandie in «Saving Private Ryan» zu bieten hatte. Oder Maximus’ Schlacht gegen die Barbarenstämme in «Gladiator», um bei Scott zu bleiben.
Joaquin Phoenix – Eine schlechte Casting-Entscheidung?
Aber eben, ausserhalb der grossartigen Schlachtengemälde hat «Napoleon» wenig zu bieten. Auch wenn da noch – wie schon bei «Kingdom of Heaven» – ein Director’s Cut kommen wird, der diese Lücken wohl füllt. Das nervt. Bis es soweit ist, bleibt mir nämlich nichts anderes, als zu analysieren, was Apple – oder Sony – fürs Kino freigibt. Und das ist ein Joaquin Phoenix, der unter der Regie von Ridley Scott nicht so richtig warm werden will. Ich halte ihn sogar für eine Fehlbesetzung. Nicht, weil ich Phoenix für keinen guten Schauspieler halte. Im Gegenteil. Er ist einer der besten unserer Zeit.
Aber ein anderes grosses Problem des Films ist die kaum vorhandene Chemie zwischen Joaquin Phoenix’ Napoleon und Vanessa Kirbys späterer Kaiserin Joséphine. Damit steht und fällt der ganze Film – nun, in diesem Fall fällt er wohl. Scott strukturiert «Napoleon» nämlich als Wechselspiel zwischen Napoleons Schlachten und seiner Ehe mit Joséphine. Eine Ehe, die zwar destruktiv und toxisch ist, in der aber beide in emotionaler Abhängigkeit zueinander leben.
Wieso, wird nie gezeigt. Denn schöne, wenn auch rare Momente, in denen wir sehen, wieso die beiden partout nicht ohne einander können, gibt’s nie. Einmal fragt ein Dienstmädchen Joséphine sogar, ob sie Napoleon überhaupt attraktiv finde. Genau dasselbe fragte ich mich auch. Aber sie lieben sich wohl trotzdem. Heiss und innig, sagen sie sich in Briefen, auch wenn sie sich ausserhalb dieser Briefe nur beschimpfen, beleidigen und bekämpfen. Ausser, sie haben gerade unheimlich fremdschämigen Sex, bei dem Joséphine keine Miene verzieht und Napoleon sie ohne jeglichen Funken Erotik, aber energisch wie ein Kaninchen, von hinten rammelt.
Wie ich da dem Film abnehmen soll, dass sie füreinander so wichtig sind wie die Luft zum Atmen, will mir nicht in den Kopf. Wenn zwischen den beiden Schauspielenden wenigstens eine Chemie herrschte, die mir das Gegenteil verkaufte, könnte ich noch beide Augen zudrücken. Aber Phoenix und Kirby wirken in keiner Szene, als ob sie im realen Leben mehr als «Hallo» und «Tschüss» zueinander sagten. Das färbt auf ihre Performance ab. Besonders, als Napoleon einmal unter den reich gedeckten Tisch kriecht, um sich wie ein Schwein grunzend an Joséphines Rock ranzumachen. Ein Ferkel, dieser Napoleon. Joséphine grinst und lässt’s geschehen. Das soll wohl süss und doch verrucht sein. Fünf Sekunden zuvor warf der Eroberer seiner Kaiserin noch vor, ihm keinen Erben zu gebären. Ich kann nur den Kopf schütteln.
Solche Fauxpas in Sachen Tonalität leistet sich das Drehbuch immer wieder. Oder Phoenix. Keine Ahnung, auf wessen Mist das gewachsen ist. In manchen Szenen spielt Phoenix wie ein Oscar-Anwärter der Marke «Joker». In anderen wiederum wirkt sein Napoleon wie eine Karikatur aus Saturday Night Live. So genial Phoenix im Trailer oben wirkt: Im Film halte ich ihn für keine gelungene Besetzung.
Fazit: Ungenügend – vorerst
«Napoleon» ist nicht der nächste, grosse Historienfilm des nunmehr 85-jährigen Ridley Scott. Womöglich ist das der gestutzten Kinoversion geschuldet. Ziemlich sicher sogar, wenn ich «Kingdom of Heaven» als Massstab nehme. Der Film über die Kreuzzüge um den ewig währenden Konfliktherd Jerusalem ist nämlich eines der grössten Meisterwerke, die die grosse Leinwand nie gesehen hat – und wieder aktueller denn je ist. «Napoleon» könnte ein ähnliches Schicksal ereilen.
Hoffentlich.
Denn die Kinoversion, so brutal es klingt, ist für mich die grosse Kino-Enttäuschung des Jahres. Zu gut die historische Vorlage, die Besetzung und der Regisseur, um keine hohen Erwartungen zu schüren – Erwartungen, an denen der Film letztlich scheitert.
Schön anzuschauen ist er ja. Kein Zweifel. Aber ausserhalb der grandios inszenierten Schlachten ist «Napoleon» bloss ein Film, der uns zwar sagt, dass der französische Feldherr ein Mann mit einem unbändigen Wahn war, sein Land zum Erfolg zu führen. Er sagt uns aber nie, wieso. Stattdessen setzt er seinen emotionalen Kern auf eine lächerlich unglaubwürdig inszenierte Ehe und kann sich oftmals nicht entscheiden, ob er eine Biografie oder Karikatur Napoleons sein will.
Wenn der Schlamassel noch irgendwie gerettet werden kann, dann von einem Ridley Scott’schen Director’s Cut.
«Napoleon» läuft ab dem 23. November 2023 im Kino. Laufzeit: 158 Minuten. Freigegeben ab 12 Jahren.
Titelfoto: Apple / Sony PicturesAbenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»