Nura Nuraphone
ANC
Heute im Test: Ein Kopfhörer, der in gleich zweifacher Hinsicht aus dem Rahmen fällt. Innovativ ist er auf jeden Fall. Aber ist er auch praxistauglich?
Das Nuraphon, eine Erfindung von Leberecht von Nurensdorff (1814–1899), gilt als Vorläufer des Grammophons. Seine Innovation erlaubte es erstmals, die Trommeln von Musikdosen in eine flache Scheibenform zu pressen.
Okay, Scherz beiseite. Hier geht es um Kopfhörer namens Nuraphone und damit um etwas, was im Jahr 2018 als fortschrittlich gelten darf.
Nuraphone ist ein Kopfhörer, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Es ist eine Kombination aus In-Ear- und Over-Ear-Kopfhörer. Er umschliesst einerseits das Ohr, andererseits stöpselt er sich auch direkt in den Gehörgang ein. Was das bringt? Ich vermute, eine sehr effektive Dämpfung des Umgebungslärms. Aber das werden wir gleich sehen.
Aussergewöhnlich an diesem Kopfhörer ist aber auch, dass er ein individuelles Profil deiner Ohren erstellt und den Sound darauf abstimmt. Dazu braucht es eine App.
Ich setze mir den Kopfhörer probeweise auf. Sogleich meldet sich eine weibliche Computerstimme und sagt mir auf Englisch, ich solle den Kopfhörer per Bluetooth mit meinem Android- oder iOS-Gerät verbinden. Das tue ich dann auch. Die Stimme im Kopf klingt wie der HintTron3000™ aus dem Retro-Adventure-Game Thimbleweed Park. Sie sagt mir nun, ich solle die Nura-App herunterladen und installieren. Das tue ich dann auch. Weil das einige Zeit dauert, sagt mir die Nura-App das immer wieder.
Die App ist nun installiert und ich muss meine E-Mail angeben. Die wird benützt, um mir einen Sicherheitscode zu schicken, den ich in die App eintippen soll. Weil die Mails erst mit Verspätung und im Fünfminuten-Abstand kommen, ist mein Postfach zuerst leer und dann voll mit nicht mehr gültigen Sicherheitscodes. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich registriert bin.
Jetzt gehts endlich ans Einrichten. Das Profil meines Gehörs wird vollautomatisch erstellt und das geht ziemlich fix. Dabei spielt die App geheimnisvolle Sounds ab, die mich an Computerspiele der 80er-Jahre erinnern.
Was wird hier überhaupt gemessen? Nuraphone erklärt auf der eigenen Homepage, wie es funktioniert. So wie ich das verstehe, wird anhand von Schallreflexionen das Innenohr und das Trommelfell ausgemessen und daraus berechnet, welche Frequenzen ich besonders gut höre und welche weniger. Daraus wird dann ein Profil erstellt, das dies ausgleicht.
Nun kann ich zwischen meinem persönlichen Profil und dem Standard-Sound hin und her schalten sowie den sogenannten Immersions-Level wählen. Dieses Feature soll beim Musikhören den Eindruck erwecken, man befinde sich an einem Live-Konzert. Vermutlich ist es aber nur ein modischeres Wort für Bass Boost. Ausserdem kann ich die Funktion der Touch-Buttons links und rechts am Kopfhörer wählen, zum Beispiel Pause, nächstes Stück oder Anruf entgegennehmen. Ich kann sie auch abschalten, um versehentliche Eingaben zu verhindern.
Das Standardprofil («Generic» genannt) klingt völlig anders als mein persönliches Profil. Generic liefert vor allem Mitten, wenig Bässe und Höhen, und klingt etwas hohl. Personalised ist genau das Gegenteil: extrem viel Bass und Höhen, praktisch keine Mitten. Mit dem Immersion-Regler kann ich den Bass noch weiter aufdrehen. So extrem, bis mir wortwörtlich die Ohren wackeln.
Ich kann aber nicht sagen, dass mir das persönliche Profil immer lieber wäre. Bei Stücken, die sowieso schon auf Bass und Höhen getrimmt sind, wird es zu extrem, das Standardprofil klingt dann angenehmer. Im allgemeinen bevorzuge ich aber schon das persönliche Profil. Allerdings mit sehr wenig Immersion, ich bin kein Fan von Bass-Doping.
Bis zu drei Personen können ihre Profile für den gleichen Kopfhörer anlegen. Vor mir haben schon zwei andere Mitarbeiter ihre Profile erstellt. Diese kann ich ebenfalls ausprobieren. Mein eigenes Profil klingt für mich besser. Das ist ein Indiz dafür, dass die Messmethode tatsächlich funktioniert und nicht reiner Hokuspokus ist.
Da mein Smartphone kein AptX kann, ist der Sound via Bluetooth nicht gerade hochklassig. Indem ich das mitgelieferte USB-Kabel mit dem PC verbinde, gelingt eine hochwertige Soundübertragung ohne weiteren Aufwand. Das klingt deutlich besser – mit beiden Profilen. Allerdings ist am PC die Bedienung alles andere als optimal. Denn sobald ich das Kabel anschliesse, kappt der Kopfhörer die Verbindung mit dem Smartphone. Dadurch kann ich während des Musikhörens am PC nicht mehr die Profile und sonstige Optionen wählen. Natürlich wird so auch gleich der Akku des Kopfhörers geladen. Der Kopfhörer schaltet sich übrigens automatisch ein, wenn du ihn anziehst und aus, wenn du ihn abnimmst.
Die Schalldämpfung ist tatsächlich sehr gut. Auf unserer Redaktion ist es gerade mal wieder sehr laut, aber ich registriere das nur am Rande und habe keine Probleme, mich auf das Schreiben zu konzentrieren. Meine Vermutung hat sich bestätigt.
Es gibt allerdings etwas, was massiv stört. Nach kurzer Zeit, spätestens nach einer Viertelstunde, fängt mich der Kopfhörer an, im rechten Ohr zu schmerzen. Es gibt nur eine Grösse von Silikonaufsätzen. Entweder die passen dir, oder halt nicht.
Im Standby hält der Akku problemlos wochenlang durch. Aber wie sieht es im Dauerbetrieb aus? Dies zu testen war für mich nicht so einfach: Mich schmerzen die Ohrstöpsel wie gesagt schon nach wenigen Minuten, und ich kann das Gerät nicht laufen lassen, ohne dass mein Ohr dran ist, weil es sich dann automatisch ausschaltet. Aber da muss ich durch. Ich setze mich also hin, wild entschlossen, Musik zu hören, bis mir die Ohren bluten.
Nach einer halben Stunde Weather Report Live steht der Sauhund von Akku immer noch bei 100 Prozent. Nuraphone gibt als Akkulaufzeit 15-20 Stunden an. Und jetzt, nach fast einer Stunde, geht die Anzeige auf 90 Prozent runter. Sie gibt also nur Zehnprozent-Schritte an. Nach zwei Stunden: immer noch 90 Prozent. Das reicht mir, um zu wissen, dass die Herstellerangabe ungefähr stimmt – oder zumindest nicht völlig übertrieben ist.
Der Kopfhörer klingt sehr gut. Das darf man aber auch erwarten bei dem Preis. Weitere Pluspunkte: Die Kombination aus Over-Ear und In-Ear ist zu extrem krassen Bässen und sehr guter Dämpfung des Umgebungslärms fähig.
Trotzdem kann ich keine Kaufempfehlung aussprechen. Denn wenn sich herausstellt, dass dich die Kopfhörer so schmerzen wie mich, hast du über 400 Franken zum Fenster hinausgeworfen. Ausserdem kann ich auch nicht abschätzen, ob das individuelle Profil, das Nuraphone erstellt, für deinen Geschmack wirklich passt.
Ich habe, nachdem der Test schon fertig geschrieben war, mein Hörprofil nochmals erstellt. Das Ergebnis sah rein grafisch komplett anders aus als beim ersten Mal. Weil es beim zweiten Mal nicht gerade leise rund um mich herum war, habe ich es noch ein drittes Mal gemacht. Das Ergebnis verwirrt mich.
Ich hatte in Erinnerung, dass mein erstes Profil recht ähnlich aussieht wie das von Claudio und Fabio, der beiden anderen Digitec-Mitarbeiter. Aber was ich jetzt sehe, verwirrt mich noch mehr.
Hier ist schlicht die Anzeige fehlerhaft, denn die Profile klingen sehr verschieden. Was mir aber mehr zu denken gibt: dass die gleiche Person so unterschiedliche Profile erzeugen kann. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass die Kopfhörer nicht immer genau gleich im Ohr sitzen. Ich mache noch einmal zwei Versuche. Nun habe ich drei Profile von mir, zwischen denen ich hin- und her switchen kann. Sie sehen nicht gleich, aber ähnlich aus, und klingen auch ähnlich. Die Methode funktioniert also so einigermassen, die kleinen Abweichungen lassen sich durch unterschiedliche Tragpositionen erklären. Und das erste, komplett andere Profil hat wahrscheilnich mit dem Bug in der grafischen Anzeige zu tun.
Falls jemand Erfahrung mit Nuraphone-Profilen hat: Sachdienliche Hinweise bitte in die Kommentarspalte. Danke!
Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.