Hintergrund

Okklusionstraining: Das Workout aus der Hölle

Okklusion? Klingt gut. Hat was von Occasion, passt zu mir. Das probiere ich aus. Es wird das Workout aus der Hölle.

Das wollte ich schon lange mal schreiben. Nun ist es soweit. Liebe Kinder: Macht den folgenden Selbstversuch bitte nicht zu Hause nach, denn das kann gefährlich werden.

«Hättest du Lust, einmal ein Okklusionstraining auszuprobieren?» Claudio Viecelli, Molekular- und Muskelbiologe an der ETH Zürich, hat mich das kürzlich beiläufig gefragt. Okklusion? Klingt gut, bin dabei. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss: Es wird das Workout aus der Hölle. Aber dazu später mehr.

Training an der physiologischen Leistungsgrenze

Freitagmorgen. Ich bin mit Claudio und Dr. Fabian Schaller, medizinischer Leiter des Medbase WIN4, in Winterthur verabredet. In der Zwischenzeit habe ich ein bisschen nach Okklusion und Blood Flow Restriction gegoogelt. Ja, zuerst naiv bei irgendwas zusagen und dann googeln. Genau mein Ding. Ich will es dann aber doch noch genauer wissen und frage beim Doc nach.

Was ist Okklusionstraining und wie funktioniert es?
** Dr. Fabian Schaller, medizinischer Leiter Medbase WIN4:** Während eines korrekt durchgeführten Okklusionstrainings gelangt das Blut über den arteriellen Blutfluss zum Muskel. Da die Venen jedoch durch die Bandage verengt sind, wird das Blut teilweise daran gehindert, den Muskel wieder zu verlassen. Dies erlaubt ein Anschwellen der Muskulatur. Eine Restriktion des Blutflusses akkumuliert ausserdem eine Reihe von Stoffwechselprodukten wie Milchsäure. Diese regen das Muskelwachstum an. Und die direkte Erschöpfung, die den Muskeln zugefügt wird, zwingt das Nervensystem dazu, die grössten, schnell kontrahierenden Muskelfasern zu rekrutieren. Diese weisen die grösste Kapazität für ein Wachstum auf.

Schliesslich geht es darum, der Muskulatur den Sauerstoff zu entziehen. Dadurch können wir die Muskeln mit weniger Gewicht schneller ermüden. Das ist für mich als Sportmediziner sehr interessant. So werden die Gelenke weniger belastet und trotzdem führt dies zur Hyperthropie also zum Muskelwachstum. Dazu wird jeweils der obere Bereich einer Muskelgruppe, wie der Quadrizeps, mit einer Manschette abgebunden, um den Blutfluss aus dem trainierten Muskel heraus zu beschränken. Wir sprechen hier von Training an der physiologischen Leistungsgrenze.

Dr. Fabian Schaller vom Medbase WIN4 im Gespräch.
Dr. Fabian Schaller vom Medbase WIN4 im Gespräch.

Gibt es Sportarten, die sich speziell für ein Okklusionstraining eignen?
Grundsätzlich alle Sportarten, bei denen der Aspekt Kraft im Vordergrund steht, wie zum Beispiel Eishockey oder Skifahren. Für Langstreckenläufer ist dieses Training sicherlich nicht attraktiv. Ausser vielleicht in der Rehabilitation nach einer Verletzung, wenn es darum geht, die Muskulatur zu erhalten und dabei die Gelenke zu schonen. Prinzipiell kann aber jeder Mensch mit dieser Methode trainieren, nachdem gewisse Risikofaktoren ausgeschlossen wurden.

Welche sind das?
Alle kardiovaskulären Erkrankungen, erhöhte Thrombosegefahr oder eine aktive Krebserkrankung.

Wie gefährlich ist dieses Krafttraining bei eingeschränktem Blutfluss? Im Internet finden sich unzählige Videos, in denen muskelbepackte Jungs ihre mit Therabändchen abgebundenen Arme und Beine trainieren.
Vor dem ersten Okklusionstraining sollte man einen Gesundheitscheck beim Arzt machen. Dann ist es wichtig, beim ersten Training professionellen Support zu haben, zum Beispiel von einem Bewegungs- oder Sportwissenschaftler. Dieser weiss, wie hoch der Verschlussdruck sein darf und wie lange die Blutsperre bestehen soll. Ausserdem sollte nur mit medizinischen Manschetten trainiert werden, da sonst die Verletzungsgefahr sehr hoch ist. Bei falscher Anwendung besteht zum Beispiel die Möglichkeit, die Nervenenden zu verletzen.

Dann lass ich mich mal durchchecken.
Dann lass ich mich mal durchchecken.

Und was kann bei falscher Anwendung dieser Blutsperre sonst noch alles schief gehen?
Eine häufige Komplikation bei falscher Anwendung ist die Ohnmacht. Der Athlet verliert das Bewusstsein, wenn die Blutsperre nach dem Workout zu schnell gelöst wird. Das ist jedoch nichts dramatisches. Es empfiehlt sich aber natürlich, nicht alleine zu trainieren. Das Worst-Case-Szenario ist der Herzstillstand. Eine sehr seltene aber schwerwiegende Komplikation.

Paralleles Kraft- und Ausdauertraining

Ein weiterer Vorteil des Okklusionstrainings ist die Tatsache, dass auf diese Weise gleichzeitig Kraft- und Ausdaueradaptionen hervorgerufen werden. Der durch die Okklusion verursachte Sauerstoffmangel sorgt dafür, dass gewisse Proteine stabilisiert werden, die die Kapillarisierung der Muskulatur erhöhen. Somit trainierst du parallel aerob und anaerob, was sonst physiologisch nicht möglich ist.

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Vom aeroben Energiestoffwechsel sprechen wir, wenn der Körper beim Verbrennen von Kohlenhydraten und Fetten Sauerstoff verbraucht. Auf diese Weise gewinnt er Energie für die Muskelarbeit. Dies funktioniert bei niedriger Trainingsbelastung wie langsamem Dauerlauf, langsames Schwimmen etc. Der Körper nimmt hierbei die roten Muskelfasern zu Hilfe, denn diese nehmen Sauerstoff auf.

Bei schnellen, intensiven Trainings mit hoher Belastungsintensität benötigt der Körper in kürzester Zeit mehr Energie. Die aerobe Energiegewinnung reicht dafür nicht mehr aus. Deshalb wandelt der Körper die Kohlenhydrate nun ohne Sauerstoff durch Milchsäuregärung in Energie um. Dabei fällt Laktat an. Dies ist der anaerobe Energiestoffwechsel. Fette werden in diesem Bereich nicht verbrannt, denn dafür benötigt der Körper zwingend Sauerstoff. Die anaerobe Energieausbeute ist weitaus geringer und kann nicht so lange aufrechterhalten werden wie die aerobe. Bei länger andauernder Belastung übersäuern die Muskeln wegen des anfallenden Laktats und die Leistung nimmt ab. Typische Sportarten mit anaerobem Energiestoffwechsel sind Sprints oder Tempodauerlauf, Gewichtheben aber auch Yoga und jede Form von Leistungssport, wenn der Körper für kurze intensive Phasen über seine Belastungsgrenze kommt. Anaerobes Training nutzt die weissen Muskelfasern, die wie die roten ihr Volumen erhöhen können.

Gleichzeitiges Kraft- und Ausdauertraining klingt zwar verlockend. Trotzdem: Von Ohnmacht bis Herzstillstand – ich bin mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich ausprobieren will. Jänu, wer A sagt ... Zuerst geht's für zehn Minuten aufs Laufband zum Aufwärmen, dann lass ich mir meine Oberschenkel zuschnüren. Der Sauerstoffhahn wird zugedreht.

Claudio Viecelli beim Anbringen der medizinischen Blutsperrmanschette.
Claudio Viecelli beim Anbringen der medizinischen Blutsperrmanschette.
Das Manometer zeigt 200 Millimeter Quecksilbersäule. Die Blutzufuhr ist gestoppt.
Das Manometer zeigt 200 Millimeter Quecksilbersäule. Die Blutzufuhr ist gestoppt.

Okklusion gleich Aua

Squats, sprich Kniebeugen, mit der Langhantel sind angesagt. Der Load beträgt 35 Kilo. Das entspricht rund 30 Prozent meines One-Reptition-Maximus. Wie viele Sets à wie viele Wiederholungen, will ich von Claudio wissen. Der verdreht ob meiner Frage die Augen und sagt: «Vergiss das mit den Sets und den Wiederholungen. Du trainierst immer bis zur kompletten Erschöpfung der Muskulatur. Wenn du Sternlein siehst oder nur noch dumpf hörst, gib uns ein Zeichen, dann brechen wir ab. Sonst klappst du zusammen. Dein Safeword ist 'Galaxus'. Alles klar?» Ja, alles klar. Kann losgehen.

No pain, no gain. Oder so.
No pain, no gain. Oder so.
Claudio und der Doktor haben es lustig. Ich nicht.
Claudio und der Doktor haben es lustig. Ich nicht.

Nach zwölf Wiederholungen ist Schluss. Gar nicht so schlimm, denke ich noch. Was dann kommt tut weh. Während drei Minuten stehen. Dann für eine Minute die Blutsperre von 200 auf 100 Millimeter Quecksilbersäule lockern. Anschliessend wieder auf 200 mmHg erhöhen. So sammeln sich weitere Stoffwechselprodukte in der Muskulatur, die das Wachstum beschleunigen. Dann der nächste Satz. Diesmal ohne Gewichte, nur noch mit der Stange, die gerade mal fünf Kilo wiegt. Jetzt schaffe ich noch acht Wiederholungen. Und dann wird's richtig schlimm. Wieder drei Minuten stehen etc. und der nächste Satz. Ich schaffe noch vier Wiederholungen und der Ofen ist aus.

«Geht's?», fragt Claudio. Und: «Wir öffnen jetzt langsam die Blutsperrmanschetten. Wenn es dir schlecht wird, melde dich.» Und er sagt auch noch mehr. Aber das höre ich nicht. In meinem Schädel ist nur Schmerz. Ischämischer Schmerz genauer gesagt. Und der ist echt übel. Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Es ist, wie wenn dir jemand auf deinem Arm einschläft, du darfst dich aber nicht bewegen und musst es aushalten. Alles ist Schmerz. Sonst nichts. Ich will, dass es aufhört.

Dann fliesst das Blut wieder normal durch meine Oberschenkel und der Schmerz verschwindet so schnell wie er gekommen ist. Der Spuk hat rund 15 Minuten gedauert. Hocheffizientes Workout aus der Hölle. Wie hat der Doc anfangs gesagt? Training an der physiologischen Leistungsgrenze. Es war eine Grenzerfahrung, die ich nicht mehr machen möchte. Bis zum nächsten Mal. Danke Claudio!

Game over. Und danke für den Support.
Game over. Und danke für den Support.

Und danke auch dir liebe Leserin, lieber Leser. Danke für deine Treue. Wie? Du folgst mir noch nicht? Dann wird es aber höchste Zeit. Hier findest du auch im 2020 mein Autorenprofil.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.

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