Hintergrund

Welche Sportart zu dir passt: Ausdauer oder Kraft

Laufschuhe, Langhantel oder vielleicht beides? Soll ich meine Ausdauer trainieren oder mich auf Kraftsport konzentrieren? Fragen über Fragen. Hier gibt’s die Antworten.

Im letzten Beitrag habt ihr euch dafür entschieden, mehr über das Thema «Kraft oder Ausdauer» zu erfahren. Um ein Verständnis dafür zu entwickeln ist es wichtig, dass wir uns zuerst mit der Muskulatur und ihren Eigenschaften auseinandersetzen.

Die Skelettmuskulatur ist eines der wichtigsten Gewebe des menschlichen Körpers. Es macht durchschnittlich 40 Prozent unserer Körpermasse aus. Das faszinierende am Organ Muskel ist die hohe Plastizität. Damit ist die Anpassungsfähigkeit gemeint, welche bis ins hohe Alter (85+) vorhanden ist. Wie funktioniert das? Was ist die Grundlage dieser Anpassungsfähigkeit?

Auch Muskeln hassen Stress

Unsere Muskelzellen versuchen ein Abbild unserer Umwelt zu kreieren. Dies hat evolutionäre Hintergründe. Da wir auf muskuläre Aktivität angewiesen sind, müssen unsere Muskelzellen auf Veränderungen unserer Umwelt reagieren können, um unser Überleben zu gewährleisten. Dies tun sie auf eine faszinierende Art und Weise. Stress, welcher auf die Muskeln wirkt, wird zellintern verarbeitet. Aufgrund der Stresszusammensetzung wird eine spezifische, molekulare Antwort darauf erzeugt. Diese Anpassungsfähigkeit erlaubt es unseren Muskelzellen demselben Stress, sollte er in Zukunft wieder auftreten, auszuweichen.

Ein Beispiel: Wenn du neu mit Krafttraining beginnst, wirst du feststellen, dass du rasch stärker wirst, ohne an Muskelmasse zuzunehmen. Dies deshalb, weil dein Körper merkt, dass eine wiederkehrende externe Belastung auftritt und diese Kraft von ihm erfordert. Er beginnt nun mit der Feinjustierung von neuromuskulären Mechanismen. Dabei wird die Ansteuerung der Muskelfasern sowie die intermuskuläre Koordination verbessert. So steigert dein Körper die Kraft für die spezifische Übung. Nach einigen Wochen sind diese Mechanismen optimiert und eine weitere Kraftsteigerung geht mit einer Vergrösserung des Muskelvolumens einher. Für Kraftsportler die ersehnte Anpassung, für den Körper der Versuch der Stressvermeidung.

Stress ist nicht gleich Stress

Bewegen wir eine schwere Masse, zum Beispiel eine Hantel, werden über unsere Sehnen und Bänder Scher- und Zugkräfte auf unsere Muskelfasern ausgeübt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um einen mechanischen Stress auf unser Gewebe. Weiter braucht aber jede Kraftentwicklung Energie, welche die Zellen produzieren und bereitstellen müssen. Somit haben wir einen weiteren Stress, den wir als metabolischen Stress bezeichnen. Die Muskelzellen müssen nun diese beiden Stressoren integrieren und erzeugen aufgrund ihrer jeweiligen Intensität eine entsprechende Reaktion.

Die vom Körper erzeugte Antwort ist nun spezifisch abhängig vom auferlegten Stress. Es ist für die Muskulatur ein signifikanter Unterschied, ob die Energieproduktion optimiert werden soll, um eine hohe Leistung bei einem 5-Kilometer-Lauf erzeugen zu können. Oder die Kraft und Muskelmasse aufzubauen, um einem mechanischen Stress beim wiederholten Krafttraining auszuweichen. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass mechanischer oder metabolischer Stress nicht die einzigen Stressoren sind, die auf unsere Muskelzellen einwirken. Wir kennen weitere, wie etwa Hormone oder neuronale Aktivität. Aus Perspektive der Muskelzelle besteht ein Training aus der Mischung aller auf sie einwirkenden Stressoren. Unter anderem erklärt dies die enorme Komplexität, wenn wir versuchen, die spezifischen Anpassungen zu studieren.

Arnold Röthlin und Viktor Schwarzenegger

Da die Antwort auf die unterschiedlichen Stressoren sehr spezifisch ausfällt, können wir vom gesamten Kraft-Ausdauer-Kontinuum profitieren. Damit ist gemeint, dass es an uns liegt, wohin die muskuläre Reise gehen soll. Unsere Muskulatur passt sich exakt den auferlegten Stressoren an. Das erklärt, warum Schwarzenegger nie Marathon lief oder Röthlin kein Mr. Olympia wurde. Jedoch können wir quasi zwischen diesen Extremen wählen, welche Adaption wir muskulär hervorrufen möchten.

Ausdauersportler möchten eine möglichst hohe Leistung (in Watt [W], Leistung = Arbeit pro Zeit oder Kraft mal Geschwindigkeit) bei einem konstanten Stoffwechsel erbringen können. Limitierend ist hier hauptsächlich die Stoffwechselrate. Dabei handelt es sich um biochemische Reaktionen, welche Energie liefern. Unsere Mitochondrien (Kraftwerke der Zellen) produzieren sehr viel Energie, weshalb die Dichte an Mitochondrien bei Ausdauerathleten im Vergleich zu Kraftsportlern höher ist. Die Energieproduktion in Mitochondrien ist jedoch mit Sauerstoff verbunden. Daher ist es nicht erstaunlich, dass Ausdauerathleten mehr Blutkapillaren zum Sauerstofftransport in ihrer Arbeitsmuskulatur aufweisen. Damit mehr Blut transportiert werden kann, nimmt ebenfalls das Schlagvolumen des Herzens zu. Diese Adaptionen sind verantwortlich für die Erhöhung der Ausdauerkapazität. Es ist deshalb auch klar, dass eine geringe Muskelmasse am Körper energetisch einfacher zu unterhalten ist als eine hohe Muskelmasse. Abgesehen von allen anderen Faktoren ein Grund, weshalb Bodybuilder nie kompetitiv Marathon laufen werden.

Handkehrum passt sich die Muskulatur des Bodybuilders genau an den spezifischen mechanischen und metabolischen Stress an. Darum haben Kraftsportler durch natürliches Training eine höhere Muskelmasse und mehr Kraft im Vergleich zu Ausdauersportlern.

Kraft und Ausdauer oder der Interferenzeffekt

Wie erwähnt, werden externe Stressoren in der Zelle verarbeitet. Dies geschieht durch das Weiterleiten der Signale bis in den Zellkern, wo auf der DNA Gene abgelesen werden und schliesslich daraus Proteine entstehen. Je nachdem, welche Stressoren auf die Muskelzellen wirken, werden unterschiedliche Signalpfade aktiviert. Das führt dazu, dass unterschiedliche Gene abgelesen werden, welche andere Proteine erzeugen. Die zelluläre Signalweiterleitung ist komplex und bei weitem noch nicht vollständig erforscht. Wir wissen aber, dass es Signalwege gibt, welche miteinander interferieren, sprich sich gegenseitig hemmen. Dies ist zum Beispiel bei den hauptsächlichen Signalwegen für die Erhöhung der Muskelmasse oder der Optimierung der Energiebereitstellung der Fall. Daher der Name Interferenzeffekt.

Anthropologisch betrachtet macht es Sinn, bei hohem Energiestress, wie einem Kampf oder einer Flucht, in die Optimierung des Stoffwechsels zu investieren. Dies statt Energie aufzuwenden, um neue Muskelproteine herzustellen, welche zur Kraft- und Muskelmassensteigerung beitragen. Auf molekularer Ebene wurde das Thema in einer Vielzahl von Studien untersucht. Dabei wurde der Interferenzeffekt hauptsächlich bei jungen trainierten Männern beobachtet, was eine Generalisierbarkeit verunmöglicht. Solltest du dennoch Kraft- und Ausdauertrainings innerhalb desselben Tages ausführen wollen, lässt die derzeitige Studienlage folgende Empfehlungen zu:

Absolviere zu Beginn des Tages die hochintensiven Ausdauereinheiten und erhole dich mindestens drei Stunden vor einem allfälligen Krafttraining. Absolviere das anschliessende Krafttraining mit vollen Energiespeichern, da es sich gezeigt hat, dass Energiestress ebenfalls durch einen niedrigen Glykogenspeicher (in Zellen gespeicherte Kohlenhydrate) beim Krafttraining hervorgerufen werden kann. Solltest du Kraft- und Ausdauertrainings innerhalb einer Trainingseinheit absolvieren wollen, mach zuerst ein wenig intensives Ausdauertraining gefolgt vom Krafttraining. Dies führt insgesamt zu einem grösseren Stimulus für die Ausdaueradaption als das Ausdauertraining alleine und beeinträchtigt die Signalwege für die Kraftregulation nicht.

Die spezifischen körperlichen Anpassungen beider Sportarten im Vergleich

Wenn wir Ausdauer- und Kraftsportadaptionen gegenüberstellen, wie in folgender Tabelle, sehen wir die unterschiedlichen Anpassungen unseres Körpers. Dies ist keine abschliessende Liste und in diesem Forschungsgebiet gewinnt man laufend neue Erkenntnisse.

AusdauerKraft
Muskelzuwachs↑ ↑ ↑
Muskelkraft↔↓↑ ↑ ↑
Muskelfasergrösse↔↑↑ ↑ ↑
Neuronale Anpassungen↔↑↑ ↑ ↑
Mitochondriendichte↑ ↑ ↑↔↑
Laktattoleranz↑ ↑↔↑
Blutkapillarisierung↑ ↑ ↑
Ausdauerkapazität↑ ↑ ↑↔↑
Knochendichte↑ ↑↑ ↑
Körperfett↓↓
Muskelmasse↑ ↑
Ruhe Insulinspiegel
Insulinsensitivität↑ ↑↑ ↑
Ruhepuls↓↓
Herzschlagvolumen in Ruhe und maximal↑ ↑
Blutdruck↔↓
Kardiovaskuläres Risiko↓↓↓
Beitrag zu Funktionen des täglichen Lebens↔↑↑ ↑

↔ gleichbleibend
↑ zunehmend
↓ abnehmend

Was nun? Kraft oder Ausdauer

Lass uns einen Schritt zurück machen und die Perspektive wechseln. Durch die Fähigkeit des Körpers über die Muskeln Kraft zu entwickeln, können wir uns fortbewegen und mit unserer Umwelt interagieren. Dies erst ermöglicht Leben. Unsere Muskulatur wurde also entwickelt, um gebraucht zu werden.

Unsere moderne Lebensweise ist jedoch geprägt von Annehmlichkeiten, die uns immer träger haben werden lassen. Seien es die Autos, die uns zu den Supermärkten bringen, ohne dass wir selbst lange Strecken für das Sammeln oder Jagen unserer Nahrung zurücklegen müssen. Lifte nehmen uns das Treppensteigen ab und die Wärme für unsere Höhlen oder Wohnungen kommt von Heizungen. Zudem lässt der medizinische Fortschritt uns immer älter werden.

Generell sollten wir beginnen, unsere Muskulatur wieder vermehrt zu gebrauchen. Wie in der Tabelle ersichtlich, ist für unseren Körper sowohl Ausdauer- als auch Krafttraining reine Medizin. Daher befürworte ich eine holistische, beziehungsweise ganzheitliche Herangehensweise. In Anbetracht einer Altersvorsorge und einer möglichst langen Selbständigkeit, betrachte ich persönlich Krafttraining als geringfügig wichtiger, da es etwas mehr zu den Funktionen des täglichen Lebens beiträgt. Das Aufstehen von einem Stuhl oder der Toilette im hohen Alter ist stark abhängig vom Drehmoment, welches wir mit dem Oberschenkel erzeugen können. Starke Muskeln lassen längere Selbständigkeit im Alter zu.

Wie so vieles im Leben ist jedoch die Wahl des Sports eine Frage der Zielfunktion. Möchtest du dieses Jahr einen Marathon laufen, würde die Wahl auf hochintensive Intervalltrainings fallen. Möchtest du an Kraft- und Muskelmasse zulegen, wäre ein systematisches und progressives Krafttraining die richtige Empfehlung. Ebenfalls ist eine Kombination aus beiden Trainingsarten zu begrüssen. Aus wissenschaftlicher Sicht wissen wir, dass Muskelkontraktionen für den Körper sehr wichtig sind. So wie wir gelernt haben, dass tägliches Zähneputzen wichtig ist, sollten wir unseren Muskeln dieselbe Aufmerksamkeit schenken und diese mehrmals die Woche intensiv beanspruchen.

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Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.

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